Man muss schon buchstäblich bis zu Ende lesen (oder blättern). Erst im letzten Kapitel des letzten, fünften Buches des „Wohlstands der Nationen“ kommt Adam Smith auf die Staatsschulden zu sprechen. Heute gelesen löst die Lektüre unter dem Eindruck der Eurokrise ambivalente Gefühle aus: Es ist tröstlich zu sehen, dass die Staaten im 18. Jahrhundert keinen Deut besser waren als heute, aber genau diese Erkenntnis kann einen auch zum Verzweifeln bringen.
Lesen wir also Smith: Der Sozialstaat von heute sind die Kriege von damals. Militärische Auseinandersetzungen waren es, die die Staaten auf die Idee brachten, Kredite aufzunehmen. Allerdings lässt sich die kriegsbedingte Schuldenfinanzierung besser begründen als die Sozialbedürfnisse. Denn in einem Krieg braucht man Geld sofort;Â bis es der Steuereintreiber heran geschafft hat, könnte die Armee schon besiegt sein. Soziale Nöte dagegen sind, sieht man von Naturkatastrophen ab, vorhersehbar, könnten also auch durch laufende Einnahmen finanziert werden. Schulden für die Kriegführung aufzunehmen hält Smith sogar für „moralisch gerechtfertigt“ (784), denn ein Volk, das Handel treibt, muss vom Staat mit Sicherheit versorgt werden. Dieser Staat wird auch immer von den Reichen des Landes eine große Summe Geld geliehen bekommen, „falls sie es für richtig halten“ (785)
Doch das Unheil nimmt seinen Lauf. Und der Fluch des Moral Hazard beginnt: „Die Regierung verlässt sich nur allzu gerne darauf, dass die Bürger in der Lage und willens sind, ihr in Notfällen Geld zu borgen. Da sie im Voraus ungefähr weiß, dass es für sie einfach sein wird, einen Kredit zu bekommen, hält sie sich nicht für verpflichtet, selbst zu sparen.“ (785). Mit anderen Worten: Die Möglichkeit der Staatsschulden verdirbt die Guten Sitten und lässt die Haushaltsdisziplin verkommen. Und der Staat merkt, dass es einfacher ist, sich aus Schulden als aus Steuern zu finanzieren, denn noch eine Steuererhöhung könnte dem Volk die Regierung verleiden.
„Überall in Europa haben die Schulden enorm zugenommen, die heute in allen großen Staaten als drückend empfunden und auf die Dauer vermutlich zum Ruin führen werden.“ (786). Dieser Satz stammt nicht aus einer deutschen Tageszeitung des September 2011, sondern, wie gesagt, aus dem Standardwert von Adam Smith aus dem Jahr 1776. Die Staaten, so Smith, haben nämlich vergessen, sich über Schuldendienst und Tilgung ausreichend Gedanken zu machen. Das ist auch ungemütlich, denn ein Staat kann nur mit Steuereinnahmen seine Kredite zurück zahlen. Diese Einnahmen hat er aber meist (noch) nicht, oder es ist ihm unangenehm, sie von seinen Bürgern einzufordern. Am besten noch geht es mit Steuern, die ohnehin regelmäßig fließen, meint Smith: So hat es sich der britische Staat angewöhnt, sich die erwartete Grund- und Malzsteuer von der Bank von England vorstrecken zu lassen, wofür freilich der Bank auch Zinsen gezahlt werden müssen. In Wahrheit wurden also schon damals Kredite mit Krediten finanziert, ein Verfahren, das rasch dem Schneeballverfahren des „Ponzi Scheme“ ähnelt. „Und da die Steuereingänge häufig nicht ausreichten, um den Kredit zum vereinbarten Termin zu verzinsen und zu tilgen, entstanden Fehlbeträge, zu deren Deckung die Frist verlängert werden musste.“ Weil auch das nicht klappte, haben die Staaten die „ewige Fundierung“ erfunden: „Diese Praxis verschiebt die Entschuldung der Staatseinnahmen von einer festen auf eine unbestimmte Zeitspanne, die wohl niemals zu erreichen sein wird.“ (790). Mit anderen Worten: So weit wie heute war man damals auch schon einmal. Die Folge: Die Staaten ächzen unter ihrer Schuldenlast und können ihre Aufgaben nicht mehr erfüllen. „Die Politik der öffentlichen Verschuldung hat nach und nach jeden Staat geschwächt, der sich ihrer bedient hat, und wie es scheint, haben die italienischen Republiken damit begonnen.“ (802) Was Genua und Venedig im 16. Jahrhundert konnten, kann ich auch, wird sich Silvio Berlusconi gedacht haben, dem es bekanntlich an Selbstbewusstsein nicht mangelt.
