Gastbeitrag
Auf die Zeitenwende in der Staatsschuldenpolitik kommt alles an

1. Der Zwang zur Wende in der Staatsschuldenpolitik darf nicht gemildert werden. In der Gründung der Europäischen Währungsunion war er für Europa von Vornherein angelegt, und die globale Finanzkrise hat die Aufgabe schließlich der ganzen Welt bewusst gemacht.  Von daher ist alles zu betrachten. Nicht nur das Griechenlandproblem und das, was sich rein äußerlich aus ihm entwickelt hat. Wir brauchen nicht in erster Linie neue Formen, Staatsschulden abzuwerfen, auch nicht unter dem Titel einer geordneten Staatsinsolvenz. Wir brauchen  keine neue Vision für die Europäische Union, wir haben eine. Wir brauchen die Unterwerfung aller unter die schon vorhandenen Zwänge, auf die Dauer ohne neue Staatsschulden auszukommen. Während fast alle erklären, darin einig zu sein, suchen doch die meisten nach Möglichkeiten, erst einmal Reste im Verschuldungspotential Europas und der Welt aufzuspüren und zu nutzen.

Cosi fan tutti

2. Die Sucht der Staaten, Geld auszugeben, das sie nicht haben und sich auch durch Steuererhöhungen nicht beschaffen können, hat sie schon immer  dazu gedrängt, Kredite aufzunehmen, die sie nach Möglichkeit niemals zurückzahlen wollen, zumindest real nicht. Die Formen des definitiven Nicht-Zurückzahlens sind immer wieder dieselben: die Überraschung der Gläubiger durch Inflation, die Überraschung der ausländischen Gläubiger durch Währungsabwertung und das Enteignen der Gläubiger durch das Abwerfen von Schuldenlast im Staatsbankrott. Das Übel an der Wurzel zu bekämpfen heißt diese drei Auswege nicht zuzulassen.

Gegenwärtig sind für die Mitglieder der Europäischen Währungsunion der erste und der zweite Ausweg keine akute Gefahr. Aber auch sie werden wieder eine Gefahr sein, wenn eine europäische Fiskalunion geschaffen wird und die Europäische Zentralbank unter dem Druck der vergemeinschafteten Verschuldungsinteressen zu einer willfährigen Zentralbank alter Art mutiert.

3. Gegenüber der oft hemmungslosen Neigung  des Staates zum Schuldenmachen ist die Neigung der Kapitalanleger, selbst hoch verschuldeten Staaten weitere Kredite zu gewähren, wenn nur der Zins stimmt, ein minores Problem. Trotzdem wird das populäre Drängen auf eine Beteiligung der Gläubiger an den Kosten der Sanierung eines überschuldeten Staates immer wieder in einer Weise begründet, als wenn an einem Staatsbankrott die Gläubiger in gleicher Weise schuld seien wie der Schuldner. Dass es schwarze Schafe unter den Gläubigern gibt, ermöglicht den Schuldnern  wirkungsvolle Ablenkungsmanöver. Trotzdem bleibt richtig: Das Sparen von Geld und das Herleihen desselben unter Unsicherheit sind schutzbedürftig, nicht strafbedürftig.

Die Bekehrung abzuwarten, braucht es gute Nerven

4. Die  Anzeichen für eine  Zeitenwende in der jahrzehntelang beinahe allseitig auf Exzess angelegten Staatsschuldenpolitik  in Europa sind durchaus vorhanden, wenngleich noch nicht zuverlässig. Eine solche Wende zu fördern, muss  strategisches Ziel der Bundesregierung sein und ist es erklärtermaßen auch. Auf alle Details ihrer Politik ist daher unter dem Blickwinkel dieses Ziels zu schauen. Die geforderte Wende wird nicht  erreicht durch Verträge oder Beschlüsse des Europäischen Rates oder neue institutionelle Regelungen. So wichtig diese sind, manifest wird die Wende allein in der offensichtlichen Unterwerfung der Staaten unter das, was die Finanzmärkte von jedem fordern, dessen Solvenz nicht in Frage stehen soll. Es geht um einen Prozess, der gar nicht anders als von zahlreichen Turbulenzen geprägt vorgestellt werden kann. Den Prozess geschehen zu lassen, ist das, was in erster Linie gefordert ist – und gute Nerven verlangt. Ihn abzuschirmen gegen exzessive Marktreaktionen, aber auch gegen  ungeduldiges Drängen auf allerlei Symptomen-Therapie, ist in zweiter Linie wichtig – und verlangt viel Klugheit. Schließlich: Geradlinigkeit im Umgang mit den Widerspenstigen und deren Hakenschlägen sowie mit verrückt gewordenen Märkten wird  am Ende – und schon gar unterwegs – selbst dem Erfolgreichen nicht bescheinigt werden. Konzeptionslos ist eine in diesem Sinne kluge Politik der guten Nerven deshalb aber nicht.

