Ordnungspolitischer Kommentar
Ist die regelgebundene Wirtschaftspolitik am Ende?

Der neuerliche Kreditbedarf Griechenlands hat die euro­päische Staatsverschuldungskrise, die zuvor in der öf­fentlichen Wahrnehmung als nahezu überwunden galt, wieder auf die politische Tagesordnung gesetzt. Innerhalb Deutschlands spielt das Thema Staatsverschuldung der­zeit eine geringe Rolle, da alle staatlichen Ebenen in der Summe einen Überschuss erwirtschaften. Zu kurz kommt dabei allerdings, dass auch einige Bundesländer und Kommunen eine hohe Neuverschuldung aufweisen. Es stellt sich somit die Frage, wie ein langfristig sinnvolles wirtschaftspolitisches Ziel, wie die Begrenzung der Staatsverschuldung, politisch durchgesetzt werden kann.

Ordnungspolitik vs. Prozesspolitik

In der ökonomischen Theorie wird zwischen regelge­bundener Ordnungspolitik und Prozesspolitik unterschie­den. Die Ordnungspolitik versucht, grundsätzliche Rahmen­bedingungen für das Wirtschaftsgeschehen zu schaffen, innerhalb derer die Wirtschaftsakteure ihre eigenen Ziele verfolgen können. In das Marktergebnis wird nicht eingegriffen, sofern die Marktteilnehmer nicht gegen die geltenden Regeln verstoßen. Dazu wird der Handlungsspielraum der Träger der Wirtschaftspolitik eingeengt, indem diese ihr Handeln auf die Setzung der Rahmenbedingungen beschränken. Ein großer Vorteil dieses Vorgehens liegt darin, dass langfristig wohlfahrts­steigernde Ziele, wie z. B. eine Begrenzung der Staatsver­schuldung oder Preisniveaustabilität, durchgesetzt werden können. Andernfalls fallen solche Ziele häufig kurz­fristigen Interessen der Träger der Wirtschaftspolitik, etwa der Befriedigung bestimmter Interessengruppen vor Wahlen, zum Opfer. Diese Ausrichtung spielt in der wirtschafts­politischen Debatte in Deutschland traditionell eine große Rolle. Beispiele für solche Regeln sind die Schulden­bremse, die Rentenformel und die Verlagerung der Geld­politik auf eine, dem Ziel der Preisniveaustabilität ver­pflichtete, unabhängige Zentralbank.

In der Prozesspolitik hingegen dienen wirtschafts­politische Entscheidungen insbesondere der Realisierung eines politisch gewünschten Marktergebnisses. Eine Be­schränkung des Handlungsspielraums der wirtschafts­politischen Akteure – insbesondere die Bindung zukünftiger Akteure – ist nicht vorgesehen. In vielen anderen Eurostaaten wurden die Folgen der damit verbundenen stärkeren Kurzfristorientierung der politischen Akteure (z. B. höhere Inflationsraten) hinge­nommen. Diese Ausrichtung spiegelt sich in diesen Staaten auch in einem deutlich geringeren Einfluss der Verfassungsgerichtsbarkeit wider. Während das Bundes­verfassungsgericht dem Gesetzgeber regelmäßig Auflagen erteilt und sogar ganze Gesetze für verfassungs­widrig erklärt, wird eine derartige Beschränkung des Handlungsspielraums des Gesetzgebers in vielen anderen Eurostaaten als deutsche Eigenart angesehen.

Perspektivunterschiede zwischen den Eurostaaten

Das unterschiedliche Grundverständnis von Wirtschafts­politik lässt sich an der Entwicklung der Währungsunion verdeutlichen. Deutschland hat der Einführung der Währungs­union nur nach der Verabschiedung strenger Regeln (Nichtbeistandsklausel, Begrenzung der Staatsver­schuldung, Verbot der monetären Staatsfinanzierung) zugestimmt. Die damit verbundene Erwartung, die betroffenen Akteure auf bestimmte Verhaltensweisen zu verpflichten, hat sich allerdings nicht in allen Fällen erfüllt. Als im Mai 2010 erstmals eine harte Entscheidung zwischen der kurzfristigen Verhinderung der Zahlungsunfähigkeit eines Eurostaates und der als langfristig sinnvoll erkannten Regel der Nichtbeistands-klausel anstand, setzte sich die Kurzfristorientierung durch.

Diesen Regelbruch nahm Deutschland zum Anlass, sich für neue Regeln einzusetzen. Der installierte Rettungs­schirm sollte nur dann Kredite an Eurostaaten auszahlen, wenn sich die Empfängerstaaten im Gegenzug zu Struktur­reformen verpflichteten. Wiederum war damit die Erwartung verbunden, dass diese neuen Regeln sowie eine politische Aufsicht die Akteure zu einer Verhaltens­änderung bewegen würden. Die betroffenen Krisenstaaten ließen sich darauf ein, da so ihr kurzfristiges Interesse nach zusätzlichen Mitteln von den Eurostaaten erfüllt wurde. Die im Gegenzug versprochenen langfristigen Strukturreformen wurden in einigen Empfängerstaaten umgesetzt, wodurch die wirtschaftliche Erholung in diesen Ländern vorangetrieben wurde. Andere Regierungen setzten die eingegangenen Verpflichtungen allerdings nicht im notwendigen Umfang um, da diese mit schmerzhaften Einschnitten für relevante Wählergruppen verbunden gewesen wären.

