Junge Ordnungsökonomik
Die Lissabon Strategie
Menetekel der Europäischen Wirtschaftspolitik

Im Lichte der aktuellen Schuldenkrise wirkt die Erwähnung der Lissabon Strategie auf den ersten Blick wie ein Griff in die historische Mottenkiste. Doch der Schein trügt, die Lissabon Strategie stellt eine Warnung dar, welche äußerst ernst genommen werden sollte. Eine schlüssige Auswertung der Strategie kann dabei helfen, Europa 2020 als verhängnisvollen Irrweg zu erkennen. Die hier vorgestellten Ergebnisse stammen aus dem Artikel „Evaluating the Lisbon Strategy“.

Im Jahre 2000 von der EU auf den Weg gebracht, verfolgte die Strategie das ambitionierte Ziel, Europa zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt zu machen. Dieses abstrakte Ziel wurde von der EU Kommission in Zielvorgaben für spezifische Indikatoren übersetzt (z. B. 3 % Bruttoinlandsausgaben für FuE). Aus einer schwindelerregenden Vielzahl von Indikatoren kristallisierten sich letztlich vierzehn Schlüsselindikatoren (sog. „kurze Liste“) heraus, welche die Bereiche Innovation und Forschung, Beschäftigung, Wirtschaftsreform (Binnenmarkt), sozialer Zusammenhalt sowie Umwelt umfassten (die SWP-Kriterien können noch hinzugezählt werden).

Es soll an dieser Stelle nicht auf die fragwürdige Qualität einzelner Indikatoren eingegangen werden. Vielmehr gilt es, drei Aspekte herauszustellen. Erstens: Die von der EU angewandte Definition von Wettbewerbsfähigkeit war äußerst unscharf und eigenwillig. Zweitens: Konkrete Ziele wurden nur für die Hälfte aller Indikatoren festgelegt. Bei der Zielsetzung blieb vor allem auch die Heterogenität der Mitgliedsstaaten unberücksichtigt (selbst nach der Osterweiterung). Drittens: Ein Bewertungsmaßstab für Erfolg und Misserfolg der Strategie wurde nie eingeführt.

Bewertungsansatz – Ein Scoring-Modell

Unter Berücksichtigung dieser Voraussetzungen sowie der enormen Komplexität der Strategie vermag es wenig zu überraschen, dass eine überzeugende Bewertung der Strategie bis heute ausgebleiben ist. Bewertungsversuche wurden u. a. vom WEF, der EZB sowie von einigen Think Tanks (z. B. CEP) unternommen. Während die Bewertungen sich grundsätzlich an der EU-Definition von Wettbewerbsfähigkeit (der „kurzen Liste“) orientierten, weisen sie signifikante Unterschiede in der Berechnung und vor allem in der Gewichtung der jeweiligen Bereiche auf.

Ergebnis der Bewertungen waren Ranglisten der EU Mitgliedsstaaten. Während diese Ranglisten Aufschlüsse zur relativen Wettbewerbsfähigkeit einzelner Länder ermöglichen, bleibt die Aussagekraft in Bezug auf den Erfolg der Lissabon Strategie gering. Ein Vergleich mit externen Benchmarks (USA, Ostasien) lässt keinen Zweifel daran, dass Europa eindeutig nicht zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt geworden ist. Diese Erkenntnis ist allerdings unzureichend, um der schöngefärbten Auswertung der Kommission das Wasser abzugraben. Wie ein Fußballtrainer, welcher im Abstiegskampf eine weitere Niederlage erlitten hat und um seinen Job bangt, erkannte die Kommission zwar an, dass die Ziele verfehlt wurden, betonte aber gleichzeitig, dass es auch viel Licht und eine erfreuliche Entwicklung gegeben habe.