5. Das Konzept für den Weg zu dem großen Ziel ist nach den Maastrichter Verträgen „die Währungsunion mit finanzpolitischer Autonomie der Mitgliedstaaten“: Die Geldversorgung wird objektiviert, und die Staatsverschuldung bleibt in  nationaler Selbstverantwortung. Dies ist ein vollständiges Konzept, nicht ein Konzept, das erst durch Hinzufügung einer gemeinsamen Wirtschafts- und Finanzpolitik ein vollständiges Konzept wird. Es befindet sich gegenwärtig in einer Feuerprobe, aber es besteht nach wie vor eine gute Chance, dass es diese Feuerprobe besteht.

Zur Feuerprobe ist es gekommen, weil einige Mitgliedstaaten die Grenze ihrer Kreditfähigkeit erreicht haben oder dieser Grenze nahe gekommen sind, nachdem die Bekämpfung der globalen Finanzkrise und deren Folgen die Staatsverschuldung noch einmal schubartig erhöht hat. Dass die Turbulenzen an den Finanzmärkten, die mit dieser Feuerprobe einhergehen, so heftig ausfallen, hat einen einfachen Grund. Das Funktionieren der weltweit vernetzten Finanzmärkte war ganz wesentlich gegründet auf das Axiom, dass ein Staat, der zu den entwickelten Industriestaaten zählt, prinzipiell nicht in Verdacht steht, insolvent zu werden. Von ihm ausgegebene Anleihepapiere waren keine Risikopapiere. Dass dieses Axiom nun keines mehr sein soll, schafft in horrender Weise virtuelle Anreize zur Portfolioanpassung bei den Besitzern von Wertpapieren aus Staatsanleihen  in aller Welt. (Nicht wenige Banker sehnen sich wohl zurück in eine Welt, in der staatlich Bonds keine Ausfallrisiken tragen, weil dem Emittenden allemal der Weg in ein bisschen zusätzliche Inflation offen steht.)

Für eine Krise gibt es nicht immer nur schlimme Gründe

6. Das Fortwirken der globalen Finanzkrise 2007 ff. in dem, was sich heute als Staatsschuldenkrise und als drohende zweite Bankenkrise darstellt, ist ein eigenes Thema. Im Bewusstsein behalten sollte man die Verbindung zu den Ursprüngen aber schon. Auch die globale Finanzkrise war entstanden, nachdem auf zu schmale Basen der Risikotragfähigkeit zu große Gebäude der Risikoübernahme gegründet worden waren. Freilich: Wunderbare Innovationen hatten die Finanzwirtschaft gelehrt, viel besser mit Risiken umzugehen als bis dahin. Virtuose Teilung und Umverteilung von Risiken machte Kreditbeziehungen möglich – und damit Investitionen -, die bei dem tradierten stümperhaften  Risikomanagement niemals zustande gekommen wären. Die wirtschaftliche Dynamik in der ganzen Welt profitierte davon. Sie war so kraftvoll, dass alles beiseite geräumt wurde, was im Wege stand oder sich in den Weg stellte, alte Regulierungen ebensowohl wie tradierte Verhaltensweisen. Allerdings: Der Glaube an die Effizienz von Märkten deckte nun weithin die eigentlich nicht in Frage stehende alte Weisheit zu, dass auch eine noch so intelligente Umverteilung von Risiken keine Risiken verschwinden lässt. So kam es, wie es  kommen musste, früher oder später, wann, wusste niemand. Eine maßlose Expansion des Kreditvolumens in der Welt brachte das System in einen überkritischen Zustand, und es kollabierte. Der Verlust an wirtschaftlicher Dynamik in der Welt, der damit programmiert wurde, war womöglich ein Verlust für lange Zeit. Der Schock der großen Krise konnte gemildert werden, indem die Staaten auf ihre Reserven an Verschuldungsfähigkeit zurück griffen. Aber diese Reserven muss man wieder auffüllen, man darf sie nicht bis auf den letzten Rest aufzehren.