So läuft denn alles auf das Verderben zu, will sagen den Bankrott: „Dort, wo die öffentlichen Schuld einmal eine bestimmte Höhe überschritten hat, ist es meines Wissens kaum gelungen, sie auf gerechte Weise und vollständig zurück zu zahlen. Sofern es überhaupt gelang, die Staatsfinanzen wieder einigermaßen in Ordnung zu bringen, bediente man sich stets des Bankrotts, den man bisweilen auch unverhohlen zugegeben hat und selbst dort, wo häufig Rückzahlungen nominal geleistet wurden, blieb es in Wirklichkeit ein echter Bankrott.“ (803) Diesen Satz von Adam Smith, geronnenes Erfahrungswissen aus dem 18. Jahrhundert, sollten die Rettungsparlamentarier im deutschen Bundestag besonders genau lesen, bevor sie entscheiden, wie sie Ende des Monats über den ESM abstimmen.
Besonders schändlich findet Adam Smith, dass die überschuldeten Staaten ihren Bankrott mit allerlei Tricks zu verschleiern suchen. Besonders beliebt sind alle möglichen Methoden der Münzverschlechterung (man mischt billigeres Metall unter, Joachim Starbatty hat darüber ausführlich geschrieben), die sehr in Mode war (804ff.). „Sieht sich ein Staat nämlich gezwungen, seine Zahlungsunfähigkeit anzumelden, so ist, wie im privaten Geschäftsleben, ein ehrlich und offen zugestandener Bankrott für den Schuldner oft weniger entehrend und schadet dem Gläubiger selbst am wenigsten. Ganz sicher wahrt der Staat dann nicht sein Ansehen, wenn er, um der Schande eines echten Bankrotts zu entgehen, auf Gaunertricks zurück greift, die nur allzu leicht zu durchschauen sind und zugleich höchst verheerende Folgen haben.“
Geben wir das letzte Wort zur politökonomischen Logik der Staatsschulden (und warum sie bis heute in schlechter Übung geblieben sind) an Adam Smith’s Landsmann und Vorbild David Hume: „Ein Minister ist stark versucht, eine solche Methode anzuwenden (sc. Schulden zu machen), denn sie ermöglicht ihm, während seiner Regierung eine gute Figur zu machen, ohne die Menschen mit Steuern zu überlasten oder sofort Aufschreie gegen seine Person hervorzurufen. Die Praxis der Verschuldung wird daher in jeder Regierung fast unfehlbar missbraucht.“
Anmerkung: Die Seitenzahlen beziehen sich auf die deutsche Übersetzung des Wealth of Nations von Horst Claus Recktenwald. München 1978.
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Krieg und Schulden hängen also zusammen. Nicht, daß da einmal umgekehrt ein Schuh daraus wird. Des Euros Rettung mag also tatsächlich eine Frage von Krieg oder Frieden sein. Zur Zeit schafft die Rettung des Euros reichlich Unfrieden. Hoffen wir, daß kein Krieg daraus führt. Die Rechnung „Euro um jeden Preis“ geht dabei sicher ganz genauso wenig auf wie einst die des Krieges um jeden Preis oder eine Rechnung, die Frieden um jeden Preis haben will. Wer so total (und totalitär) Propaganda führt, wird scheitern. Eine Politik der verbrannten Erde zugunsten des Euros kann jedenfalls nicht das sein, was gut ist. Und wenn das Bundesverfassungsgericht bereits die Währungsunion zum entscheidenden Rahmen bestimmt – und nicht das Grundgesetz, dann sollte klar sein wie total der Euro zum alles bestimmenden Leitwert der Politik geworden ist.