Im Angesicht des Todes
Sind staatliche Rettungsschirme inflationär?

Bild: Bruno /Germany auf Pixabay

„Ein Ökonom ist ein Fondsmanager, der sein Portfolio nie zu Marktpreisen ausweisen muss.“ (Howard Marks, Fondsmanager)

Die Europäische Zentralbank tut seit längerem alles, die Inflationsrate auf 2 % zu erhöhen. Ihr Repertoire ist weit gefächert. Unkonventionelle Geldpolitik, monetäre Staatsfinanzierung aber auch die Aufforderung zu aggressiverer Lohnpolitik zählen dazu. Gelungen ist es ihr bisher allerdings noch nicht. Nun könnte es vielleicht doch noch klappen. Covid-19 sei Dank. Auf den ersten Blick sieht es allerdings nicht danach aus. Das Coronavirus stürzt die Länder weltweit in eine tiefe Rezession, so wie es gegenwärtig aussieht wohl die schwerste seit dem 2. Weltkrieg. Die Produktion bricht ein, Unternehmen gehen reihenweise Pleite, die Beschäftigung fällt ins Bodenlose, 1929 lässt grüßen. In einer solchen Welt ist eine höhere Inflation nicht gerade das, was in den Lehrbüchern steht. Eine Deflation, die sich gewaschen hat, liegt näher. Das könnte sich aber als Irrtum erweisen, zumindest mittelfristig. Die Ursachen der ökonomischen Krise – ein gesundheitspolitisch verordneter Angebotsschock- und die massive expansive geld- und fiskalpolitische Antwort schließen eine andere, ungünstige wirtschaftliche Entwicklung nicht aus, eine stagflationäre.

Die Finanzkrise: Ein Nachfrageschock

Die Ökonomen sind nicht gut, wenn es um Prognosen geht. Viele haben sich in der jüngeren Vergangenheit, was die Inflation angeht, immer wieder geirrt. Nach dem Zusammenbruch von Lehman-Brothers befürchteten sie eine Inflationierung. Der Grund war eine (hyper)expansive Geld- und eine ausufernde Fiskalpolitik. Die Notenbanken wagten sich weltweit auf geldpolitisch wenig kartiertes Terrain. Nicht nur die traditionelle Geldpolitik sollte den Finanzsektor stabilisieren und verhindern, dass der reale Sektor infiziert wird. Auch neue geldpolitische Instrumente der „quantitativen Erleichterung“ sollten helfen, den Absturz der Volkswirtschaften abzumildern. Aber auch die Fiskalpolitik ging in die Vollen. Entgegen der Mär von der Austerität türmten sich die Schuldenberge der Staaten immer steiler auf. Notwendige Strukturreformen wurden auf die lange Bank geschoben. Das Vertrauen in die staatliche Solvenz einiger Staaten litt. Dieser Gefahr des Vertrauensverlustes wirkten die Notenbanken massiv entgegen. Sie kauften in großem Stil die massenhaft neu emittierten Staatspapiere auf. Die Geldpolitik wurde immer fiskalischer.

Viele Ökonomen waren der Meinung, die fiskalischen und monetären Exzesse könnten nur in einer inflationären Entwicklung enden. Das ist allerdings nicht passiert. Die Inflationsraten hielten sich weitgehend im Korridor der von den Notenbanken angepeilten 2 %-Zielmarke. Der Grund lag in der keynesianischen Situation der Finanzkrise. Mit der Instabilität des Finanzsektors stürzte auch der reale Sektor in die Krise. Unternehmen gingen reihenweise Pleite, Arbeitnehmer verloren ihre Arbeitsplätze, die wirtschaftliche Unsicherheit nahm zu. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage brach ein. Das galt für den Konsum, die Investitionen und den internationalen Handel. Arbeitslosigkeit verstärkte diese Entwicklung. Es entstanden (fast) überall Ouputlücken. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage (xNE0) verschob sich nach links (xNE1). Das tat der Produktion nicht gut. Der Output verringerte sich auf x1. Die Beschäftigung brach ein. Es entstand ein Druck auf die Güterpreise. Die Gefahr war groß, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung deflationär entwickelt. Ohne expansive staatliche Aktivitäten hätte sich das Preisniveau (P1) verringert.