Aber selbst ein tieferer Blick in die Vergangenheit lehrt kein Verzeihen und nur ein klein bisschen Hoffnung

7. Gleichwohl, wenn sich Staaten  im Zuge der verbreiteten Neigung zu ständig wachsender Staatsverschuldung deren Grenzen nähern, überrascht es nicht, wenn man sie  nach Möglichkeiten suchen sieht, diese Grenzen auszuweiten oder zu durchbrechen. Selbst die Entstehung der Europäischen Währungsunion kann man auch unter diesem Gesichtspunkt sehen; denn diese entzog zwar allen Mitgliedern die Möglichkeit zu nationaler Inflation (was die finanzpolitische Souveränität materiell für alle einschränkte), ersetzte damit aber zugleich nicht-verlässliche Grenzen (sich ändernde Wechselkurse) durch verlässliche (was für etliche die Verschuldungspielräume erweiterte). Dem war eine mehrphasige Epoche voraus gegangen.

8.  Nach dem zweiten Weltkrieg, der in Europa die Staatsschuld fast überall dezimiert hatte, konnte man eine Zeitlang neue Staatsschuld straflos aufbauen. Danach gelang es vielen noch viele Jahre lang, durch inflatorische Geldvermehrung den Anstieg der realen Schuldenlast aufzuhalten, zumindest einzudämmen. Die außenwirtschaftliche Budgetbeschränkung, die das System von Bretton Woods dagegen aufgerichtet hatte, fiel, als man zu flexiblen Wechselkursen überging. Die Freude über die neu gewonnene Freiheit zu Inflation und hohen Staatsdefiziten währte aber nicht lange. An den Märkten, an denen Zinsen und Wechselkurse gebildet werden, war rasch eingeübt, die Folgen inflatorischer Politik  zu antizipieren. Zinssteigerungen und Wechselkursabwertungen hoben deren reale Wirkungen auf. Und bei Neutralisierung blieb es nicht. Schließlich überwogen die Übertreibungen – namentlich bei den Wechselkursen; sie machten aus der Neutralisierung eine Bestrafung.  Die Befreiung zu Tugend oder Sünde durch Flexibilisierung der Wechselkurse hatte sich als Chimäre erwiesen.

9. Frankreich war das erste große Land, das schon in den frühen achtziger Jahren – nach einer von den Märkten nicht akzeptierten Phase expansionistischer Reformpolitik – mit einer wirtschafts- und finanzpolitischen Wende nachhaltig auf diese Erfahrung antwortete. Italien sah sich wenige Jahre später ebenso dazu gezwungen. Aber erst die Vorbereitung auf die Europäische Währungsunion und die großzügige Bewertung dieser Vorbereitung bei der Prüfung der Kandidaten für die Währungsunion befreite das Land aus der Gefahr, im Falle der Nicht-Zulassung zur Währungsunion durch einen sich selbst treibenden Prozess in den Staatsbankrott zu geraten.

Aus dieser Ecke betrachtet, vollzog die Gründung der Europäischen Währungsunion die Entmündigung der Nationalstaaten durch Finanzmärkte, die sich mehr und mehr globalisierten, nur nach. Sie nahm dann für ihre Mitglieder erst einmal alle Zins-Spreads aus dem Markt. Denn diese waren ja in der Epoche vor der Währungsunion im wesentlichen Ausdruck von Unterschieden in den Inflations- und Wechselkursänderungserwartungen gewesen, die es in der Währungsunion nun nicht mehr gab. Und nach dem Start der Währungsunion traten verständlicherweise nicht sofort Insolvenzerwartungen an deren Stelle (zumal es für den Risikoaufschlag für eine Anleihe ja nur auf die Besorgnis einer möglichen Insolvenz des Schuldners innerhalb der Laufzeit der Anleihe ankommt, nicht auf die Möglichkeit einer Insolvenz irgendwann).  Insofern war es nicht „absurd“, dass eine Zeitlang selbst Mitgliedstaaten, von denen man eine nachhaltig auf Solidität bedachte Finanzpolitik am wenigsten erwartete, ihren Staatskredit beinahe zu den Sätzen für die Bundesanleihe erhielten. Man braucht als Erklärung hierfür nicht die – heute gängige – Annahme, die Märkte hätten von vornherein nicht an die Befolgung der No-bail-out-Regel des Maastrichter Vertrages geglaubt. (Im übrigen: Glauben die Märkte heute mehr daran als zu Anfang?) Erst etliche Jahre später antwortete der Markt mit neuen Zins-Spreads auf die fortdauernd unterschiedliche Solidität in der Finanzpolitik der Mitgliedstaaten der Währungsunion. Inzwischen haben wir Reagibilität der Zins-Spreads im Übermaß. Die Finanzmärkte von heute sind nicht „rationaler“ als es die Devisenmärkte der siebziger und achtziger Jahre waren.

