Immer öfter tauchen Studien auf, die wirtschaftspolitische Entscheidungen oder Programme anhand der Reaktion von Börsenkursen mit Hilfe sog. Event Studies bewerten wollen. So werden beispielsweise regionale Freihandelsabkommen (Moser & Rose: Hiring the Stock Market as an Advisor; deutsche Version), Fusionskontrollentscheidungen (bspw. Duso et al. 2011) oder Regulierungsregimes (Dnes et al. 1998) anhand der Börsenreaktion bewertet. Der vorliegende Beitrag mahnt allerdings zur Skepsis gegenüber Versuchen, die Qualität von Wirtschaftspolitik anhand von Börsenkursen zu messen.
Was sind Event Studies?
Eine Event Study ist eine statistische Methode, welche den Einfluss bestimmter Ereignisse (z. B. Ankündigungen von unternehmerischen Entscheidungen, Fusionen, wirtschaftspolitische Maßnahmen, Regulierungen u.v.m.) auf die Preise von börsennotierten Wertpapieren (meist Aktienkurse) quantitativ schätzt. Dabei besteht die grundsätzliche technische Herausforderung in der sauberen Unterscheidung des ereignisspezifischen Effekts auf die Wertpapierpreise (sog. abnormal returns) von anderen, allgemeineren Effekten (Corrado 2011). Im vorliegenden Beitrag geht es mir allerdings nicht um die technischen, ökonometrischen Aspekte von Event Studies (siehe dazu den jüngsten Übersichtsartikel von Corrado 2011), sondern um die Interpretation der Ergebnisse von Event Studies bzw. um die wirtschaftspolitischen Schlussfolgerungen aus ihnen. In dieser Hinsicht sind zwei Arten von Event Studies zu unterscheiden:
- Erstens wissenschaftliche Studien, die herausfinden wollen, wie Ankündigungen in den Medien oder der Politik und Wirtschaft die Aktienkurse beeinflussen. Es geht mithin um die Erforschung der Determinanten der Aktienkursentwicklung. Dies ist das originäre Anwendungsfeld von Event Studies und stellt ein wichtiges und wenig umstrittenes Forschungsgebiet dar.
- Zweitens Studien, die anhand der Reaktion der Aktienmärkte die Qualität oder die Richtigkeit wirtschaftspolitischer Entscheidungen beurteilen wollen. Diese Art von Studien tritt in letzter Zeit vermehrt auf und um diesen Typus von Event Studies geht es auch in dem vorliegenden Beitrag.
Die Logik dieser zweiten Art von Event Studies liegt in zwei aufeinander aufbauenden Annahmen:
- Die Akteure auf Wertpapierbörsen antizipieren die Auswirkungen bestimmter Ereignisse (bspw. Handels-abkommen, Regulierungsmaßnahmen, Fusionskontrollent-scheidungen) auf die zukünftige Profitabilität der an der Börse gehandelten Unternehmen und damit auf den Unternehmenswert korrekt und preisen sie sofort ein. Damit reflektieren die aktuelle Preise bzw. Preisänderungen von börsengehandelten Aktien auch bereits zukünftige Werte.
- Aus so gemessener steigender oder sinkender Profitabilität der gehandelten Unternehmen aufgrund des Ereignisses lassen sich dann in einem zweiten Schritt Rückschlüsse auf die Wohlfahrtseffekte der Ereignisse (bspw. Handelsabkommen, Regulierungsmaßnahme, Fusionskontrollentscheidung) ziehen.
Während die erste Annahme grundsätzlich für alle bewertenden Event Studies inhaltlich identisch ist, unterscheidet sich die Ausgestaltung der zweiten Annahme je nach dem evaluierten Politikfeld. Die erste Annahme beruht dabei jeweils auf der sogenannten ,efficient financial markets hypothesis“˜ (EFMH), d.h. Wertpapierbörsen verarbeiten die Information (welche das Ereignis bereitstellt) vollständig rational und effizient. Die zweite Annahme beruht auf der speziellen ökonomischen Theorie des jeweiligen Anwendungsgebietes und wird nachfolgend anhand von zwei jüngeren Beispielen verdeutlicht:
Beispiel 1: Regionale Handelsabkommen
Führt der Abschluss eines regionalen Freihandelsabkommen zu steigenden Aktienkursen – steigende Profite der gehandelten Unternehmen werden erwartet – so wird dies als Indikator dafür interpretiert, dass das Abkommen zu mehr Handel führt und deswegen die Wohlfahrt steigert. Bleiben hingegen abnormal returns aus oder sind sogar negativ, dann lautet die Interpretation, dass das betreffende Land nicht vom regionalen Handelsabkommen profitiert, möglicherweise weil die Handelsbedingungen für das betreffende Land unvorteilhaft sind.