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Tatsächlich ist diese Entwicklung nicht eingetreten. Die Regierungen hatten aus der Weltwirtschaftskrise 1929 gelernt. Sie wollten nicht die gleichen Fehler wie damals machen. Deshalb richteten sie die Geld- und Fiskalpolitik expansiv aus. Die Notenbanken senkten die Zinsen bis auf null und darunter. An der Nullzins-Grenze operierten sie unkonventionell. Auch die Politik agierte expansiv. Die Schuldenaufnahme der Staaten war drastisch. Die Defizite wuchsen, Schuldenstände erreichten neue Höchststände. Der gesamtwirtschaftliche Nachfrageschock wurde (teilweise) zurückgeschockt (xNE2). Ganz ohne Schäden verliefen diese Aktionen dennoch nicht ab. Output-Lücken blieben für die meisten lange offen. Beschäftigungspolitisch glimpflich davon kam von den großen Ländern eigentlich nur Deutschland. Alle anderen kämpften lange mit hoher Arbeitslosigkeit. Die geldpolitischen Aktivitäten der Notenbanken richteten inflationär keinen Schaden an. Sie halfen, die dringend notwendige Nachfrage zu schaffen oder verpufften in einem Aktivatausch der Finanzinstitute. Die effektive Geldmenge stieg wesentlich weniger als die nominelle.

Die Coronakrise: Ein originärer Angebotsschock

Ob es dieses Mal inflationär genauso glimpflich abgeht, ist allerdings nicht sicher. Die Coronakrise ist zuerst und vor allem ein negativer Angebotsschock. Das Coronavirus verhindert, dass kranke Menschen ihre Arbeit anbieten können. Die Angst vor einer medizinischen Triage hat eine restriktive Gesundheitspolitik provoziert. Arbeit wird staatlich stillgelegt. Das hypermobile Virus und die gesundheitspolitische Reaktion haben die Ökonomien weltweit ins künstliche Koma versetzt. Arbeit wird (teilweise) daran gehindert, Güter und Dienste zu produzieren. Unternehmen können ihre Kapazitäten nicht mehr oder nur noch suboptimal nutzen. Die Produktion bricht weltweit ein. Weltweit optimierte Lieferketten reißen. Arbeitnehmer sind unterbeschäftigt. Die Stockungen auf der Angebotsseite infizieren die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Fehlende Einkommen und individuelle Kontaktverbote mindern die kaufkräftige konsumtive Nachfrage. Produktionsverbote und wirtschaftliche Unsicherheit strangulieren unternehmerische Investitionen. Nationale Grenzschließungen be(ver)hindern weltweit den internationalen Handel. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage havariert.

Die durch das Coronavirus ausgelöste Stilllegung von Arbeit und Kapital verschiebt das gesamtwirtschaftliche Angebot (xATo) nach links (xAT1). Damit wird die Produktion auf (x1) verringert, die Beschäftigung abgebaut. Änderte sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage nicht (xNEo), käme es auf den Gütermärkten zu einem Nachfrageüberhang. Der Druck auf steigende Güterpreise (P1) nähme zu. Das wäre der typische Fall der Stagflation, ähnlich der Situation nach den Ölpreiskrisen der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts. Tatsächlich infiziert das primär staatlich verordnete rückläufige Angebot die gesamtwirtschaftliche Nachfrage. Sie verlagert sich nach links unten (xNE1). Der originäre Nachfrageüberhang wird abgebaut. Die Stärke der einbrechenden gesamtwirtschaftlichen Nachfrage entscheidet darüber, wieviel vom ursprünglichen Nachfrageüberhang übrig bleibt. Ist der gesamtwirtschaftliche Nachfragerückgang stark genug, ist auch ein Angebotsüberhang möglich. Die Güterpreise würden sinken (P2). Die Nachfrage bestimmt über die Höhe der Preise, nicht aber über Output und Beschäftigung. Darüber entscheidet das Angebot.