Ausbüxen gilt nicht

10. Die – notabene unscharfen – Grenzen für die Ausweitung der Staatsverschuldung, die  in der Währungsunion durch den Grundsatz der Selbstverantwortung der Mitgliedstaaten in der Finanzpolitik gezogen sind  und auf deren Disziplinierungswirkung alles ankommt, kann man auf zweierlei Weise durchbrechen. Und für beide – gleichermaßen systemfremde -  Wege wird jetzt wortreich geworben.

  • Der eine Weg besteht darin, auf die Kreditfähigkeits-Reserven der weniger verschuldeten Länder der Währungsunion zuzugreifen, die Verantwortung für die nationale Staatsschuld also teilweise offen zu vergemeinschaften. Die ungenierteste Form dafür wären Eurobonds. Aber die Findigkeit der Sanierer hat keine engen Grenzen. Auch wenn der europäische Rettungsfonds sich am Kapitalmarkt refinanziert, wird das Kreditfähigkeitspotential Dritter mobilisiert. Und wenn der Internationale Währungsfonds nach neuen Möglichkeiten sucht, finanzschwachen Staaten aus der Klemme zu helfen, ist er auf den gleichen Abwegen wie die Europäische Zentralbank, wenn sie Staatsanleihen ankauft, also  langfristige Schuldversprechen eines Staates in Geld umwandelt und die eigenen Gewährsträger dafür haften lässt. Schließlich: Wie man   eine von den Parlamenten genehmigte mäßig große Haftungssumme (zu der ein mäßig großes Ausfallrisiko gehört) so hebeln kann, dass sie für das Ausfallrisiko einer dreimal so großen Garantiesumme einsteht (mit entsprechend vervielfachtem   Ausfallrisiko für die Haftungssumme), das wissen die Finanzmarktvirtuosen. (Diejenigen vom Rettungsfonds werden uns erzählen, wie schön es doch sei, dass man auch private Anleger dafür gewinnen könne, sich an der Anleiheemission für einen finanzschwachen Staat zu beteiligen. Sie werden nicht besonders erwähnenswert finden, dass der private Anleger gar kein Risiko oder so gut wie kein Risiko übernimmt, weil man das auf ihn eigentlich entfallende Risiko vorsorglich aus dem von ihm erworbenen Papier herausgenommen und auf das Anleihepapier draufgepackt hat, das der Rettungsfonds selbst übernimmt. Und weil das so schön aussieht, werden auch die Gewährsträger des Rettungsfonds, so wohl die Hoffnung, nichts dagegen einwenden, werden die von ihnen genehmigte Haftungssumme nicht für missbraucht halten. Effiziente Nutzung einer Haftungssumme nennt man solchen Missbrauch.)
  • Der andere Weg läuft am Ende auf das gleiche hinaus, beginnt aber an  anderer Stelle. Es geht darum, den Staatsbankrott – die Enteignung der Gläubiger – so zu ritualisieren, dass er ein halbwegs normaler, überschaubarer, nach Möglichkeit sogar berechenbarer Vorgang wird – „geordnete“ Staatsinsolvenz heißt das Monstrum. Die Gläubiger sollen enteignet werden können, aber in voraussehbar begrenzter Form. Das Wesen einer solchen Insolvenzordnung für Staaten ist nicht, die Beteiligung der Gläubiger an der Sanierung überschuldeter Staaten einzuführen oder sicherzustellen, ihr Wesen ist, die Beteiligung der Gläubiger zu begrenzen. Dies macht den Staatskredit zwar möglicherweise teurer, erweitert aber zugleich den Spielraum für ihn. Im Zweifel wird die Staatsverschuldung am Ende nicht kleiner sein, sondern größer. Das Interesse daran ist der Motor des Ganzen. Das Mittel ist wiederum die Mobilisierung von Garantiebereitschaft Dritter – wie bei den Eurobonds etc. Denn ohne irgendeine Garantiebereitschaft Dritter – in welcher Ausgestaltung auch immer – gibt es keine Begrenzung der Gläubigerrisiken.

