Gastbeitrag
Arbeitskräftemobilität in der Eurozone

Zu den wesentlichen Symptomen der Krisenlagen im Eurogebiet gehört das Auseinanderlaufen der Trends an den Arbeitsmärkten. In den stark verschuldeten GIPS-Ländern, also den südlichen Staaten und Irland, ist die Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren rasant gestiegen. So verzeichnet Spanien aktuell mit 21,2% (August 2011, Eurostat) sowie auch für das Jahr 2010 (mit 20%) die weitaus höchste Arbeitslosenquote in der EU. Auch in Portugal, Irland und Griechenland liegen die Quoten (mit zuletzt 12,3%, 14,6% und 16,7%) auf überdurchschnittlich hohem Niveau. Im Gegensatz dazu befinden sich die Arbeitsmärkte in anderen Teilen des Eurogebietes in besserer Verfassung. Neben Österreich und den Niederlanden gilt das vor allem auch für Deutschland. Hier ist die Arbeitslosigkeit in den letzten beiden Jahren sogar gesunken und befindet sich derzeit (August 6,0%) auf dem tiefsten Stand seit 1991. In einigen Branchen herrscht sogar Mangel an Fachkräften.

In dieser Lage könnte die Mobilität von Arbeitskräften als Ausgleichsventil dienen. Eine Abwanderung aus der Peripherie könnte den dort von der Anpassungskrise betroffenen Personen andernorts neue Beschäftigungsperspektiven eröffnen, die in ihrer Heimat auf absehbare Zeit nur schwer zu finden sein werden. Gerade im Eurogebiet wäre Binnenwanderung hilfreich, weil hier flexible Wechselkurse als Instrument zum Ausgleich unterschiedlicher Pfade preislicher Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften fehlen und zudem die Arbeitsmärkte weithin, insbesondere auch in Spanien und Griechenland, stark reguliert und wenig flexibel sind.

Freilich gilt die Wanderungsbereitschaft von Arbeitskräften zumindest innerhalb der etablierten EU-Mitgliedsländer als gering. Die großen Unterschiede bei den nationalen Arbeitslosenraten scheinen dies zu bestätigen. Bei näherer Betrachtung erkennt man jedoch, dass sich die Wanderungsmuster durchaus bereits verändern. Bislang gilt das zwar vor allem für Wanderungen zwischen dem Eurogebiet und den mittelosteuropäischen EU-Mitgliedsländern sowie Drittstaaten. Aber auch bei der Binnenwanderung im Eurogebiet zeichnet sich mehr Bewegung ab.

Vor allem in Spanien und Irland haben die Wanderungsströme bereits reagiert. Beide Länder waren in den Vorkrisenjahren ausgesprochene Magnete für Arbeitskräfte vor allem aus Nicht-EU-Ländern und aus Mittelosteuropa. Der Zustrom machte Spanien während dieser Zeit zum zweitgrößten Einwanderungsland in der OECD nach den USA. Und Irland erlebte relativ zur Bevölkerung die höchste Zuwanderung in Europa. Dies reflektiert die damals hohe wirtschaftliche Dynamik in der Peripherie des Eurogebietes. Die GIPS-Länder profitierten in den Jahren vor und nach Gründung der Währungsunion bzw. ihrem Beitritt zu der Union von niedrigen Zinsen und hohen Kapitalzuflüssen. Der dadurch begünstigte Boom vor allem in arbeitsintensiven Branchen, wie dem Baugewerbe, dem Tourismus und anderen Dienstleistungssparten, sorgte für lebhafte Arbeitsnachfrage.

Mit dem jähen Ende dieses Booms im Gefolge der jüngsten Krisen und dem steilen Anstieg der Arbeitslosigkeit hat die Peripherie für Wanderungswillige offenkundig viel Attraktivität verloren. Die Nettozuwanderung ist eingebrochen. Seit 2008 wandern deutlich mehr Menschen aus als zuvor, während die Zahl der Zuzüge tief gefallen ist. In Spanien etwa sank der Zuwanderungsüberschuss von gut 700.000 im Jahr 2007 auf nur noch 63.000 im vergangenen Jahr. In Irland war der Wanderungssaldo 2009 erstmals seit 1995 wieder negativ. In Portugal und Griechenland waren die Auswirkungen weniger stark ausgeprägt, aber ebenfalls existent.

Die Trendwende weg von den vormals hohen Wanderungsüberschüssen nimmt in der Peripherie zumindest begrenzt Druck von den Arbeitsmärkten. Ohne diese Reaktion wären die Ungleichgewichte dort noch größer. Nach einer vereinfachten Modellrechnung (u.a. wird angenommen, dass alle Erwerbspersonen, die ohne die Trendwende zusätzlich an den Märkten wären, arbeitslos sind) läge die Arbeitslosenquote 2010 in Irland schätzungsweise um 3,5%-Punkte (bzw. 26%) und in Spanien um 1,7%-Punkte (8%) höher.

Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit und der weiterhin prekären Lage gerade in arbeitsintensiven Branchen dürften die jüngsten Trends verstärkter Ab- und verminderter Zuwanderung anhalten. Dabei ist es durchaus wahrscheinlich, dass mit zunehmender Dauer der schwierigen und wohl langwierigen Anpassungsphase in den GIPS-Ländern zunehmend auch Bürger dieser Länder abwandern. Darauf deuten etwa Berichte von Arbeitsmarktbehörden und Umfrageergebnisse hin.

Vor allem junge Gutqualifizierte stellen in der EU ein großes Potential für Binnenwanderungen von Arbeitskräften dar. Denn gerade die Jugendarbeitslosigkeit ist in der Euro-Peripherie gravierend. Dabei haben junge Menschen dort inzwischen im Durchschnitt höhere Bildungsabschlüsse erreicht als jede frühere Generation. Sie verfügen über bessere Fremdsprachenkenntnisse und mehr Auslandserfahrung. Arbeit im Ausland bietet vielen Jungen daher Berufs- und Weiterbildungschancen, die sie in der Heimat zumindest temporär nicht hätten.

Doch wohin zieht es europäische Arbeitskräfte? Deutschland galt in den letzten Jahren als nicht besonders attraktiv für qualifizierte Zuwanderer. Steuern und Abgaben sind hierzulande höher als in beliebten Zielländern wie Großbritannien, USA, Kanada und Australien. Das Lohnniveau ist deutlich geringer und bürokratische Hürden sind oft noch hoch. Die 60 reglementierten Berufe vom Altenpfleger bis zum Zweiradmechaniker, in denen Abschlüsse durch eine Behörde oder einen Berufsverband anerkannt werden müssen, sind nur hier ein Beispiel. Die größte Barriere bildet aber die Sprache.

Dessen ungeachtet dürfte Deutschland angesichts der zumindest derzeit noch robusten Lage am Arbeitsmarkt und weniger günstigen Aussichten in anderen beliebten Zielländern wie Großbritannien für Zuwanderer aus der Euro-Peripherie wieder interessanter werden. Besondere Chancen bestehen in Deutschland für qualifizierte Arbeitskräfte. Berechnungen der Bundesagentur für Arbeit zufolge scheiden bereits in diesem Jahrzehnt hierzulande 1,3 Millionen Akademiker altersbedingt aus dem Erwerbsleben aus. In der nächsten Dekade werden es weitere 1,8 Millionen sein. Hinzu kommt ein Mehrbedarf an Qualifizierten infolge des anhaltenden Strukturwandels hin zur Hightech- und Wissensgesellschaft. Vor allem Ingenieure, IT-Spezialisten und Ärzte, aber auch soziale Dienstleister wie Pflegepersonal werden schon heute gesucht und dürften auch längerfristig stark gefragt bleiben.

Diese Fakten sollten sich auch in der deutschen Wanderungsbilanz niederschlagen. Tatsächlich gibt es bereits einen entsprechenden Bruch jüngerer Trends. Während 2007 und 2008 zusammen 68.600 Personen mehr aus Deutschland abwanderten als zuzogen, meldet das Statistische Bundesamt für das vergangene Jahr erstmals seit 2003 wieder einen deutlichen Wanderungsüberschuss von rund 130.000 Personen. Mit 1,6 Menschen pro Tausend der Bevölkerung wanderten aber immer noch kaum mehr Menschen ein als in den Krisenländern Spanien (1,4) und Griechenland (1,3).

Stehen wir, wie in der Zeit des sprichwörtlichen deutschen „Wirtschaftswunders“, vor einem erneuten hunderttausendfachen Zuzug aus Südeuropa? Wohl eher nicht, wenn man gängige Erklärungsvariable wie Lohndifferenzen und Unterschiede in den Arbeitslosenquoten zugrunde legt. Jedenfalls deuten Projektionen auf Basis einer entsprechenden Regressionsanalyse auf eine positive, wenngleich eher moderate Entwicklung der Zuwanderung hin. Demnach könnten in den kommenden Jahren vor allem Griechen, aber auch Iren und Spanier verstärkt nach Deutschland zuwandern. In Anbetracht des zunehmenden Fachkräftemangels wären für die deutsche Wirtschaft positive Impulse von einer steigenden Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte zu erwarten.

Gerade das Problem fehlender Fachkräfte kann Binnenwanderung im Euroraum aber nur begrenzt lösen, zumal gut qualifizierter Nachwuchs demographisch bedingt mittelfristig in ganz Europa knapp wird. Deswegen bedarf es schon heute dringend einer Verbesserung der Bildungs- und Beschäftigungschancen sowie verbesserter Zuwanderungsbedingungen für Fachkräfte aus Drittländern, um den Standort Deutschland für Unternehmen wie für Fachkräfte nachhaltig attraktiv zu gestalten.

Literatur:  Dieter Bräuninger und Christine Majowski: Arbeitskräftemobilität in der Eurozone. EU-Monitor 85. Frankfurt 2011

Hinweis: Die Ko-Autorin Christine Majowski ist Studierende im Masterstudium VWL an der Universität zu Köln.

Dieter Bräuninger und Christine Majowski
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