Beispiel 2: Fusionskontrollentscheidung
Üblicherweise wird davon ausgegangen, dass ein Anstieg der Börsenkurse der fusionierenden Unternehmen nicht eindeutig ist, da die gestiegene Profitabilität entweder auf Marktmacht oder auf Effizienzgewinne zurückzuführen sein kann. Daher liegt das Augenmerk insbesondere auf den Aktienkursen der verbleibenden Wettbewerber der fusionierenden Unternehmen. Ein Anstieg der Kurse der Wettbewerber deutet auf einen antikompetitiven Zusammenschluss (fusionsbedingte Erhöhung des Marktpreises, so dass die Wettbewerber auch profitieren) hin, während ein Absinken der Kurse der Wettbewerber einen prokompetitiven Zusammenschluss (aufgrund von fusionsbedingten Effizienzen sinkt der Marktpreis) signalisiert.
Die Brauchbarkeit von Event Studies als Bewertungsmaßstab wirtschaftspolitischer Entscheidungen hängt damit sensitiv davon ab, dass jeweils beide Annahmen empirisch gehaltvoll und zutreffend sind. Hieran macht sich die Kritik fest (Hopkins & Connor 1992; Reynolds 2008; Budzinski 2011, 2012).
Kritik
Als erstes ist hier auf die stets notwendige Annahme einzugehen, dass Finanzmärkte (hier: Aktienbörsen) effizient und rational sind. Nur wenn Aktienmärkte perfekt funktionieren, alle Akteure auf diesen Märkten perfekt rational (hyper-rational) handeln und vollständige Information vorliegt (oder zumindest keine relevanten Informationen fehlen), nur dann reflektieren Aktienkurse und ihre Änderung den wahren Wert der gehandelten Unternehmensanteile für die Investoren. Wäre das der Fall, dann kann die Aktienmarktreaktion auf die Ereignisse (Verkündung des Zusammenschluss, wettbewerbspolitische Entscheidung) so interpretiert werden, dass sie unverzerrte und superiore Insiderinformationen enthüllt. Bei vollständiger Information und perfekter Rationalität schließt dies zutreffendes Wissen über zukünftige Handelsgewinne oder Wettbewerbseffekte ein.
Das Grundproblem von Event Studies als empirische Evaluationsmethode für wirtschaftspolitische Entscheidungen besteht also darin, dass die Annahme effizienter, perfekter und hyper-rationaler Finanzmärkte empirisch wohl mehr als zweifelhaft ist. Ihre Implausibilität und mangelnder empirischer Gehalt sind in der Finanzmarktökonomik weitgehend anerkannt. Wird diese Grundannahme jedoch verworfen oder zumindest erheblich angezweifelt, so kann auch nicht von einer hinreichenden Zuverlässigkeit der mit Hilfe von Event Studies gewonnenen Evaluationsergebnissen ausgegangen werden.
Selbst wenn man den Finanzmarktakteuren rationales Verhalten und überlegendes Insiderwissen unterstellt, aber nur die Annahme vollständiger Information aufgibt, bereits dann muss hinter der zuverlässigen Prognose zukünftiger Profiteffekte (über die Einpreisung in die aktuellen Kurse) ein Fragezeichen gesetzt werden. Hier entsteht nämlich eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass durch die Investoren antizipierte Effekte (ex ante expected impact) von den tatsächlichen Effekten (actual ex post impact) abweichen, welche sich erst im Zeitablauf manifestieren (Cichello & Lamdin 2006: 232; Reynolds 2008). Je weiter die Annahmen vollständiger Information, perfekter Rationalität und überlegendes Insiderwissen aufgeweicht werden, umso mehr klaffen die Erwartungen der Investoren und die tatsächliche Entwicklung auseinander.
Hält man ein Weltbild mit imperfekter und verzerrte Information sowie höchstens begrenzt rationalen Verhaltens für empirisch gehaltvoll, so wie es beispielsweise die moderne Verhaltensökonomik oder die neue Institutionenökonomik vorschlagen, dann muss man die EFMH zurückweisen. Somit können Event Studies dann nicht mehr als taugliche Evaluationsmethode wirtschaftspolitsicher Entscheidungen gelten.
Zudem ist der triviale aber praxisrelevante Umstand zu nennen, dass alle betroffenen Unternehmen der relevanten Märkte (die potenziellen Wettbewerbsbeschränker ebenso wie ihre unmittelbaren Konkurrenten) börsennotierte Gesellschaften mit einem hinreichenden Handelsvolumen und einer hinreichenden Handelsaktivität ihrer Aktien bzw. jene börsennotierten Unternehmen hinreichend repräsentativ für die gesamte Volkswirtschaft sein müssen.