Auch nach Einführung der Möglichkeit einer geordneten Staatsinsolvenz wird es Zins-Spreads geben, welche die unterschiedliche Solidität in der Finanzpolitik reflektieren. Aber  Vergrößerungen der Zins-Spreads werden sich – so die Idee – nicht irgendwann selbst verstärken, wenn das Gläubigerrisiko begrenzt worden ist, notabene begrenzt zulasten der Gemeinschaft der Mitgliedstaaten, die am Ende für diese Begrenzung haften.

Mit der Risiko-Begrenzung „durch geordnete Insolvenz“  würde man – wie mit Eurobonds – die strategische Idee der Veranstaltung „Europäische Währungsunion“ verraten; denn zu ihr gehören die unverfälschten Risiken.

Die Anwälte weiter wachsender Staatsverschuldung hingegen fürchten die unbegrenzten Risiken. Dass Zinsen hoch sind, stört sie, verstört sie aber nicht. Denn hohe Zinsen halten eine entschlossene Regierung nicht von weiterer Schuldenaufnahme ab. Eine entschlossene Regierung verschuldet sich, solange sie Kredite bekommt. Mit Zinssteigerungen jedoch, die sich selbst verstärken, können sie nicht leben. Sich selbst treibende Zins-Spreads zeigen an, dass die Kreditfähigkeit eines Schuldners erschöpft ist.

Auf den disziplinierenden Effekt der Möglichkeit, dass eine Regierung dies ganz schnell erleben kann, darf nicht verzichten, wer darauf hofft, dass die Europäische Währungsunion ihre Feuerprobe besteht. Gewiss, sich selbst verstärkende Zins-Spreads sind Ausdruck übertreibender – und insoweit versagender – Märkte. Aber ohne Grund – jahrelang unsolide Hauhaltspolitik etwa – kommt es zu den Übertreibungen ja nicht. Ohne Remedur am Ursprung geht daher  nichts, und dafür sind gehörige Anreize nötig. Deshalb darf man den Übertreibungen keinesfalls mit dem Ziel entgegenwirken, sie nach Möglichkeit ganz zu unterbinden. Für ein Land ein bestimmtes Zinsniveau herbeizuführen und zu stabilisieren, ist keine tragfähige wirtschaftspolitische Idee.

Die zahlreichen Befürworter eines Regelwerks für die geordnete Insolvenz von Staaten begründen ihre Vorliebe vor allem mit der Erwartung, dass die Gläubiger vorsichtiger werden und höhere Zinsen verlangen, wenn sie ernsthaft mit der Möglichkeit zu rechnen haben, dass ihr staatlicher Schuldner in die Insolvenz geht. Mit anderen Worten, wenn sie nicht bloß mit der Denkmöglichkeit zu rechnen haben, dass dies geschieht, tatsächlich aber sicher sein können, dass rechtzeitig Sanierer zu Hilfe eilen, die eine ungeordnete Insolvenz mehr fürchten als der Schuldner. An dieser Argumentation erscheint nichts falsch. Aber darin ist ohne überzeugende Gründe die Wahrscheinlichkeit, dass etwas höhere Zinsen einen potentiellen staatlichen Schuldner von zusätzlicher Kreditaufnahme abhalten, höher angesetzt als die Wahrscheinlichkeit, dass die Erweiterung seines Kreditpotentials ihn zu zusätzlicher Kreditaufnahme veranlasst. Es sei wiederholt: Die Erweiterung seines Kreditpotentials ergibt sich daraus, dass die Begrenzung des Ausfallrisiko der Gläubiger (welche die geordnete Insolvenz von der ungeordneten unterscheidet) eine sich selbst treibende Zinssteigerung verhindert.

Deutschlands Rolle lässt sich wirkungsvoll nicht glanzvoll spielen

11. Unter den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen kann der Zwang zur „Remedur am Ursprung“ nur von Ländern ausgehen, an denen niemand vorbei kommt. Unter den gegebenen Umständen ist das zu allererst Deutschland.

