Vor zehn Jahren wurde die Schuldenbremse in der deutschen Verfassung verankert und zeigt bis heute ihre Wirkung. Durch die Schuldenbremse soll die strukturelle jährliche Nettokreditaufnahme des Bundes maximal 0,35 Prozent des BIP betragen. Die Länder hingegen dürfen ab nächstem Jahr gar keine neuen Schulden aufnehmen. So ging die Staatsschuldenquote von ihrem Höhepunkt von 82,5 Prozent des BIP im Jahr 2010 auf aktuell 60 Prozent zurück, wodurch Deutschland das Maastricht-Kriterium das erste Mal seit dem Jahr 2002 wieder einhalten wird. Dabei geht der Rückgang der Neuverschuldung weniger auf Sparmaßnahmen der Bundesregierungen, sondern viel mehr auf die gute konjunkturelle Lage und die damit einhergehenden sprudelnden Steuereinnahmen sowie die anhaltend niedrigen Zinsen zurück.
Pünktlich zum 10-jährigen Jubiläum ist eine Debatte unter deutschen Ökonomen über die Sinnhaftigkeit der Schuldenbremse eingetreten. Die Kritiker weisen auf zu niedrige staatliche Investitionen in öffentliche Güter wie dem Bildungssektor oder der (digitalen) Infrastruktur hin, die aufgrund der Negativzinsen günstig zu finanzieren wären. Die Befürworter argumentieren hingegen, dass der Staat zum einen Überschüsse erzielt, die für Investitionen genutzt werden können und zum anderen, dass eine mögliche Neuverschuldung bei einer Aufhebung der Schuldenbremse weniger zu neuen Investitionen, sondern mehr zu zusätzlichen Sozialausgaben und staatlichen Konsumausgaben führen würde. Dabei ist der Investitionsbedarf für marode Schulen, Straßen und Brücken seit langem bekannt. Die knappen 10 Jahre konjunktureller Aufschwung haben nicht zu höheren Investitionen geführt, sondern einen Investitionsbedarf von mindestens 450 Milliarden Euro hinterlassen. In der Debatte scheint also eher darum zu gehen, wie viel Regelbindung die Politik braucht. So gibt es nur wenige ökonomische Argumente, die gegen ein sinnvolles schuldenfinanziertes Investitionsprogramm unter Negativzinsen sprechen. Ob es dazu kommt oder ob ein größerer Spielraum zu weiteren nicht nachhaltigen sozialpolitischen Wahlgeschenken führt, ist eine andere Frage.
Wenn allerdings über Schulden im Kontext mit der Schuldenbremse gesprochen wird, ist ausschließlich von expliziten und nicht auch von impliziten Schulden die Rede. Implizite Schulden sind zukünftige Leistungsversprechen der öffentlichen Gebietskörperschaften, die nicht in den amtlichen Schuldenstatistiken berücksichtigt werden, wie beispielsweise Pensionsverpflichtungen oder zukünftige Leistungsansprüche an die sozialen Sicherungssysteme. Der Finanzplan der Bundesregierung überschreitet nicht die nächsten fünf Jahre, wodurch zukünftige Kosten durch Reformen, wie z.B. der Grundrente, allein demografiebedingt, völlig unterschätzt werden.
Die alleinige Betrachtung der expliziten Schulden wurde vor allem von Kotlikoff (1986, 1988a, b) kritisiert und von Auerbach/Oreopoulos (2000) als „inadequate“ bezeichnet, da hiermit nicht die langfristigen Einnahmen und Ausgaben berücksichtigt werden. Eine Möglichkeit diesem Umstand Rechnung zu tragen bietet die Generationenbilanzierung. Diese Methode wurde von Kotlikoff (1992), Auerbach et al. (1991, 1992, 1994) entwickelt und von Raffelhüschen (1999), Gokhale/Raffelhüschen (1999) und Feist/Raffelhüschen (2000) nach Deutschland eingeführt, um die langfristige Nachhaltigkeit der öffentlichen Finanzen zu analysieren. Eine Fiskalpolitik kann dann als nachhaltig bezeichnet werden, wenn intertemporale Budgetbeschränkungen des Staates genügen, um den Barwert aller heutigen und zukünftigen fiskalischen und parafiskalischen Staatsausgaben zu finanzieren. Dafür wird der Barwert aller Transfers an die heutigen und zukünftigen Generationen von dem Barwert der heutigen und zukünftigen aggregierten Steuereinnahmen abgezogen.
