Noch ein Memorandum. Noch ein Methodenstreit?

Wieder einmal soll die Volkswirtschaftslehre sich ändern. Seit Beginn der Finanzkrise gab es bereits einige Appelle in diese Richtung, jetzt kommt ein weiterer dazu: Ulrich Thielemann, der exponierteste Vertreter der St. Galler Schule der Wirtschaftsethik, hat gemeinsam mit einigen Koautoren ein Memorandum mit dem Titel „Für eine Erneuerung der Ökonomie“ veröffentlicht. So heterogen all die Aufrufe der letzten Jahre waren – einige Gemeinsamkeiten haben sie.

Allgemeines

Schaut man sich die Unterzeichnerliste des Aufrufs von Thielemann, Egan-Krieger und Thieme (im Folgenden kurz TET) an, so fällt auf, daß nur sehr wenige Volkswirte unter den Unterstützern sind. Zwar erfolgt in der Einleitung des Memorandums ein Rekurs auf die Autorität einiger bekannter Ökonomen, aber die Liste der Unterzeichner wird dann doch eindeutig von Geisteswissenschaftlern und Vertretern benachbarter Gesellschaftswissenschaften dominiert. Wie kommt das? Sehen die Ökonomen selbst etwa keinen Bedarf an Veränderungen in ihrer Disziplin?

Diese Schlußfolgerung wäre voreilig. Vielmehr ist es wohl so, daß die meisten Ökonomen ein anderes Bild der Volkswirtschaftslehre haben als das, welches dem TET-Memorandum und seinen Verwandten zugrunde liegt. Die Ökonomik erscheint dort, kurz gesagt, als methodisch eintönige und ideologisch festgefahrene Beschäftigungsmaßnahme für Menschen, die die Konfrontation mit der wirtschaftlichen Realität scheuen. Kein Wunder also, daß vor allem Fachfremde mit einer gewissen Distanz zum Alltag ökonomischer Forschung applaudieren.

Bei der Lektüre volkswirtschaftlicher Fachzeitschriften stößt man heutzutage auf ein Spektrum von Methoden und Forschungsansätzen, das so breit ist wie vermutlich nie zuvor in der Geschichte dieser Disziplin. Man muß nur einmal einen Schritt zurück treten, die Augen aufmachen und die Vielfalt heute publizierter ökonomischer Forschung mit der von 1980 oder auch noch 1990 vergleichen. Man sieht die Verhaltensökonomik, man sieht Labor- und Feldexperimente, man sieht neue Ansätze der institutionellen Ökonomik und vieles mehr. Der aufmerksame Leser volkswirtschaftlicher Fachzeitschriften wird jedenfalls schnell merken, daß die Autoren des TET-Memorandums und anderer Aufrufe die Entwicklung der Volkswirtschaftslehre in der jüngeren Zeit nicht berücksichtigen.

Eine weitere Gemeinsamkeit fast aller Aufrufe für einen Wandel der Ökonomik ist scharfe Kritik am ökonomischen Verhaltensmodell (man kann wohl davon ausgehen, daß auch TET dies meinen, wenn sie vom paradigmatischen Kern des Mainstreams reden). Diese Kritik ist generell weit verbreitet; man kann kaum Montags das Handelsblatt aufschlagen, ohne im Ökonomieteil lesen zu müssen, daß angeblich wieder einmal jemand den homo oeconomicus beerdigt habe, was sich dann aber, wenn man die zugrunde liegenden Originalpapiere liest, immer ziemlich schnell wieder relativiert.

Auch hier fragt man sich, ob die Autoren noch auf dem neuesten Stand sind. Natürlich gibt es immer noch, vor allem theoretische, Papiere, in denen ein sehr altmodischer, allwissender Rationalclown seinen optimalen Konsumpfad für die nächsten fünfzig Jahre plant. Aber ist das wirklich noch Mainstream? In vielen Spezialgebieten der Volkswirtschaftslehre ist der homo oeconomicus, so wie er uns in vielen aktuellen Papieren begegnet, längst gesund geschrumpft. Der übrig geliebene Rest ist die simple, forschungsleitende Annahme, daß Menschen im Zweifelsfall die Entscheidung treffen, die ihnen die höchste Wohlfahrt verspricht. Was über diesen Kern hinausgeht, ist variierbar. Modelle mit unvollständiger Information, kognitiven Kosten der Entscheidungsfindung oder auch mit Berücksichtigung von verzerrten Wahrnehmungen von Parametern sind längst mitten im Mainstream angekommen. Vom Rationalclown, der immer noch als Strohmann in den Argumenten der Kritiker der Volkswirtschaftslehre herumgeistert, bleibt also nur das Eigennutzstreben als harter Kern übrig.

Ökonomen erleben in ihrer täglichen Arbeit ihre Disziplin als ein Feld, das sich seit einigen Jahren sehr schnell entwickelt und neu ausdifferenziert, und das dabei Impulse aus anderen Wissenschaften, wie etwa der Psychologie, bereitwillig aufgreift. Natürlich kann man sich immer noch mehr Pluralität und noch mehr Offenheit wünschen. Aber das Bild, das von den fachfremden Kritikern der Volkswirtschaftslehre heute gezeichnet wird, ist oft nicht mehr als ein durch Jahrzehnte alte Vorurteilen geprägtes Klischee, an dem lediglich das erstaunliche Beharrungsvermögen interessant ist.