Perspektivunterschiede innerhalb Deutschlands

Auch innerhalb Deutschlands kommt es politisch immer wieder zu Konflikten zwischen Regeln zur Verfolgung langfristiger Ziele und kurzfristigen Interessen. Obwohl beispielsweise zur Beschränkung der Staatsverschuldung eine Schuldenbremse vereinbart wurde, schränken einige Bundesländer ihre Ausgaben nicht in einem zu deren Einhaltung erforderlichen Maße ein. Auch muss erwähnt werden, dass Deutschland gemeinsam mit Frankreich 2002 und 2003 gegen die Maastricht-Regeln verstoßen und so einen Präzedenzfall geschaffen hat.

Schritte zur Wiederbelebung einer regelgebundenen Wirtschaftspolitik

Ein Regelbruch wird häufig pragmatisch damit begründet, dass die Anwendung der bestehenden Regel im vor­liegenden Einzelfall einen größeren Schaden erzeugen würde als die Nichtanwendung. Dies mag in Einzelfällen im Hinblick auf sich ändernde politische Ziele nachvollziehbar sein. Allerdings entfaltet eine solche Politik eine weit über den Einzelfall hinausgehende Wirkung. Die durch die Verabschiedung einer Regel erhoffte Verhaltens­anpassung der Akteure wird weniger wahrscheinlich, wenn die Einhaltung von Regeln stets Gegenstand von politischen Verhandlungen ist. Frankreich etwa verstößt seit 2008 durchgehend gegen die Neuverschuldungsgrenze. Sanktionen konnte Frankreich aufgrund seines politischen Einflusses allerdings immer wieder verhindern. Von einer Einzelfall­entscheidung zur Nichtanwendung einer Regel gehen also stets Anreize für alle Akteure aus, künftig auf Anstrengungen zur Einhaltung der Regel zu verzichten.

Wenn zwischen Akteuren – unabhängig von bestehenden Regeln – stets um jeden Preis ein Kompromiss geschlossen wird, kann es für die Akteure rational sein, die Ver­handlungen mit extremen Positionen zu beginnen. Genau diese Strategie verfolgte offenbar die neugewählte griechische Regierung, die die ursprünglich von den Vorgänger­regierungen als Gegenleistung für Hilfs­zahlungen verbindlich zugesagten Strukturreformen vollständig ablehnte und von dieser Extremposition erst nach Zugeständnissen im Rahmen von Verhandlungen abwich.

Um das Prinzip der Regelbindung wiederzubeleben, muss daher zunächst konstatiert werden, wie beträchtlich der durch die fortwährende Nichteinhaltung von Regeln ausgelöste Glaubwürdigkeitsverlust des Rechts ist. Für die Zukunft muss die Annahme, bereits der Beschluss einer Regel werde für eine hinreichende Verhaltensänderung der Akteure sorgen, grundsätzlich hinterfragt werden. Stattdessen muss beim Beschluss von Regeln der Frage, wie mit einem Regelbruch umzugehen ist, mindestens genauso große Bedeutung zugemessen werden, wie der Ausgestaltung der Regel selbst. Zur Wiederherstellung der Glaubwürdigkeit von Regeln darf die Sanktionierung von Regelverstößen nicht länger verhandelbar sein.

Eine regelgebundene Wirtschaftspolitik erfordert somit die Bereitschaft, die für den Fall der Nichteinhaltung vereinbarten Konsequenzen auch durchzusetzen. Sind Akteure zum Beschluss einer Regel, aber nicht zur verbindlichen Festlegung der Konsequenzen bei Nicht­einhaltung bereit, bestehen erhebliche Zweifel an deren Absicht, die Regel einzuhalten. Gerade bei Akteuren mit einem prozesspolitischen Verständnis von Wirtschafts-politik erscheint es daher fraglich, inwiefern die Zustimmung zu unverbindlichen Regeln, welche für diese eher den Charakter einer losen Absichtserklärung haben, eine hinreichende Gegenleistung für sofortige Zahlungen darstellt.

Die verbindliche Festlegung von Konsequenzen bei Nichteinhaltung ist zudem nur dann glaubwürdig, wenn die vereinbarten Regeln konsistent sind. Dies war in der europäischen Währungsunion nicht der Fall. Einerseits galt die Nichtbeistandsklausel, welche besagt dass Staaten bei Überschuldung nicht gerettet werden und Staatsanleihen somit einem Ausfallrisiko unterliegen. Anderseits galten Staatsanleihen für Banken als risikolose Anlageklasse, für welche diese kein Eigenkapital vorhalten mussten. Diese Inkonsistenz hat die Glaub­würdigkeit der Nichtbeistandsklausel untergraben, da dessen Einhaltung massive Kosten im Bankensektor erzeugt hätte.

Ausblick

Die regelgebundene Wirtschaftspolitik hat in der jüngsten Vergangenheit einen massiven Glaubwürdigkeitsverlust erlitten. Eine Reaktivierung des Prinzips der Regel­bindung ist nur dann möglich, wenn Politiker entgegen dem pragmatischen Zeitgeist bereit sind, sich selbst durch die Festlegung auf Regeln für die Zukunft bestimmte Handlungsmöglichkeiten zu verbauen. Vorschläge, wie z. B. automatische Sanktionen bei Überschreitung einer Neuverschuldungsgrenze, könnten dazu beitragen, die Überprüfung der Regeleinhaltung den politischen Akteuren zu entziehen und diese damit wirksamer auf die Verfolgung langfristiger Ziele zu verpflichten.

 

Hinweis: Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 03/2015 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.

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