Deutschland muss seine Führungsrolle in der Weise wahrnehmen, dass es zusammen mit gleichgesinnten Partnern die widerstrebenden Partner völlig unnachgiebig den Zwängen des Systems ausgesetzt hält, nicht in irgendeiner befehlenden Weise, die ihm nicht ziemt, aber doch mit der Beharrlichkeit dessen, der die Idee des Systems auf seiner Seite hat. Auf diese ganz indirekte Weise darf man andere wohl „zwingen“, von selbst zu tun, was das System verlangt und erhält.

In diesem Sinne ist die Politik der Bundesregierung in den vergangenen achtzehn Monaten, lässt man die unterwegs nötigen  Frontbegradigungen  als solche gelten, durchaus von Stetigkeit geprägt. Man mag Wolfgang Schäuble undurchschaubar finden und die Kanzlerin zögerlich. Wenn man abwarten muss, bis die Widerspenstigen die Zwänge des Systems so bitter erfahren haben, dass sie sich ihnen unterwerfen, ist wohl beides nötig. Hier ist nicht allein an Griechenland zu denken.

Hilfe zur kontrollierten Selbsthilfe, auf dem Weg sollte man bleiben –

12. Die Unterschiede zwischen den konkurrierenden Konzepten für die Griechenlandhilfe sind klar und einfach.

  • Das Konzept der Bundesregierung und des Europäischen Rates     ist (von Akzessorischem abgesehen)  von einem einzigen Gedanken geprägt: Der Rettungsfonds verschafft Griechenland durch Finanzierungshilfen Zeit und Luft, sich selbst zu helfen. Die Gesamthilfe ist vollständig tranchiert, und jede Tranche wird nur unter der strikten Bedingung  zugeteilt, dass Griechenland den verabredeten Fortgang seiner Selbsthilfe erreicht hat. Schuldenerlass gehört nicht zum Konzept. Im Erfolgsfall zahlt Griechenland am Ende seine gesamten Schulden zurück. Die Hilfe von außen besteht – im Erfolgsfall – ausschließlich aus Zinsverbilligung (die gewissermaßen kostenlos ist, solange die Helfer ihre eigene Kreditwürdigkeit nicht strapazieren).
  • Die konkurrierende Vorstellung ist: Durch Umschuldung/ Schuldenschnitt, notfalls in radikalem Ausmaß, sollte möglichst bald und auf einen Schlag die Schulden-Tragfähigkeit Griechenlands wiederhergestellt werden. Ergänzende Finanzierungshilfen des Rettungsfonds müssten Griechenland über die Jahre hinweg helfen, in denen es noch nicht wieder kapitalmarktfähig ist. Selbst im Erfolgsfall zahlt Griechenland nur einen Teil seiner heutigen Schulden zurück. Die Hilfe von außen besteht aus Forderungsverzicht und Zinsverbilligung.

Der auffälligste Unterschied zwischen beiden Wegen ist auch konzeptionell hochbedeutsam. Auf dem zweiten Weg verzichtet man für den größten Teil der Sanierungshilfe – das ist hier der Verzicht der Gläubiger (es sollen inzwischen zu zwei Dritteln staatliche Gläubiger sein) – von Vornherein auf die Konditionierung, die auf dem ersten Weg jeden Hilfeschritt vom kontrollierten Fortgang der Selbsthilfe Griechenlands abhängig macht. Das ist deshalb so schlimm, weil eine nachhaltige Sicherung von Griechenlands Zukunft ja niemals von fremder Hilfe, sondern allein von der selbst zu schaffenden Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft erwartet werden kann.  Anders gewendet: Griechenlands Problem sind nicht in erster Linie seine hohen Schulden, sondern die fortbestehenden Gründe, die zu seinen hohen Schulden geführt haben.

Im zeitlichen Anfall der Haushaltsentlastung für Griechenland besteht nicht notwendigerweise ein Unterschied zwischen beiden Wegen, jedenfalls kein konzeptionell bedeutsamer. Hier kommt es auf die Komposition des Gesamtpakets an.

