Ist es nicht schön, daß in den Weihnachtsferien ein wenig Ruhe in der Eurozone eingekehrt ist? Man trifft jedenfalls kaum jemanden, der nicht der hektischen Gipfeldiplomatie überdrüssig wäre. Es gab Zeiten im Jahr 2011, da wollte man Merkel und Sarkozy schon empfehlen, eine provisorische französisch-deutsche Hauptstadt irgendwo in der Mitte zwischen Berlin und Paris (in Bonn vielleicht?) einzurichten, damit nicht jede Woche neue Verabredungen für ein eiliges, bilaterales Krisentreffen notwendig gewesen wären. Wie angenehm ist dagegen die europapolitische Ereignislosigkeit zwischen den Jahren. Leider wird es dabei nicht bleiben.
Da sind zunächst einmal die Beschlüsse des letzten Gipfels im Dezember. Es war und ist zweifellos sinnvoll, daß die Politik sich durch glaubhafte Regeln von Verfassungsrang zu einer nachhaltigen Budgetpolitik verpflichtet. Für alle Länder, bei denen das Kind noch nicht in den Brunnen gefallen ist, und die ihre Haushaltskonsolidierung noch selbst bewältigen können, wäre so eine politische Selbstbindung der Königsweg zur Vermeidung eines weiteren Vertrauensverlustes der Gläubiger. Die Idee, Schuldenbremsen in den Verfassungen der Mitgliedstaaten zu verankern und europäische Sanktionsmechanismen bei Verstößen gegen diese Regeln vorzusehen ist also an und für sich nicht falsch. Den tatsächlichen Gipfelbeschlüssen fehlt es jedoch an jeder Glaubwürdigkeit.
Bereits in der Woche nach dem Dezember-Gipfel wurden ernste völkerrechtliche Zweifel am dort vereinbarten Fiskalpakt laut. Es scheint, wenn man den Juristen glaubt, ein Problem zu geben: Der Europäische Gerichtshof und die Europäische Kommission sollen die verfassungsrechtliche Implementierung und die Einhaltung der nationalstaatlichen Schuldenbremsen überwachen und nötigenfalls Sanktionen durchsetzen. Für diese EU-Organe schlägt aber im Zweifelsfall das aus den EU-Verträgen folgende Recht die zwischenstaatlichen Vereinbarungen des Fiskalpaktes. Ein Defizitsünder könnte also im Ernstfall gegen die aus der zwischenstaatlichen Lösung folgenden Sanktionen klagen und sich stattdessen dem nicht gerade wegen seiner Fähigkeit zur strikten Schuldenkontrolle berühmten, überlieferten Brüsseler Defizitverfahren unterwerfen. Anders gesagt: Den zwischenstaatlichen Vertrag hätte man sich dann auch gleich sparen können.
Als Ökonom weiß ich natürlich nicht, ob die Juristen für dieses Problem vielleicht doch noch eine Lösung finden. Der Beschluß einer weiteren halbgaren, in Details strittigen und alles andere als wasserdichten Gipfelvereinbarung ist jedenfalls nicht geeignet, das Vertrauen in die Fähigkeit der europäischen Finanzpolitik zur konstitutionellen Selbstbindung wieder herzustellen. Die europäische Politik hat im vergangenen Jahrzehnt aus dem Stabilitäts- und Wachstumspakt einen Witz gemacht. Sie hat mit ihren Versuchen der Krisenbewältigung weitere wichtige formale Regeln ignoriert und gebrochen – zur Erinnerung: Staatsanleihenkauf durch die EZB, Bruch der No-Bailout-Klausel, und so weiter. Eine europäische Politik, die den Regelbruch zur Regel macht und die Vertragstreue zunehmend durch die Willkür tagespolitischer Opportunität verdrängt müßte zur Wiederherstellung von Vertrauen deutlich mehr bieten als einen völkerrechtlich wackeligen Gipfelbeschluß.
Aber auch in der Substanz der Beschlüsse gibt es Probleme. Die bisherige Regelung aus Artikel 126 EUV soll umgekehrt, also die Sanktionen gegen Defizitsünder automatisiert werden. Die Kanzlerin hat gerade dies unmittelbar nach dem Gipfel als großen Erfolg verkauft. Im ersten Entwurf, den Ratspräsident Rompuy vorgelegt hat, ist Artikel 7 entscheidend. Danach ist auch im zwischenstaatlichen Verfahren die Kommission Herrin des Verfahrens. Sie setzt es gegen einen von ihr identifizierten Defizitsünder in Gang und formuliert auch budgetpolitische Vorschläge für das betroffene Land. Interessant ist hier ein Detail: Nach Artikel 8 kann jedes am Fiskalpakt beteiligte Land ein Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof gegen ein anderes Land einleiten um zu überprüfen, ob dieses eine formal dem Fiskalpakt genügende Schuldenbremse in seiner Verfassung implementiert hat. Für materielle Verstöße gibt es diese Möglichkeit dagegen nicht – die Kommission hat hier allein die Initiative.
