Ein Modell auf dem Prüfstand
Die Weltwirtschaft befindet sich offensichtlich in der stärksten Rezessionsphase seit dem Zweiten Weltkrieg. Jedenfalls werden für Nordamerika und Westeuropa für das Jahr 2009 die seitdem größten Konjunktureinbrüche erwartet. Die Verwerfungen an den Finanzmärkten gelten als eine Hauptursache für die großen globalen Anpassungslasten. Die Wirtschaftspolitiker haben in den letzten Monaten mit umfangreichen Rettungsmaßnahmen eine Reihe von Finanzinstituten gestützt. Daneben wurden in vielen Ländern Konjunkturpakete geschnürt, um über Staatsausgaben die Konjunktur zu stabilisieren. Doch damit nicht genug. Das Versagen der Finanzmärkte scheint auch die Funktionsfähigkeit anderer Märkte – also der Güter- und Arbeitsmärkte – infrage zu stellen.
Diese Märkte weisen sicherlich auch eine Reihe von Funktionsstörungen auf. Mehr Regulierungen und die staatliche Stützung von Industrieunternehmen sind jedoch das Gegenteil der erforderlichen Maßnahmen. Gerade jetzt in der Krise muss die Anpassungsfähigkeit der Güter- und Arbeitsmärkte gestärkt werden, und zwar durch den Abbau der den Strukturwandel behindernden Regulierungen. Allerdings dürfte dies im Wahlkampfjahr 2009 in Deutschland kaum politische Unterstützung finden. Vielmehr besteht die Gefahr, dass staatliche Rettungsschirme über krisengeplagte Firmen aller Branchen gespannt werden. Im Prinzip hat dies die gleichen ökonomischen Effekte wie Protektionismus. Subventionen und andere Firmenstützen diskriminieren sowohl heimische Firmen, die nicht in den Genuss der Begünstigungen kommen, als auch ausländische Wettbewerber. Neben einem möglichen Interventionswettlauf bestehen mindestens noch folgende Gefahren:
- Ein Wirtschaftsmodell, das von offenen Märkten, Privateigentum und Vertragsfreiheit – in Anlehnung an Walter Eucken – geprägt war, steht nicht nur in Deutschland, sondern weltweit auf dem Prüfstand.
- Die ökonomischen Erfolge dieses marktwirtschaftlichen Modells rücken in den Hintergrund und drohen, durch staatliche Lenkungsmodelle ausgehöhlt zu werden.
Rückblick auf den globalen Boom
Die globale Dynamik in der jüngsten Vergangenheit scheint damit völlig aus dem Blick zu geraten. Diese Dynamik fand sicherlich in der Zeit statt, als sich an den Finanzmärkten mehr und mehr Problemlagen auftaten. Das US-Leistungsbilanzdefizit muss auch im Zusammenhang mit der amerikanischen Finanzierungsakrobatik gesehen werden. Es darf jedoch die wirtschaftliche Dynamik der im Vergleich zu den vorhergehenden Dekaden weiter geöffneten Volkswirtschaften nicht einfach ignoriert werden. Die Weltwirtschaft kann auf ein paar sehr gute Wachstumsjahre seit dem letzten Tiefpunkt in den Jahren 2001 und 2002 zurückblicken. Mit einem jahresdurchschnittlichen Plus von mehr als 4½ Prozent bei der preisbereinigten globalen Wirtschaftsleistung wurde im Zeitraum 2003 bis 2007 der langjährige Durchschnitt von 3,3 Prozent so deutlich übertroffen wie noch nie seit 1980. Die reale Weltproduktion belief sich im Jahr 2007 auf fast das 2,5-Fache des Niveaus von 1980. Dabei hat sich die reale Produktion in den aufstrebenden Volkswirtschaften seit 1980 verdreifacht und in den fortgeschrittenen Ländern verdoppelt. Während die Dynamik in den beiden Wirtschaftsräumen fast bis Mitte der neunziger Jahre weitgehend deckungsgleich verlief, kam es danach zu einer markanten Abkopplung der Schwellen- und Entwicklungsländer. Anhand dieser groben Betrachtung zeigte sich dort in der vergangenen Dekade ein sich beschleunigender Aufholprozess.