Welcher Weg für den Steuerzahler der Helferstaaten der billigere wäre, ist offen. Der erste Weg wäre eindeutig der billigere, wenn er zum Ziele führt, Griechenland also zu der geforderten Umstrukturierung von Wirtschaft und Gesellschaft veranlasst; andernfalls kann er sehr teuer werden. Geht man den zweiten Weg, könnte der Steuerzahler beim Griechenlandpaket etwas sparen. Dem stünde gegenüber, dass auch der Schuldenschnitt – der in der Hauptsache die von den Gläubigern schon erwarteten respektive befürchteten Verluste in definitive Verluste verwandelte – überwiegend ihn träfe, weil die meisten Gläubiger staatliche Gläubiger sind. Hinzu kämen Kosten aus der Rekapitalisierung der Banken, die nicht tragen können, was sie tragen sollen. Nicht zu reden ist von all dem Unvorhersehbaren, das solch ein Kladderadatsch, wie ihn ein Staatsbankrott darstellt, mit sich bringt, auch nicht von den Ansteckungsgefahren, die bisher wohl entscheidend dafür waren, dass man den zweiten Weg gemieden hat.

– solange Griechenland darauf bleibt

Nach der Entscheidung des Europäischen Rates vom 21. Juli, in der Hauptsache weiterhin den ersten Weg zu gehen, ist der Status quo verändert: Die Finanzierungshilfe, die das zweite Griechenlandpaket anbietet, ist so großzügig und langfristig, dass sie von keinem echten Schuldenschnitt übertroffen wird, der nicht seinerseits durch massive Hilfe Dritter (Garantieversprechen für eine reduzierte Staatsschuld vor allem) ergänzt wird. Mit anderen Worten, Griechenland täte sich sehr schwer, auch nur im Falle eines radikalen Schuldenschnitts in absehbarer Zeit mit einer geringeren Haushaltsbelastung davon zu kommen als ohne weiteren Schuldenschnitt; nur fortdauernde Hilfe kann das ausgleichen.

Nach den bisherigen Erfahrungen ist Griechenland überhaupt nur unter dem Druck der Konditionierung aller Hilfen zu umfassenden Selbsthilfeanstrengungen zu bewegen, die beschwerlich sind. Eine ernst zu nehmende Besorgnis ist daher: Griechenland kapituliert vor den innenpolitischen Widerständen gegen die Lasten des Sparkurses,  zwingt also seine Partner auf den zweiten Weg, indem es sich für zahlungsunfähig erklärt – sobald es zu der Überzeugung gelangt,

  1. dass die Partner aus Furcht vor Ansteckungsgefahren darauf verzichten werden, Griechenland im Falle eines Staatsbankrotts zum Ausscheiden aus der Währungsunion zu drängen, und
  2. dass die Partner  bei den im Rahmen einer Umschuldung   auszuhandelnden Garantien für die neue – dann reduzierte – griechische Staatsschuld nicht zurück bleiben werden hinter dem, was sie im derzeitigen Griechenlandpaket an  Finanzierungshilfen angeboten haben.

Eine verunsicherte Öffentlichkeit und die meisten ungebetenen Ratgeber drängen die Regierungen des Euro-Raumes ebenfalls auf den zweiten Weg, was die Glaubwürdigkeit der vom Europäischen Rat gewählten Strategie nicht wenig beschädigt hat. Die für den Fall der Insolvenz Griechenlands befürchtete Ansteckung ist im Gange, die Abschirmung gegen sie ebenso. Unbeantwortet ist jedoch die doppelte Frage: Auf welche  Weise ließe sich im Falle der großen Vorleistung, die in einem Erlass von Schulden läge, möglichst viel  von der Konditioniertheit der Hilfsangebote des Griechenlandpakets – sprich, vom eigentlich unaufgebbaren Grundsatz der Hilfe zur Selbsthilfe – retten? Und: Welche Bitterstoffe sollen einen Schuldenerlass für einen Hilfsbedürftigen so unattraktiv machen, dass man sich mit ihm nicht neue Hilfsbedürftige heranzieht?

 

5 Antworten auf „Gastbeitrag
Auf die Zeitenwende in der Staatsschuldenpolitik kommt alles an“

  1. Vielen Dank für diesen hervorragenden Beitrag! Einige Thesen erinnern an die Bemerkung von Reinhard/Rogoff in „Diesmal ist alles anders“: Dort schreiben die Autoren sinngemäß, dass es bei Staatsschuldenkrisen weniger auf die Rückzahlungsfähigkeit, sondern oft auf die Rückzahlungswilligkeit der Schuldenstaaten ankommt.

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