Einen neuen Automatismus gibt es nun dergestalt, daß ein einmal von der Kommission eingeleitetes Verfahren von einer qualifizierten Mehrheit der Länder des Fiskalpaktes gestoppt werden kann. Bisher war es umgekehrt: Ein Mehrheitsbeschluß war nötig, um Sanktionen zu beschließen. Man mag dies für einen Fortschritt halten. Die zentrale Rolle der Kommission bei der Sanktionierung materieller Verstöße ist jedoch höchst problematisch. Die Kommission ist traditionell ein besonders integrationsfreudiges EU-Organ. Das ist kein Wunder, schließlich wachsen mit zunehmender Integration ihre Kompetenzen. Artikel 7 enthält die Vorschrift, daß am Fiskalpakt beteiligte Länder – sofern nicht eine qualifizierte Mehrheit dagegen ist – Vorschläge und Empfehlungen der Kommission unterstützen, die diese abgibt, falls gegen ein Land ein Defizitverfahren eröffnet wird. Es wird aber nicht explizit festgelegt, welche Stoßrichtung genau solche Vorschläge und Empfehlungen haben sollen. Die Länder des Fiskalpaktes werden zwar darauf festgelegt, die schon existierenden Defizitmechanismen des EU-Vertrages zu respektieren. Aber man könnte dann durchaus auch darüber hinaus gehen.
Ist es sinnvoll, der Kommission solche großen Spielräume zu lassen? Es wäre vermutlich besser, dem formalen Halbautomatismus des Artikel 7 auch einen materiellen Automatismus zur Seite zu stellen, also im Detail zu vereinbaren, wie exzessive Defizite im Ernstfall zurückgefahren werden sollten. Man erinnere sich beispielsweise daran, daß in den letzten Jahren gelegentlich, auch in höchsten EU-Kreisen, die Meinung vertreten wurde, daß der eigentliche Grund für hohe Defizite und fehlende Wettbewerbsfähigkeit an der Peripherie in deutschen Exportüberschüssen zu finden sei. Was, wenn sich die Kommission irgendwann einmal solch eine Position in einem Verfahren nach Artikel 7 zueigen macht? Wird man dann eine qualifizierte Mehrheit organisieren und sie stoppen können? Auf der anderen Seite: Wenn wieder einmal die Defizitsünden weit verbreitet sind und die Kommission tatsächlich versuchen sollte, gegen eine Reihe von Ländern gleichzeitig vorzugehen – ist es dann nicht immer noch zu leicht, eine Mehrheit zu organisieren?
Was wir bisher über den Fiskalpakt wissen überzeugt also ganz und gar nicht. Eine vertrauenswürdige, stabile Selbstbindung der nationalen Budgetpolitik in Europa ist das nicht. Folglich werden auch die Gläubiger letztendlich nicht überzeugt sein, daß eine langfristige haushaltspolitische Solidität in Europa etabliert wird. Sollten beim nächsten Gipfel Ende Januar, bei dem über den Vertragsentwurf verhandelt wird, keine wesentlichen Verbesserungen erreicht werden, dann wird die Unsicherheit auf den Märkten für europäische Staatsanleihen nicht verschwinden. Dazu kommen andere Sollbruchstellen. In Italien ist 2013 der nächste Wahltermin; der Wahlkampf wird natürlich früher beginnen. Treffen Wahlkampf und Rezession aufeinander, so wird es für viele Parteien sehr verführerisch sein, der aktuellen Technokratenregierung die Unterstützung aufzukündigen und mit populistischen Ansätzen Stimmen zu jagen. In Griechenland wird es spannend zu sehen, was die Übergangsregierung bis Februar 2012 noch leisten kann und was nach den Wahlen dort geschieht. Kurz und knapp: Die Schuldenkrise in Europa wird uns auch 2012 beschäftigen.
Zum Schluß wage ich noch eine Prognose: Trotz dieser Entwicklung werden wir auch 2012 kein Auseinanderbrechen der Eurozone sehen, lediglich Griechenland wird es vielleicht selbst vorteilhaft finden, mit einer abgewerteten Drachme wieder wettbewerbsfähig zu werden. Irgendwann im Laufe des neuen Jahres wird es Eurobonds geben, oder die EZB wird massiv als lender of last resort auftreten. Eurokraten kennen keinen Rückwärtsgang. Sind sie auf einem falschen europäischen Integrationspfad gelandet, dann lösen sie die entstehenden Probleme stets, indem sie diesen Pfad noch weiter gehen, was wiederum neue und größere Probleme schafft. Aber erst morgen oder übermorgen.
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Der Einschätzung stimme ich voll und ganz überein. Allerdings begebe ich mich bei der Suche nach Problemlösungen innerhalb einer funktionierenden EU und Euro Institution auf die „Mikroebene“. Ich halte es für unabdingbar, trotz organisatorischer Probleme, einen Sanktionsmechanismus zu etablieren, der den Moral Hazard an der Basis packt. Der individuellen Anreize. Ich glaube nicht, daß das Fang den Hut Spiel in Brüssel zu einem Ergebnis führt. Erst wenn die EU-Beamten von Defizitstaaten automatisch ihre Ämter verlieren und ihre Pensionen gekürzt bekommen, werden sie Druck auf ihre nationalen Regierungen machen. Denn bei den Eurokraten gilt nach mir die Sintflut, bzw. so lange ich mein dickes EU-Gehalt in der Tasche habe kann die Welt auch untergehen! Was man derzeit bei den Defizitländern (und dazu zählt auch Deutschland) erlebt sind lediglich Lippenbekenntnisse und schnelles Sparen beim Bürger. Nachhaltige Strukturreformen werden von den Leuten konsequent verweigert die es betrifft, den Beamten!