Motoren der globalen Konvergenz
Für die globale Konvergenz gibt es eine Reihe von Bestimmungsfaktoren: Die Öffnung vieler Märkte für ausländische Güter, für ausländisches Kapital und für Menschen hat die internationale Arbeitsteilung und damit auch die Produktivität in den beteiligten Volkswirtschaften erhöht. Der Abbau von protektionistischen Maßnahmen wie Zöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen sowie die Liberalisierung des grenzüberschreitenden Kapitalverkehrs können hier genannt werden. Der Welthandel ist im Zeitraum 2004 bis 2007 um fast 9 Prozent pro Jahr gewachsen. Seit 1980 hat er sich in etwa verfünffacht. Die internationalen Direktinvestitionen beliefen sich im Jahr 2006 weltweit auf gut 1.300 Milliarden US-Dollar. Das war der zweithöchste Wert nach dem Boomjahr 2000 und doppelt so viel wie der Durchschnittswert der Krisenjahre 2002 bis 2004. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre belief sich das jährliche globale Direktinvestitionsvolumen erst auf rund 60 Milliarden US-Dollar. Seitdem hat es sich also mehr als verzwanzigfacht. Durch die internationalen Kapitalströme konnte in den aufstrebenden Volkswirtschaften Sachkapital und Infrastruktur aufgebaut werden. Mit dem internationalen Engagement von Unternehmen kam es auch zu einem zunehmenden Technologie- und Know-how-Transfer. Nicht zuletzt hat auch die rasante Entwicklung der modernen Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten die Vernetzung der Volkswirtschaften und damit eine intensivere internationale Arbeitsteilung angetrieben. Schließlich hat sich auch die politische und wirtschaftspolitische Haltung in vielen Ländern gewandelt. Marktwirtschaftliche Elemente spielten in diesem Aufholprozess in vielen Volkswirtschaften eine größere Rolle. Die Öffnung früherer Zentralverwaltungswirtschaften in Osteuropa und Chinas können hier als Beispiel genannt werden. Damit hat auch die Wohlstandsorientierung in vielen Ländern eine größere politische Bedeutung bekommen. Und nicht zuletzt erfreuten sich eine Reihe von rohstoffreichen Ländern erhebliche Einnahmen durch die steigende Rohstoffnachfrage und die deutlich angestiegenen Rohstoffpreise.
Beachtliche Verbesserungen
In der Tat hat sich der Wohlstand – hier beschränkt auf den materiellen Wohlstand gemessen am Bruttoinlandsprodukt je Einwohner bereinigt um Kaufkraftunterschiede in den jeweiligen Ländern und Regionen – seit der letzten Schwächephase der Weltwirtschaft überall erhöht (Abbildung): Die stärksten Einkommensverbesserungen gab es in Asien und in der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS). Hier expandierte das BIP je Einwohner im Zeitraum 2002Â bis 2007 um rund zwei Drittel! Ein Plus von gut 50 Prozent gab es in Osteuropa, das zuletzt mit fast 15.000 US-Dollar (in Kaufkraftparitäten) das höchste absolute Niveau erreichte. Beim Blick auf die Einkommenshöhe folgen die GUS, der Mittlere Osten und Lateinamerika mit jeweils rund 10.000 US-Dollar je Einwohner im Jahr. Trotz des großen Zuwachses liegt das Einkommensniveau in Asien im Durchschnitt erst bei unter 4.000 US-Dollar. Die geringsten Anstiege des Pro-Kopf-Einkommens – wenngleich es sich in dem fünfjährigen Zeitraum ebenfalls um rund ein Drittel erhöht hat – waren in Afrika, Lateinamerika und im Mittleren Osten zu verzeichnen. Dabei ist das Wohlstandsniveau in Afrika mit einem Pro-Kopf-Einkommen von gut 2.400 US-Dollar deutlich abgeschlagen im Vergleich mit den anderen aufstrebenden Regionen.
