Was war das für eine traumhafte Story: Endlich haben wir auch in Deutschland einen digitalen Star am Börsenhimmel, der das Zeug hat, mit Amazon und all den anderen Billionenwerten an der Nasdaq mitzuhalten! Ein vergleichsweise kleines Unternehmen aus Aschheim bei München wickelte weltweit Zahlungsverkehrsprozeduren ab, verdrängte die Commerzbank 2018 aus dem DAX und war unversehens sogar mit der Deutschen Bank in Sachen Marktwert mehr oder weniger auf Augenhöhe. Es schien nur noch eine Frage der Zeit, bis der Gipfel in der deutschen Börsenliga erklommen würde – freilich nur als Zwischenstation auf dem Weg in die oberen Gefilde der Champions League des internationalen Kapitalmarkts!
Aber dann, nur wenige Monate nach dem Eintritt in den DAX, brach eine Lawine los, die am Ende Wirecard abstürzen und unter sich begraben sollte. Im Januar 2019 verschärfte die Financial Times ihre schon zuvor kritische Berichterstattung über Wirecard in einer Intensität, die nicht nur von dem Unternehmen selbst als Kriegserklärung interpretiert wurde. Es folgten anderthalb Jahre heftige Auseinandersetzungen, deren vorläufiges Ende der Insolvenzantrag des nunmehr einstigen Börsenstars bildet. Das eigentliche Problem war indessen nicht das Scheitern an sich, sondern seine Art: Wenn ein Unternehmen nach dem Abgang des alten CEO einräumen muss, dass Treuhandkonten über rund ein Viertel der Bilanzsumme wohl nur in seinen eigenen, nicht aber in den Büchern der angeblich als Hinterlegungsstelle fungierenden Banken existieren, ist mehr als nur Stirnrunzeln angesagt. Vielmehr haben so gut wie alle Prüfungsinstanzen elementar versagt.
Was die unternehmensinternen Kontrollen angeht, ist dies zwar bedauerlich, wird die Eigentümer als letztverantwortliche Prinzipale aber auch teuer zu stehen kommen. Problematischer ist das Versagen der externen Prüfungsorgane, namentlich die Wirtschaftsprüfer und die Bankenaufsicht, die letztlich einen gesetzlichen Auftrag zu erfüllen haben.
Bei EY als langjährigem Konzernprüfer wird man – kriminelle Energie von im Unternehmen handelnden Personen hin oder her – sicher fragen dürfen, warum bereits länger gehegte Kritik nicht zu heftigeren Nachfragen geführt hat. Wenn diese erst nach einer Sonderprüfung durch eine andere der weltweit großen vier Prüfungsgesellschaften erfolgen, die mangels ausreichender Datenlage keine hinreichenden Befunde liefern konnte, ist das elementares Versagen. Inwieweit dieses Versagen zu halbwegs nennenswerten Konsequenzen gegenüber geschädigten Anlegern führt, dürfte in bereits angekündigten Schadenersatzklagen unter großem Interesse der Öffentlichkeit geklärt werden. Je nach Ausgang dieser Klärung wird der Gesetzgeber aufgerufen sein, gegebenenfalls deutliche Nachbesserungen in der Anspruchsgrundlage für zukünftige Fälle zu bewirken.
Im Bereich des zweiten externen Kontrollkreises wurde das Versagen mit drastischen Worten vom BaFin-Chef Felix Hufeld bereits eingeräumt: „Schande“ und „komplettes Desaster“ markieren immerhin einen öffentlichkeitswirksamen Anflug von Reue bei der Bankenaufsicht. Dazu besteht auch aller Grund, denn angesichts der Vielzahl von Kontrollinstanzen sollte solche Vorkommnisse in dieser Branche schlicht undenkbar sein. Dass sie es nicht waren, sollte die Perspektive für institutionelle Reformen definieren: Es geht nicht um noch mehr Kontrollen bis zum aufsichtsrechtlichen Overkill, sondern um klare Zuständigkeiten und hinreichende Kompetenzen zur Erfüllung des Prüfungszwecks. Im Fall Wirecard war die BaFin nur für deren Banktochter uneingeschränkt zuständig; ansonsten gab es bemerkenswerte Diskussionen betreffend die gegenseitige Abschiebung von Verantwortung. Klar ist, dass Zahlungsabwickler von Weltformat unabhängig von einer formalen Banklizenz intensiver geprüft werden müssen wie eine minimalistische Raiffeisenkasse auf der Schwäbischen Alb. Ob die Lösung für diese Problematik in einem „European Single Market Supervisor“ (Jan Pieter Krahnen) bestehen sollte, ist angesichts der rasanten technischen Entwicklung und der unsicheren Wirkung von Kryptowährungen samt dezentraler Zahlungsabwicklung indessen durchaus zu hinterfragen.
Den Wirecard-Geschädigten wird all dies am Ende rein gar nichts helfen: Anstatt eines deutschen Amazon haben sie ein nicht nur teutonisches Gegenstück zu Enron gefunden!
Hinweis: Der Beitrag erscheint als Leitartikel „Im Visier“ in Heft 9 (2020) der Fachzeitschrift WiSt.
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