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Das Coronavirus bringt die Politik in eine heikle Lage. Fährt sie eine quarantänöse Gesundheitspolitik verringert sie das Risiko einer Triage, lähmt aber die Ökonomie. Output und Beschäftigung brechen ein. Lässt sie dem Coronavirus mehr oder weniger freien Lauf, versetzt sie zwar die Ökonomie nicht ins künstliche Koma. Sie läuft allerdings Gefahr, ein Kollaps des Gesundheitssystems zu riskieren. Die meisten Länder haben sich für die erste Strategie entschieden. Nur einige wenige Länder, wie etwa Schweden, setzen eher auf die zweite. Die Entscheidung für eine Gesundheitspolitik der Quarantäne bringt die Politik in weitere Schwierigkeiten. Sie muss verhindern, dass Unternehmen massenhaft Pleite gehen und unterbeschäftige Arbeitnehmer materiell nicht ins Bodenlose fallen. Mit großzügigen Liquiditätshilfen für Unternehmen, generösem Kurzarbeitergeld für Arbeitnehmer und ordnungspolitisch verfehlten Solvenzhilfen versucht sie, beide Ziele zu erreichen. Mit diesen Transfers will sie die induzierten negativen Nachfrageschocks zurückschocken. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage verschiebt sich nach rechts auf (xNE2). Damit läuft die Politik allerdings Gefahr, Nachfrageüberhänge auf den Gütermärkten zu produzieren. Die sind aber, wie die leidvolle Erfahrung zeigt, ein Nährboden für inflationäre Entwicklungen (P1). Stagflation wäre das Ergebnis.

Die Coronakrise: Stagflationäre Wirkungen?

Auf den ersten Blick scheint es schwer vorstellbar, dass sich in absehbarer Zeit inflationäre Tendenzen einstellen. Die geringere Nachfrage der Haushalte, Unternehmen und des Auslandes haben eher deflationäre als inflationäre Effekte. Staaten und Notenbanken versuchen, fiskal- und geldpolitisch dagegen zu halten. Dabei geht es selbst in Deutschland nicht mehr um Milliarden, sondern um Billionen. Wie sich die gesamtwirtschaftliche Nachfrage entwickelt, hängt davon ab, wie Haushalte, Unternehmen und das Ausland die künftige wirtschaftliche Entwicklung einschätzen. Sind sie eher positiv gestimmt, fällt der Nachfrageeinbruch geringer aus. Fürchten sie sich allerdings vor der wirtschaftlichen Zukunft drohen depressive Entwicklungen. Sie sparen mehr, investieren weniger und verringern die Nachfrage nach ausländischen Gütern. Staat und Notenbanken müssten fiskal- und geldpolitisch noch aggressiver agieren. Die gigantische staatliche Verschuldung würde mit der Geldschwemme der Notenbanken über kurz oder lang das Vertrauen in die Währungen erschüttern. Die Nachfrage nach Gütern und Diensten würde zunehmen. Die Preise würden schlagartig steigen. Der Anker der niedrigeren Inflationserwartungen würde reißen.

Das ist eine einseitige Sicht der Dinge. Wie sich das allgemeine Preisniveau entwickelt, hängt vom (positiven oder negativen) Nachfrageüberschuss auf den Gütermärkten ab. Die gesamtwirtschaftliche Nachfrage ist die eine, das gesamtwirtschaftliche Angebot die andere Seite. Erst das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage bestimmt darüber, ob die Güterpreise steigen, sinken oder stabil bleiben. Ändert sich an den gegenwärtig restriktiven Anti-Corona-Maßnahmen nichts, bleibt das gesamtwirtschaftliche Angebot (xAT1) weiter stark rationiert. Der Output ist bei (x1) festgenagelt (Abb. 2). Wenn es der Politik – Geld- und Fiskalpolitik – gelingt, die gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu stabilisieren (xNE2), entsteht auf den Gütermärkten ein Nachfrageüberhang (A-D). Inflation ist unvermeidlich. Er wird dort, wo der Angebotsmangel am größten ist, stärker ausfallen als in Bereichen, in denen er geringer ist. Die Politik tut mit Liquiditätshilfen, Kurzarbeitergeld und Solvenzhilfen vieles, den gesundheitspolitisch erzwungenen Nachfrageausfall der Privaten zu kompensieren. Und sie will noch mehr tun. Ein höheres Kurzarbeitergeld und noch mehr Hilfen für Unternehmen wurden schon beschlossen. Massive neue fiskalische Konjunkturpakete sind geplant.