Mit Hilfe eines Scoring-Modells habe ich versucht, die identifizierten Schwachstellen zu beheben oder wenigstens auszubessern. Im ersten Schritt galt es, die Definition von Wettbewerbsfähigkeit, welche sich in der Gewichtung der einzelnen Bereiche ausdrückt, festzulegen. Dabei ging es nicht darum, eine ideale Definition von Wettbewerbsfähigkeit zu finden, sondern vielmehr darum, die tatsächliche Gewichtung der Lissabon Strategie bestmöglich zu erfassen. Auf Grundlage einer umfangreichen Untersuchung der relevanten Dokumente erscheint folgende Gewichtung sinnvoll:

Gewichtung
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Im zweiten Schritt galt es, passende Indikatoren auszuwählen. Im Kontext der Lissabon Strategie, gibt es hier an der kurzen Liste (und Eurostat) kein Vorbeikommen. Um die Berechnung möglichst transparent zu halten, sollte die Anzahl der Indikatoren strikt begrenzt bleiben. Daher galt es nur wenige punktuelle Ergänzungen vorzunehmen. Neben der prozentualen Staatsverschuldung habe ich den „Doing Business Rank“ sowie die „Broadband Penetration Rate“ hinzugefügt (diese wurden u. a. auch vom CEP und dem WEF verwendet).

Wichtiger als die Auswahl einzelner Indikatoren ist deren Kalibrierung. Da die EU nur für die Hälfte aller Indikatoren Ziele definiert hatte, war es notwendig, die restlichen Ziele nachträglich zu bestimmen. In Übereinstimmung mit dem Ziel zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt aufzusteigen, wurden die USA und Japan als Benchmark verwendet (soweit hierfür Daten bei Eurostat verfügbar waren). Um nicht nur ein Ranking relativer Wettbewerbsfähigkeit zu erstellen, muss die Leistung anhand eines Bewertungsmaßstab übersetzt („qualifiziert“) werden. Erreichen eines Zieles kann hierbei sicherlich als „positiv“ bewertet werden. Auf der verwendeten Bewertungsskala (von +5.0 bis -5.0) entspricht dies einer Bewertung von 1. Abhängig vom Grad der Über- bzw. Untererfüllung gibt es eine entsprechend höhere bzw. niedrigere Punktzahl.

Um die Heterogenität der Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen, habe ich zusätzlich die Entwicklung im Scoring-Modell berücksichtigt. Hierbei wurden ebenfalls die USA und Japan als Benchmark verwendet (bzw. die drei EU Staaten mit dem besten Indikatorwert im Jahre 2000). Hier habe ich das Erreichen des Benchmarks mit Null bewertet (auf derselben Bewertungsskala), da die bereits wettbewerbsfähigsten Länder deutlich weniger Spielraum für Verbesserungen haben. Mitgliedsstaaten, welche von einem relativ niedrigen Niveau ins Rennen gegangen waren (für welche die EU Ziele unrealistisch waren), können so bei positiver Entwicklung auch ein positives Ergebnis erzielen.

Die Bewertung der Leistung eines Mitgliedsstaates für einen einzelnen Indikator ergibt sich aus der Addition der zwei Bewertungen („Level“ und „Progress“). Um die Entwicklung nicht unangemessen stark ins Gewicht fallen zu lassen, wurde diese mit 40 % gewichtet. Die Bewertung der Wettbewerbsfähigkeit eines Mitgliedstaates ergibt sich aus der Aggregation aller Bereiche – hier wird die oben abgebildete Gewichtung verwendet. Bei der Aggregation wird die Skala verengt. Ein Mitgliedsstaat, welcher alle Ziele erreicht hat und nach der Aggregation eine Bewertung von 1.0 aufweist, kann nicht mehr nur mit „positiv“ bewertet werden, sonder hat es sich quasi „verdient“ als „exzellent“ bezeichnet zu werden.

Die Bewertung der Lissabon Strategie ergibt sich aus der ungewichteten Aggregation der Leistung aller Mitgliedsstaaten. Wieder wird die Skala entsprechend eingeengt. Um die Bewertung der Kommission zu rechtfertigen, wäre eine Bewertung zwischen 0.15 und -0.15 ausreichend.

Die folgende Darstellung fasst das Scoring-Modell zusammen:

Scoring
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Die Kalibrierung ist bewusst vorsichtig gewählt. Selbst Fans der Lissabon Strategie sollte es schwerfallen zu behaupten, die Strategie würde hier einer besonders strengen oder gar böswilligen Bewertung unterworfen.