Spezielles

Im TET-Memorandum kommt zu den altbekannten Zutaten der Ökonomiekritik noch eine gute Dosis Ideologie hinzu. Thielemann und Koautoren nehmen es der Ökonomik übel, daß sie manchmal zu Ergebnissen kommt, die mit ihren eigenen politischen Präferenzen nicht recht kompatibel sind. Konkret werfen sie der Ökonomik vor, konsistent als Verteidigerin von Markt und Wettbewerb aufzutreten und sich zu wenig Gedanken über Probleme zu machen, die aus einem freien Spiel der Märkte entstehen könnten.

Auch dieses Argument wird für jeden regelmäßigen Leser ökonomischer Fachzeitschriften abwegig erscheinen. Kann man den breiten Strom der Marktversagensökonomik, der sich durch die Geschichte der Volkswirtschaftslehre zieht, übersehen? Kann man übersehen, daß es mitten im Mainstream eine Optimalsteuerliteratur gibt, verantwortet von Emmanuel Saez, einem Träger der renommierten John-Bates-Clark-Medaille, die exorbitant hohe Steuersätze für Höchstverdiener fordert? Kann man übersehen, daß die Nobelpreise der letzten Jahre an Forscher gingen, deren Politikempfehlungen ein sehr, sehr breites wirtschaftspolitisches Spektrum abdecken? Angesichts der zahlreichen wirtschaftspolitischen Kontroversen zwischen Ökonomen ist es rätselhaft, wie man ernsthaft das Fehlen von normativen Debatten in der Ökonomik beklagen kann.

Es würde leichter fallen, das Raunen von der normativen Gleichschaltung der modernen Ökonomik ernst zu nehmen, wenn die Autoren einmal über ihren Schatten springen und entsprechende empirische Evidenz präsentieren würden. Könnten sie etwa eine aktuelle Ausgabe des American Economic Review nehmen und eine gemeinsame normative Orientierung der Beiträge demonstrieren? Ich würde das bezweifeln und wäre sehr überrascht, wenn es gelänge. Ins Auge springt vielmehr die große Heterogenität der Papiere. Wenn sie bemängeln, daß es in der Volkswirtschaftslehre keine Pluralität gibt, so ist man als Ökonom nahe dran zu glauben, daß die Autoren des TET-Memorandums in einem abgelegenen Winkel leben, der von den Wissenschaftsverlagen mit mehreren Jahrzehnten Verzögerung beliefert wird.

Zum ideologisch motivierten Unbehagen gesellt sich im TET-Memorandum die Forderung, daß von politischer Seite und durch finanziellen Druck ein inhaltlicher Einfluß auf die weitere Entwicklung der Volkswirtschaftslehre genommen werden soll. Es ist erstaunlich, daß ausgerechnet Ethiker bereit sind, die Freiheit der Wissenschaft zu opfern, um eine mit ihren politischen Vorurteilen konforme Wissenschaft zu erpressen. Es spricht aber auch für sich selbst und bedarf wohl keiner weiteren Kommentierung.

Fazit

Gegen den Wunsch, daß die Volkswirtschaftslehre offener für neue Ansätze und Methoden werden möge, ist nichts einzuwenden. Die Entwicklung der vergangenen Jahrzehnte spricht dafür, daß dies ganz natürlich so kommen wird. Denn das Forschungsprogramm der reinen Samuelsonschen Neoklassik hat nicht mehr viele interessante Fragen zu beantworten. Die Volkswirtschaftslehre befindet sich derzeit daher in einer der spannendsten Phasen ihrer Geschichte. Was vor zwanzig Jahren noch als unangefochtener Mainstream gelten konnte, verliert zunehmend an Bedeutung und wird durch neue Methoden und Forschungsansätze verdrängt.

Die Ökonomik ist in Bewegung wie lange nicht mehr. Es mag dennoch leicht passieren, daß man gerade als fachfremder Beobachter die Veränderungen der letzten Jahre nicht recht wahrnimmt, da sie sich langsam und schrittweise entwickeln. Wenn man sich allerdings zu einer Fundamentalkritik der Volkswirtschaftslehre entschließt, dann sollte man sich zuvor auf den neuesten Stand bringen. Das haben die Autoren des TET-Memorandums offenbar nicht getan. Sie kritisieren, wenn überhaupt, halbwegs zutreffend die Ökonomik, wie man sie noch 1980 kannte. Über die Ökonomik des Jahres 2012 hingegen sagen sie nichts.

3 Antworten auf „Noch ein Memorandum. Noch ein Methodenstreit?“

  1. „Methodische“ Offenheit ist nicht paradigmatische Offenheit. Es mag innerhalb der etablierten Ökonomik hier und da einige Aufweichungen geben. Doch findet eine kritische Reflexion der paradigmatischen Grundlagen, auf denen die (pardon) Formelfriedhöfe der utilitaristischen Ökonomik beruhen, nicht statt. (Diese paradigmatischen Grundlagen haben die „Ordoliberalen“, die im „neueren Methodenstreit“ bekanntlich verloren haben, noch ausdrücklich verteidigt. Die mathematische Ökonomik setzt sie nur mehr stillschweigend voraus.)

    Zur Vertiefung wird auf diese Replik verwiesen: http://www.mem-wirtschaftsethik.de/memorandum-2012/repliken/wirtschaftliche-freiheit/

    Inwiefern der „Coup von Saez und Piketty“ eine paradigmatische Öffnung markiert und inwiefern er im Kernparadigma verwurzelt bleibt, wird hier erörtert: http://www.mem-wirtschaftsethik.de/blog/blog-einzelseite/article/der-coup-von/

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