Vereinfacht ausgedrückt lässt sich eine Fiskalpolitik als nachhaltig bezeichnen, wenn der Staat langfristig nicht mehr ausgibt, als er einnimmt. Somit muss die Nettostaatsschuld gleich der Summe der diskontierten Nettosteuern sein, wobei die Staatsschuld nicht nur die expliziten Schulden, sondern ebenfalls die impliziten Schulden, die durch die sozialen Sicherungssysteme anfallen, berücksichtigt. Die Generationenbilanzierung betrachtet fast alle Steuern und Beiträge in genauer Alterszuordnung und ist auch in der Lage einzelne Elemente des Sozialversicherungssystems in Wechselwirkung zu den fiskalischen Budgets zu analysieren. So werden quasi-isolierte Nachhaltigkeitslücken für die gesetzliche Kranken-, Pflege und Rentenversicherung sowie Pensionen ausgewiesen. Somit wird offengelegt, welche Zweige der Sozialversicherung in besonderem Maße von Nachhaltigkeitsdefiziten betroffen und wie diese mit den Budgets der Gebietskörperschaften verwoben sind.[1]
Betrachtet man die langfristige Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen in Deutschland, so ergibt sich eine implizite Staatschuld von knapp 165 Prozent des BIP (Bahnsen et al. 2019). Maßnahmen wie die Mütterrente I & II, die doppelte Haltelinie, die geplante Grundrente oder eine eventuelle Reduzierung des Eigenanteils in der Pflegeversicherung stehen kurzfristig nicht im Konflikt mit der Schuldenbremse. In der mittleren Frist hingegen steigen die Kosten – demografisch – bedingt jedoch erheblich an. Bezahlen wird das nicht nur der Beitragszahler, sondern auch der Steuerzahler, wie Arbeitsminister Hubertus Heil bereits angekündigt hat: so soll die Grundrente ab 2025 zu mehr als 70 Prozent durch Steuerzuschüsse finanziert werden. Bereits heute liegt der Bundeszuschuss allein zur gesetzlichen Rentenversicherung bei knapp 100 Milliarden Euro jährlich. Dadurch, dass die Babyboomer in ein paar Jahren großflächig in Rente gehen werden und die gesellschaftliche Alterung die Kosten für Gesundheit und Pflege in die Höhe treiben wird, wird auch der Bedarf an Steuerzuschüssen steigen, solange das Leistungsniveau nicht deutlich reduziert oder der Beitragszahler nicht noch weiter belastet werden soll.
So kann die Schuldenbremse auch einen disziplinierenden Effekt auf die impliziten Schulden haben: Wenn der Bundeszuschuss aufgrund der Schuldenbremse nicht weiter steigen kann, muss die Politik sich intensiver mit der Zukunftsfähigkeit ihrer Wirtschaftspolitik im Bereich der sozialen Sicherungssysteme auseinandersetzten und es wird deutlich, dass Reformen wie die doppelte Haltelinie eine Luftnummer sind. Solange das Renteneintrittsalter nicht erhöht wird, ist diese nur durch einen höheren Bundeszuschuss zu gewährleisten. Dadurch wäre die Politik nach einer langen Periode von sozialpolitischen Wahlgeschenken zu einer Priorisierung ihrer Ausgaben gezwungen. Die Schuldenbremse verhindert somit – bei einer weiteren Abkühlung der Konjunktur – nicht nur eine anhaltende leichtsinnige Verwendung der Mittel der Steuer-, sondern auch der Beitragszahler.