Auswertung – Schwache Wettbewerbsfähigkeit

Die folgende Tabelle zeigt das Ergebnis:

Ergebnis
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Ohne auf Einzelheiten einzugehen, lässt sich eindeutig festzustellen, dass das Ergebnis der Lissabon Strategie tief im negativen Bereich liegt. Europa ist nach wie vor weit davon entfernt, zum wettbewerbsfähigsten Wirtschaftsraum der Welt aufzusteigen. Nur wenige Mitgliedsstaaten können sich mit Japan (1.53) und den USA (0.79) messen. Über ein Drittel der Mitgliedsstaaten erhielten eine sehr schlechte Bewertung, wobei fünf Länder als „Villain“ negativ herausstechen. Signifikante und umfangreiche Defizite in der Wettbewerbsfähigkeit sind offenkundig.
Ein differenzierter Blick auf die Bewertung für „Progress“ und „Level“ zeigt überdies, dass die positive Entwicklung die insgesamt schlechte Wettbewerbsfähigkeit bei weitem nicht kompensieren kann. Würde die Entwicklung ausgeklammert, wäre die Lissabon Strategie (gemessen an Ihren Zielen) ein eklatanter Fehlschlag.

Level vs. Progress
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Während einige der neuen Mitgliedsstaaten eine sehr erfreuliche Entwicklung aufweisen, haben viele neue und auch die südeuropäischen Mitgliedsstaaten eher an Boden verloren. Insgesamt bleibt die Wettbewerbsfähigkeit in Europa also schwach und heterogen.

Aktuelle Entwicklungen – Europa 2020

Die hier (stark verkürzt) dargestellte Auswertung der Lissabon Strategie würde es nahelegen, den gesamten Ansatz fundamental zu hinterfragen. Hierbei könnte das Ziel, die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit, angesichts der offenkundigen Schwächen sicherlich auf der Agenda belassen werden. Wenn man allerdings Europa 2020 betrachtet, besteht kein Zweifel daran, dass mögliche Lehren aus der Lissabon Strategie nicht beachtet wurden. Der von der Kommission durchgeführte „öffentliche Konsultationsprozess“ verdient diesen Namen nicht. Der bereits vor der Veröffentlichung der offiziellen Auswertung der Lissabon Strategie erstellte Entwurf der Kommission wurde in nahezu unveränderter Form verabschiedet.

Mit Europa 2020 tritt die Wettbewerbsfähigkeit in den Hintergrund. Laut Kommission skizziert Europa 2020 eine „Vision der europäischen sozialen Marktwirtschaft des 21. Jahrhunderts“. Während es bei der Lissabon Strategie offensichtlich war, dass die Mitgliedsstaaten unterschiedliche Auffassungen von Wettbewerbsfähigkeit hatten, soll nun also eine gemeinsame Vision der sozialen Marktwirtschaft angestrebt werden. Es bedarf keiner Erwähnung, dass eine solche gemeinsame Vision nicht existiert. Zu heterogen sind die Sozialsysteme, zu unterschiedlich die Präferenzen zwischen den Mitgliedsstaaten. Es ist bezeichnend, dass sich Europa 20202 aus denselben Bereichen zusammensetzt wie die Lissabon Strategie. Auch die Mehrzahl der Ziele und Indikatoren wurden (oft unverändert) beibehalten. Europa 2020 kann somit als ein neues Etikett betrachtet werden. Während diese Betrachtung nicht unberechtigt ist, lässt Sie unberücksichtigt, dass sich die Gewichtung der Bereiche deutlich verschiebt. Den Bereichen sozialer Zusammenhalt und Umwelt wird unter Europa 2020 deutlich mehr Bedeutung beigemessen, was als weiteres Indiz dafür gelten darf, dass die Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit keine Priorität mehr hat.

Insgesamt erscheint die Zielsetzung von Europa 2020 fragwürdig. Als noch verhängnisvoller ist allerdings das ungebrochene Vertrauen in die zentrale Steuerung Europäischer Wirtschaftpolitik einzustufen. Im Vergleich zur Lissabon Strategie bedeutet Europa 2020 eine Kompetenzerweiterung der EU. Zukünftig hat die Kommission die Möglichkeit, bei nicht fristgerechter Umsetzung von Zielvorgaben und Handlungsempfehlungen durch Mitgliedsstaaten politische Warnungen auszusprechen. Der nächste (bereits diskutierte) Schritt wäre dann Anreize und Sanktionen.

