Auch nach den 2010 beschlossenen Reformen der Gesetzlichen Krankenversicherung und Arzneimittelvergütung steht eine Strukturreform, die das Gesundheitssystem langfristig leistungsfähig und finanzierbar macht, weiterhin aus. Doch die Chancen für eine solche Reform stehen schlecht, denn Dauerwahlkampf im bundesdeutschen Föderalismus, starke partikulare Interessen und eine gerade im sensiblen Bereich Gesundheit emotional geführte Debatte führen dazu, dass eine große Reform ein politisch „heißes Eisen“ bleibt.
Die Gesundheitsversorgung in Deutschland ist hervorragend. Mehr als 95 Prozent der Weltbevölkerung beneiden uns darum. Der Umfang der erstattungsfähigen Leistungen ist in Deutschland europaweit am größten. Wie lange dies allerdings noch der Fall sein wird, ist fraglich, denn mit der älter werdenden und rückläufigen Bevölkerung, dem Segen des medizinisch-technischen Fortschritts, der Zunahme chronischer Krankheiten und der wachsenden Nachfrage nach hochwertigen Leistungen, nicht zuletzt im Pflegebereich, steigen die Ausgaben für Gesundheitsversorgung.
Da bislang keine der zahlreichen Reformen die strukturellen Defizite des Gesundheitssystems langfristig in den Griff bekommen hat, wird Gesundheitsreform zur Daueraufgabe: Seit Gründung der Bundesrepublik gab es mehr als 80 Gesetze, bei denen das Bundesministerium für Gesundheit die Federführung innehatte. Allein zwischen 1977 und 2000 waren es mehr als 46 Gesetze mit über 6.800 Einzelbestimmungen und Verordnungen. Und auch die aktuelle Bundesregierung übt sich im panta rhei der fortwährenden Reformversuche: Bislang wurden drei Gesetze mit den Zielen der Einsparungen bei Arzneimitteln und der Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung verabschiedet. Ein weiteres für die leistungsgerechte Vergütung der Ärzte und die flächendeckende Versorgung ist gerade vom Kabinett beschlossen worden.
Mit diesen Reformen hat sich die Bundesregierung statt eines großen Wurfs einmal mehr im Wesentlichen auf kurzfristige Ausgabendämpfung und die Vermeidung von Beitragssatzerhöhungen beschränkt. Allerdings ist sie mit den Zusatzbeiträgen einen Schritt in Richtung einer stärker einkommensunabhängigen Finanzierung der Gesetzlichen Krankenversicherung gegangen. Ob damit jedoch eine wie im Koalitionsvertrag geforderte mittel- und langfristig gewährleistete Finanzierung des Gesundheitssystems erreicht werden kann, ist fraglich.
Um das Gesundheitssystem langfristig leistungsfähig und finanzierbar zu machen und niemanden von der Gesundheitsversorgung auszuschließen, sollte eine Basisversicherungspflicht für alle Bürger eingeführt werden, bei Wahlfreiheit für zusätzliche Leistungen. In dieser „echten“ Bürgerversicherung sollte das System einkommensabhängiger Beiträge durch ein System von Beiträgen ersetzt werden, welche unabhängig von Alter, Geschlecht, Vorerkrankungen und Einkommen sind. Zudem werden Belastungsobergrenzen festgelegt. Der soziale Ausgleich würde dann dort erfolgen, wo er am besten gelingen kann: über das Steuer- und Transfersystem. Die Beiträge zur Krankenversicherung würden von den Lohnkosten abgekoppelt und der Arbeitgeberbeitrag ausbezahlt. Es sollte Wahlfreiheit aller Versicherten zwischen den verschiedenen Anbietern – gleich ob sie staatlich oder privat sind – bestehen. Für alle Anbieter der „echten“ Bürgerversicherung bestünde Kontrahierungszwang, so dass keine etwa chronisch kranken Patienten von den Versicherungen abgelehnt werden könnten. Über einen höheren Anteil an Kapitaldeckung würde die Demografiefestigkeit verbessert. Mit einer solchen Strukturreform könnten eine langfristig gesicherte Gesundheitsversorgung und sozialer Ausgleich gemeinsam gelingen.
Ob eine Gesundheitsstrukturreform in Deutschland aktuell überhaupt realisierbar ist, darüber bestehen berechtigte Zweifel: 16 autonome Bundesländer führen faktisch zu einem Dauerwahlkampf. Im Gesundheitsbereich treten starke Lobbys mächtig für ihre Interessen ein: Rund 900 Mitarbeitern im Bundesministerium für Gesundheit stehen etwa 3.500 Verbandsvertreter gegenüber. Die schwierige politische und institutionelle Ausgangslage behindert die Reformfähigkeit Deutschlands. Neben einer Vereinheitlichung von Wahlterminen und der Einführung mehr direkter Demokratie kann – das hat nicht zuletzt die Einführung der Schuldenbremse gezeigt – eine zeitversetzte Umsetzung die Erfolgschancen von Strukturreformen erhöhen. Zudem ist eine gute Kommunikationsstrategie entscheidend: Dass im sensiblen Gesundheitsbereich Begriffe wie „Kopfpauschale“ kommunikativ k. o. gehen, bevor sie die sachliche Ringmitte erreichen können, ist offensichtlich. Durch eine neue Aufklärungskultur kann es gelingen, dass manche politische Rhetorik wie „Gesundheit ist doch keine Ware!“ nicht eine solche reformverhindernde Kraft entfalten kann.
Am Ende ist für jede Strukturreform jedoch mutiges Regierungshandeln im Sinne der Allgemeinheit – auch gegen partikulare Interessen – notwendig und das auch auf die Gefahr hin, dass man in Umfragen und bei Wahlen Stimmeneinbußen hinnehmen wird. Mehr Aufklärung der Öffentlichkeit durch nicht-interessengeleitete und wissenschaftlich fundierte Institutionen, aber auch durch die Bundesregierung selbst kann dazu beitragen, dass diese Gefahr von Stimmeneinbußen deutlich sinkt.
Dieser Policy Brief entstand auf Grundlage des ECONWATCH-Meetings „Gesundheitsreform: Echte Strukturreform oder weiter Durchwursteln?“ mit Prof. Dr. Klaus-Dirk Henke (Technische Universität Berlin) am 4. Juli 2011 in Berlin.
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