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Die Gefahr ist groß, dass die (monetären und fiskalischen) Rettungsschirme bei weiter harten Anti-Corona-Maßnahmen über kurz oder lang inflationär wirken. Das setzt allerdings voraus, dass das gesamtwirtschaftliche Angebot eingefroren bleibt. Damit ist aber nicht zu rechnen. Ein neuer Impfstoff und wirksame Medikamente würden das Angebot schnell auftauen. Der Output würde steigen, die Beschäftigung wieder zunehmen, die private Nachfrage sich stabilisieren. Aber selbst wenn die Medizin in absehbarer Zeit nicht liefern kann, wird sich die Lage entspannen. Epidemien folgen einem bestimmten Muster, einer Glockenkurve. Das gilt auch für Covid-19. Der Höhepunkt der Coronakrise ist in den meisten Ländern überschritten. Die Zahl der Neuinfektionen geht zurück, die Zahl der Genesenen nimmt zu, die aktiven Fälle werden weniger. Abstandsregeln und Schutzmaßnahmen sind die entscheidenden Treiber. Dabei ist es nicht so wichtig, ob die Politik stärker auf staatlichen Zwang oder Freiwilligkeit gesetzt hat. Die Politik wird gesundheitspolitisch lockern. Das gesamtwirtschaftliche Angebot (xAT2) erhöht sich. Der Output steigt, die Beschäftigung nimmt zu. Es entsteht ein Druck auf die Güterpreise. Die Gefahr der Inflation nimmt ab.

Fazit

Die Welt steht vor gewaltigen Herausforderungen. Mit rasender Geschwindigkeit hat sich das Coronavirus bis in die letzten Winkel der Erde verbreitet. Ohne neuen Impfstoff und wirksame Medikamente helfen nur Abstand und Schutzmaßnahmen, repressive oder freiwillige. Fast überall agiert die Politik gesundheitspolitisch repressiv. Das hat einen hohen Preis. Die Ökonomie wurde staatlich ins Koma versetzt. Nur widerwillig ist die Politik bereit, die Restriktionen zu lockern. Die Angst vor einer 2. Welle der Epidemie sitzt tief. Mit gigantischen Rettungsschirmen versucht sie, die lebensgefährlichen ökonomischen Risiken und Nebenwirkungen der ökonomisch komatösen Gesundheitspolitik in den Griff zu bekommen. Dabei läuft sie Gefahr, die marktwirtschaftliche Ordnung irreversibel zu schädigen. Es sind nicht nur immense Lasten staatlicher Verschuldung, die sie künftigen Generationen aufbürdet. Mit den ausufernden fiskalischen und monetären Rettungsschirmen, die nichts retten können, wenn die Angebotssperre nicht weggeräumt wird, wächst auch die Gefahr inflationärer (stagflationärer) Entwicklungen. Verhindern lässt sich das nur, wenn die Politik die gesundheitspolitisch verursachten Stockungen auf der Angebotsseite auflöst. Umfassende Lockerungen sind notwendig. Die typische Entwicklung der abklingenden Pandemie schafft den gesundheitspolitischen Handlungsspielraum. Mit den Lockerungen sollten die staatlichen Rettungsschirme sukzessive geschlossen werden.

Blog-Beiträge des Autors zum Thema:

Norbert Berthold: Ist dieses Mal wirklich alles anders?  Corona, Angebotsschocks, Lockerungen und Strukturwandel

Norbert Berthold: Covid-19, Shutdown und Stagflation. Droht jetzt auch noch (Hyper)Inflation?

Norbert Berthold: Seuchen, Stagflation und Staatswirtschaft.  Wirtschaftspolitik in Zeiten von Corona

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