Diese Bilanz darf nicht darüber hinwegsehen, dass das Ausmaß an weltweiter Armut immer noch erschreckend hoch ist. Laut aktuellem Weltentwicklungsbericht der Weltbank müssen derzeit 1,4 Milliarden Menschen mit weniger als der Kaufkraft von 1 US-Dollar pro Tag auskommen. Dabei kommt es – vor allem in Afrika – immer noch zu Hunger und Unterernährung. Seit Anfang der achtziger Jahre hat sich der Anteil der Menschen unterhalb dieser Armutsschwelle jedoch massiv verringert und sogar fast halbiert. Die gute wirtschaftliche Entwicklung – auch angetrieben durch die Globalisierung – hat sich vor allem in China und Indien positiv auf den Rückgang der Armut ausgewirkt. Zudem gibt es gute Belege dafür, dass sich die weltweite Ungleichheit bei der Verteilung der Einkommen im Gefolge des globalen Wachstums- und Globalisierungsprozesses nicht vergrößert, sondern in einer aggregierten Betrachtung vielmehr verringert hat – so jedenfalls die Studien von Bhalla und Sala-i-Martin.
Nicht nur die materielle Lage vieler Menschen hat sich im Gefolge des vergangenen Weltwirtschaftsbooms verbessert. Eine Langfristuntersuchung zum Glücksempfinden zeigt für den Zeitraum 1981 bis 2007, dass sich ein wachsender Wohlstand – gemessen am Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt – positiv auf das Glücksempfinden der Menschen auswirkt – siehe etwa die Untersuchung von Inglehart und anderen vom vergangenen Jahr. In 45 der 52 untersuchten Länder fühlen sich Menschen gemäß dem „World Value Survey“ heute glücklicher als Anfang der achtziger Jahre. Das gilt vorwiegend in den Ländern mit einem niedrigeren Einkommen (von unter 12.000 US-Dollar). In reicheren Ländern nimmt das persönliche Glücksempfinden nicht generell mit wachsendem Wohlstand zu. Trotz all der Einschränkungen bei der Definition und Messung des emotionalen und kognitiven Wohlbefindens zeigen Ländervergleiche durchaus einen positiven Zusammenhang zwischen der Einkommensentwicklung und der Lebenszufriedenheit. Sicherlich hängt das Wohlbefinden eines Menschen von Faktoren wie Gesundheit, familiäre Beziehungen, befriedigende Arbeit, soziales Umfeld und der persönlichen Freiheit ab, die finanzielle Lage und damit das Einkommen spielen jedoch vor allem in aufstrebenden Ländern eine bedeutende Rolle.
Der bisherige Wachstums- und Globalisierungsprozess hat sich in einem steigenden materiellen Wohlstand und offensichtlich auch in einer höheren Lebenszufriedenheit niedergeschlagen. Diese Wachstumserfahrungen der vergangenen Jahre dürfen nicht aus dem Blick verloren werden, wenn sich nunmehr Politiker herausgefordert fühlen, auf die ernste Weltwirtschaftskrise mit mehr Staatseingriffen zu reagieren. Das Versagen der Finanzmärkte darf nicht als Begründung für ein Versagen anderer Märkte herangezogen werden. Die Wohlstandsentwicklung in der globalisierten Welt in den letzten Jahren steht damit auf dem Spiel.
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„Das Versagen der Finanzmärkte darf nicht als Begründung für ein Versagen anderer Märkte herangezogen werden. Die Wohlstandsentwicklung in der globalisierten Welt in den letzten Jahren steht damit auf dem Spiel.“
Egal wie oft es geschrieben wird, es wird nicht wahrer dadurch. Im Augenblick werden überhöhte Werte radikal neubewertet. Ein Versagen kann ich da nicht erkennen, nur den „willen“ der Politik diese Neubewertung um jeden Preis aufzuhalten. Der Preis in diesem Ring sind staatsbankrotte. Wenn die erst ins Laufen kommen sind alle „Bankenbankrotte“ nur Peanuts….
Was hier leider vergessen wird ist, dass der mittlere Wohlstand gestiegen ist der relative aber in vielen gesunken. Schaut man in die Entwicklung der Einkommens- und Vermögensverteilung vieler Länder, auch Deutschland, sieht man sehr deutlich wo der Zuwachs geblieben ist. Viele Menschen auf dieser Erde werden fragen welcher Wohlstand denn bitte schön auf dem Spiel steht.