Doch selbst wenn die Hypothese effizienter Aktienmärkte weitgehend akzeptiert würde, dann müsste immer noch die zweite Annahme, welche die jeweils anwendungsbeispielspezifische Interpretation der abnormalen Kursänderungen liefert, ebenfalls empirisch gehaltvoll sein. Hieran kann sich weitere Kritik festmache:
Beispiel 1: Regionale Handelsabkommen
Ist der Schluss von steigenden Profitabilitätserwartungen (= positive abnormal returns) auf positive Wohlfahrtseffekte wirklich zwingend? Neben wohlfahrtssteigernden Effekten durch mehr Handel aufgrund einer Handelsliberalisierung durch das jeweilige Abkommen ist ebenfalls denkbar, dass das Ausbleiben erwarteter bzw. ,befürchteter“˜ Liberalisierung durch ein Abkommen die Aktienkurse hochtreibt. Wenn durch ein Handelsabkommen im Schatten einer vorgeblichen Liberalisierung protektionistische Renten großer börsennotierter Unternehmen bewahrt (oder gar neu geschaffen) werden, während Freihandelsgewinne erwartungsgemäß eher dezentral anfallen würden, dann könnten steigende Börsenkurse als Reaktion auf das Abkommen durchaus mit Wohlfahrtsverlusten einher gehen.
Beispiel 2: Fusionskontrollentscheidungen
In diesem Beispiel wird in der Literatur vor allem die Ambivalenz der Kursänderungssignale und ihrer Interpretation diskutiert. Die meisten wettbewerbspolitisch relevanten Zusammenschlüsse betreffen Multi-Produkt Konzerne, welche auf einer Vielzahl geographischer und sachlicher Märkte tätig sind. Von diesen Märkten sind für eine Fusionskontrollentscheidung oft nur wenige Märkte relevant, in denen es zu wettbewerbspolitisch bedenklichen Überschneidungen kommt. Diese entscheidungsrelevanten Märkte müssen dann für die Gesamtunternehmen und ihre unmittelbaren Konkurrenten (welche oftmals ebenfalls komplexe, internationale Mischkonzerne darstellen) hinreichend bedeutsam sein, um die Aktienkursreaktion zu dominieren.
Eine Mehrheit der einschlägigen Studien setzt zudem eine weitere problematische Annahme. Um die anormalen Kursänderungen der unmittelbaren Wettbewerber der fusionierenden Unternehmen eindeutig interpretieren zu können, wird davon ausgegangen, dass die ,rule of one price“˜ gilt, mithin es einen einheitlichen Preis im Markt gibt, so dass die Wettbewerber einer antikompetitiven, preissteigernden Fusion von diesem Preisanstieg profitieren und profitabler werden (sog. price umbrella effect). Umgekehrt kann ein effizienzsteigernder Zusammenschluss den Preis senken oder die Outputmenge erhöhen, so dass die unmittelbaren Konkurrenten weniger profitabel werden (und ihre Kurse in Antizipation dessen sinken). Wenn man vom Stand der modernen Industrieökonomik ausgeht, so stellt sich dieser price umbrella effect umfassend freilich nur in einer bestimmten Konstellation ein, nämlich bei horizontalen Fusionen in Cournot-Oligopolen mit weitgehend homogenen Gütern. In den meisten Zusammenschlüssen dürften jedoch vorwiegend differenzierte Produktmärkte mit Preiswettbewerb betroffen sein, in denen der Wettbewerb allerdings anderen Mechanismen und Triebkräften unterworfen ist, sowie horizontale und nicht-horizontale Effekte gemischt auftreten. Die moderne industrieökonomische Oligopoltheorie geht bspw. bei Bertrand-Wettbewerb mit heterogenen Gütern typischerweise eben nicht von einem einheitlichen Marktpreis und einer einheitlichen Wirkung einer Fusion auf alle Wettbewerber aus.
Eine andere Frage wäre jene nach dem empirischen Gehalt der Annahme, die Finanzmarktakteure würden ihre Beurteilung (mindestens implizit) auf der Basis bestimmter industrieökonomischer Modelle bilden. Wenn ein genügend großer Teil der Akteure hingegen glaubt, dass antikompetitive, zu Marktmacht führende Zusammenschlüsse nicht gut sondern schlecht für die Restkonkurrenz sind (unabhängig davon, ob diese Auffassung berechtigt oder unberechtigt ist), dann wird die Interpretation der Signale ebenfalls fragwürdig. Mir ist keine Untersuchung bekannt, die versucht, die Vorstellung der Finanzmarktakteure über Wettbewerbswirkungen von Fusionen empirisch zu ermitteln.