Begleitend zu den quantitativen Zielen, beinhaltet Europa 2020 noch sieben „Leitinitiativen“. Diese sind nichts anderes als umfangreiche Maßnahmenbündel, welche unter Federführung der Kommission in den Mitgliedstaaten umgesetzt werden sollen (durch EU-weite Vorgaben und Finanzierung). Durch dieses Vorgehen wird das Subsidiaritätsprinzip langsam aber stetig ausgehöhlt. Dies ist als besonders negativ einzustufen, wenn man bedenkt, dass die Implementierung der Lissabon Strategie vor allem durch geringe Transparenz und mangelnde Berücksichtigung lokaler Gegebenheiten bestimmt wurde, nicht aber von fehlenden Kompetenzen in Brüssel.

Fazit

Ein Ausbau zentraler Planung und Steuerung mit der Zielsetzung eine Vision der Europäischen sozialen Marktwirtschaft zu realisieren, sind als Grundlage für eine zukünftige Europäische Wirtschaftspolitik nicht akzeptabel. Der Mehrwert von Europa 2020 ist nicht ersichtlich. Europa 2020 verspricht nicht nur ähnlich erfolglos zu werden wie die Lissabon Strategie, auch besteht die Gefahr, dass die Vision der Kommission von einer Europäischen sozialen Marktwirtschaft die Wettbewerbsfähigkeit nachhaltig schwächen könnte.

Im Zentrum Europäischer Wirtschaftspolitik sollte es stehen, einen Ordnungsrahmen zu schaffen, welcher den Mitgliedsstaaten ermöglicht, Ihre Wettbewerbsfähigkeit selbstständig zu verbessern. Die Präferenzen der Mitgliedsstaaten müssen berücksichtigt und das Subsidiaritätsprinzip respektiert werden. Hierbei kann die EU eine wichtige, aber beschränkte Rolle spielen. Es wird Zeit zu erkennen, dass Europa 2020 ein Irrweg ist und sich intensiv mit der Suche nach Alternativen zu beschäftigen. Jetzt, nicht erst 2020.

2 Antworten auf „Junge Ordnungsökonomik
Die Lissabon Strategie
Menetekel der Europäischen Wirtschaftspolitik

  1. Italien gehört nach der Analyse von Oliver Treidler zu den Absteigern im Wettbewerb um die Wettbewerbsfähigkeit. Das erschwert die gleichzeitige Realisierung von Wachstum und Haushaltsausgleich. Dabei sind die Probleme noch größer als der Blick auf die offizielle BIP-Statistik vermuten lässt. Italien rechnet in das offiziell ausgewiesene BIP gut 17% Schattenwirtschaft ein. Das senkt die Schuldenquote auf 119% (2010) bzw. 120%(2011). Bezieht man die Staatsschulden auf das besteuerbare BIP, so erhält man für 2010 eine Schuldenquote von 143% und für 2011 von ca. 145%. Die „Sparmaßnahmen“ der Regierung Monti bestehen zum großen Teil aus Steuererhöhungen, die nach offiziellen Angaben die Steuerquote bis 2013 auf 45,5% des BIP treiben werden. Italienische Ökonomen rechnen aber vor, dass die effektive, auf das besteuerbare BIP bezogene Quote, auf mehr als 54% steigen wird (NZZ vom 20.12.2011). Das fördert die Schattenwirtschaft, aber nicht das Wachstum. Von Italien soll nach Thomas Mayer (Deutsche Bank) das Schicksal des Euro abhängen.

  2. Eine verdienstvolle quantitative Analyse. Zahlen können die
    wirtschaftspolitische Lage viel deutlicher erklären als die
    blumigen Reden der handelnden Politiker. Das Ergebnis: erschreckend.
    Dennoch wird trotz besserer Einsicht wohl niemand an den Schalthebeln der Macht den Mut haben, den zum Verlust unseres Wohlstands führenden Weg zu verlassen.

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