Literatur
Auerbach, A.J., Gokhale, J., Kotlikoff, L.J. (1991): Generational Accounts: A Meaningful Alternative to Deficit Accounting, Tax Policy and the Economy, (5)1: 55-100.
Auerbach, A.J., Gokhale, J., Kotlikoff, L.J. (1992): Generational accounting: a new approach to understanding the effects of fiscal policy on savings, Scandinavian Journal of Economics, 94(2): 303-318.
Auerbach, A.J., Gokhale, J., Kotlikoff, L.J. (1994): Generational accounting: a meaningful way to evaluate fiscal policy, Journal of Economic Perspectives, 8(1): 73-94.
Auerbach, A.J., Oreopoulos, P. (2000): The Fiscal Effect of U. S. Immigration: A Generational Accounting Perspective, Tax Policy and the Economy, 14(1): 123-156.
Bahnsen, L., Kohlstruck, T., Manthei, G., Raffelhüschen, B., Seuffert, S. (2019): Update 2019 der deutschen Generationenbilanz – Schwerpunkt: Pflegefall Pflegeversicherung?, Stiftung Marktwirtschaft.
Feist, K., Raffelhüschen, B. (2000): Möglichkeiten und Grenzen der Generationenbilanzierung, Wirtschaftsdienst, 8(7): 440-448.
Gokhale, J., Raffelhüschen, B. (1999): Population Aging and Fiscal Policy in Europe and the United States, Economic Review, 35(4): 10-20.
Kotlikoff, L.J. (1986): Deficit Delusion, Public Interest, 84(1): 53-65.
Kotlikoff, L.J. (1988a): The Deficit is not a Well-Defined Measure of Fiscal Policy, Science, 241(4): 791-795.
Kotlikoff, L.J. (1988b): Intergenerational Transfers and Savings, The Journal of Economic Perspectives, 2(2): 41-58.
Kotlikoff, L.J. (1992): Generational Accounting: Knowing Who Pays, and When, for What We Spend, The Free Press, New York.
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[1] Interessanter als die Gesamtbelastung aller lebenden Generationen ist die Lastenverteilung auf die einzelnen heute lebenden Jahrgänge, die ebenfalls mittels der Generationenbilanzierung berechnet werden kann. Zu diesem Zweck werden für jeden Geburtsjahrgang die über die verbleibende Lebenszeit zu erwartenden Zahlungsströme vom bzw. an den öffentlichen Sektor in einem Generationenkonto für ein statistisches Durchschnittsindividuum als Barwert zusammengefasst. Hierzu werden die öffentlichen Einnahmen und Ausgaben des zu berechnenden Basisjahrs den verschiedenen Geburtsjahrgängen mit Hilfe altersspezifischer Mikrodatenprofile für die Steuer- und Beitragszahlungen und den Erhalt öffentlicher Leistungen zugerechnet und für die Folgejahre mit dem Produktivitätswachstum fortgeschrieben. Unter Berücksichtigung der bedingten Lebenserwartungen lassen sich dann für jede im Basisjahr lebende Kohorte ihre für jedes Jahr der verbleibenden Lebensspanne durchschnittlich zu erwartenden Steuer- und Transferzahlungen ermitteln. Diese werden auf das Basisjahr diskontiert, summiert und über die Zahlungskategorien hinweg saldiert. Unterstellt man weiterhin die Beibehaltung der im Basisjahr vorherrschenden Fiskalpolitik für zukünftige Generationen, so kann auch für diese Jahrgänge ein entsprechendes Generationenkonto berechnet werden. Die Summe aller mit den entsprechenden Jahrgangsstärken gewichteten Generationenkonten entspricht dann der Nachhaltigkeitslücke.
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