Zusammenfassend ist festzuhalten, dass auch die jeweiligen Annahmen, welche zu einer wirtschaftspolitischen Interpretation der Kursänderungssignale notwendig sind, alles andere als unproblematisch erscheinen. Dies schwächte die Aussagekraft und Eignung von Event Studies zur Bewertung wirtschaftspolitischer Entscheidungen weiter.
Fazit
Insgesamt ist höchste Vorsicht geboten, Event Studies zu Zwecken der Evaluierung wirtschaftspolitischer Entscheidungen heranzuziehen, seien es Handelsabkommen, wettbewerbspolitische Entscheidungen, Regulierungsregimes oder andere. Gegenüber dem Konzept, der Weisheit und Bewertungskraft von „Börsianern“ soweit zu trauen, dass anhand deren Reaktion wirtschaftspolitische Entscheidungen evaluiert und in der Konsequenz möglicherweise sogar ausgerichtet werden, ist starke Skepsis geboten. Dies gilt umso mehr, als hier ein „Machbarkeitsbias“ ins Spiel kommen kann: aufgrund der exzellenten Datenverfügbarkeit bei Börsennotierungen sind Event Studies trotz ihrer ökonometrischen Komplexität im Vergleich zu anderen empirischen Evaluationsmethoden vergleichsweise einfach durchzuführen (Moser & Rose 2011: 1), was sich auch in der großen Anzahl an vorliegenden Event Studien manifestiert. In der Kombination aus relativ einfacher Erstellung und fragwürdiger Validität (als Evaluationsmethode) kann sich ein letztendlich gefährlicher überproportionaler Einfluss solcher Studien auf wirtschaftspolitische Entscheidungsprozesse ergeben. So haben einzelne Wettbewerbsbehörden in jüngster Vergangenheit tatsächlich bereits versucht, Selbstevaluationen mit Hilfe von (zudem oftmals stark simplifizierten) Event Studies zu betreiben – mit dem Vorsatz daran zukünftige Entscheidungen auszurichten. Davor ist meiner Meinung nach dringend zu warnen!
Literatur
Budzinski, Oliver (2011): Impact Evaluation of Merger Decisions, OECD Roundtable on Impact Evaluation of Merger Decisions. DAF/COMP(2011)9 Paris 2011.
Budzinski, Oliver (2012): Empirische Ex-Post Evaluation wettbewerbspolitischer Entscheidungen: Methodische Anmerkungen, in: T. Theurl (Hrsg.): Methodische Grundlagen der empirischen Institutionenökonomik, Berlin: Duncker & Humblot 2012, im Druck. (Diskussionspapierversion).
Cichello, Michael & Lamdin, Douglas J. (2006): Event Studies and the Analysis of Antitrust, International Journal of the Economics of Business, Vol. 13 (2), 229-245.
Corrado, Charles J. (2011): Event Studies: A Methodology Review, Accounting and Finance, Vol. 51, 207-234.
Dnes, Antony W., Kodwani, Devendra G., Seaton, Jonathan S. & Wood, Douglas (1998): The Regulation of the United Kingdom Electricity Industry: An Event Study of Price-Capping Measures, Journal of Regulatory Economics, Vol. 13, 207-225.
Duso, Tomaso, Gugler, Klaus & Yurtoglu, Burcin (2011): How Effective is European Merger Control? European Economic Review, Vol. 55 (7), 980-1006.
Hopkins, Yvette S. & Connor, John M. (1992): A Re-examination of Event Studies Applied to Challenged Horizontal Mergers, Working Paper NE-165.
Moser, Christoph & Rose, Andrew K. (2011): Who Benefits from Regional Trade Agreements? The View from the Stock Market, CEPR Discussion Paper 8566.
Reynolds, Kara M. (2008): Anticipated versus Realized Benefits: Can Event Studies Be Used to Predict the Impact of New Regulations, Eastern Economic Journal, Vol. 34 (3), 310-324.
- Gastbeitrag
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Bewertung der Wirtschaftspolitik durch Event Studies? - 24. Dezember 2011
Lieber Oliver,
vielen Dank für deinen sehr informativen Blogbeitrag. Sehr vielen Fragen in meinem Kopf haben sich nun durch den Beitrag. Das Thema Event Studies hatteb wir nämlich erst vor einigen Monaten in unserem Betrieb. Darüber haben wir sehr viel geredet und recherchiert, du hast den Punkt sehr gut erklärt, vielen Dank!
Liebe Grüße