Am aktuellen Rand
Memento Moriae
Christdemokraten zwischen Neo-Marxismurx und Seehofer

Dietmar Bartsch und Bodo Ramelow werfen der Bundesregierung vor, angesichts der Brandkatastrophe im Lager Moria nicht christlich zu handeln. Die offiziellen Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche in Deutschland tun indirekt dasselbe.

Die evangelische Kirche in Deutschland veröffentlichte angesichts der Lage in Moria am 11.09.2020 (https://www.ekd.de/bedford-strohm-moria-weckruf-neue-humanitaet-europa-58787.htm ) einen „Weckruf zu einer neuen Humanität in Europa“. Nach Auffassung des EKD Ratsvorsitzenden Heinrich Bedford-Strohm „müssten einzelne Länder vorangehen. Es könne kein Argument sein, nichts zu tun, wenn nicht alle EU-Staaten mitmachten, unterstrich er.“ Reinhard Kardinal Marx als Repräsentant der Katholiken in Deutschland unterstützt wie Bedford-Strohm die „Willkommenskultur“ und damit gewiss nicht die Linie Seehofers (https://www.katholisch.de/artikel/26325-fuenf-jahre-willkommenskultur-marx-und-bedford-strohm-ziehen-bilanz), dem er wie SPD und Grüne Nationalismus unterstellt (https://www.welt.de/politik/deutschland/article179557500/Abschiebungen-am-Geburstag-Kardinal-Reinhard-Marx-kritisiert-Horst-Seehofer.html.).

Während die FDP, die an sich ein vernünftiges interessenbasiertes Einwanderungskonzept vertritt, sich eher zurückhält, lacht sich die AfD in’s eigene Fäustchen, in der Hoffnung, dass daraus eine Faust wird, mit der sie den Christdemokraten nach dem linken einen rechten Haken verpassen kann. Der zweite Haken könnte sitzen.

Neo-Marxismurx und Verantwortung

Die von Ramelow diagnostizierte Verwandtschaft seiner Ansichten mit denen von Pabst Franziskus (vgl. https://www.cicero.de/innenpolitik/bodo-ramelow-linke-christ-thueringen-cdu-koalition) wird durch das Apostolische Schreiben „evangelii gaudium“ belegt (https://w2.vatican.va/content/francesco/de/apost_exhortations/documents/papa-francesco_esortazione-ap_20131124_evangelii-gaudium.html.) Das Ideal der Gemeinschaft, in der „jeder nach seinen Fähigkeiten“ beiträgt und „jedem nach seinen Bedürfnissen“ ein grundlegendes Existenzminimum garantiert wird, hat christliche Wurzeln (vgl. Bovens und Lutz 2019). In der sozialen Marktwirtschaft der BRD ist es näherungsweise, in einer mit Freiheit und Selbstbestimmung rechtsstaatlich vereinbaren Weise realisiert, deren Erhalt im partikularen Interesse der Bürger liegt. Das können wir als politische Realisten nicht genug würdigen.

Der Marxismurx der vorerwähnten „Idealisten“ kultiviert demgegenüber – ob gut- oder bösgläubig – zwei, das ordnungspolitische Sozialkapital gefährdende Neigungen: Erstens, propagiert er einen gegenüber den Notwendigkeiten einzelstaatlicher Politik unduldsamen Menschenrechts-Universalismus, der die selbstverantwortliche Parteinahme für die je eigenen nationalen Interessen und Ideale als Symptom moralischer Verantwortungslosigkeit verurteilt. Zweitens, der Marxismurx macht den wohlstandsschaffenden Kapitalismus für die Übel der Welt verantwortlich und unterminiert mit diesem Feindbild (Kliemt 2019, Wirz 2018) die zugrundeliegende Konzeption individueller, rechtlich eingehegter Selbstverantwortung.

Die Vertreter des Marxismurx mögen gutwillig sein, aber der zivilisatorische Stellenwert dessen, was der bedeutende christdemokratische Ordnungstheoretiker der Gründerjahre der BRD, Franz Böhm (1966), treffend als „Privatrechtsgesellschaft“ bezeichnete, ist ihnen fremd. Sie verstehen nicht, dass gerade und nur durch die rechtsstaatliche Freistellung der Bürger von der Verantwortung für das Gemeinwohl „Freiheit und Wohlstand für alle“ vor allem in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg in einem Maß verwirklicht wurden, das sich zur Zeit des kommunistischen Manifestes niemand vorstellen konnte (Pinker 2012). Sie verstehen auch nicht, dass Selbstverantwortung genau das heißen muss, was der Name sagt und nicht, dass von anderen erwartet werden dürfte, „von selbst“ das zu tun, wofür man sie im Namen vorgeblich universeller Werte verantwortlich machen möchte.

Die Verfechter des Marxismurx kritisieren, dass ein Grundwohlstand nur für die, die in den freiheitlich-rechtsstaatlich organisierten Nationen leben, garantiert werden konnte, während es den meisten anderen Menschen dadurch zwar ebenfalls besser geht, aber nicht so wie den rechtsstaatlich privilegierten. Aber zählt es für nichts, wenn es wenigstens großen Mehrheiten der Menschen besser geht, nur weil nicht alle gleich profitieren?

Alle „Geflüchteten“ aufzunehmen, um sie an unserem Glück teilhaben zu lassen, würde das nicht korrigieren, sondern den freiheitlichen Rechtsstaat bei uns und auch das für den Rest der Welt Erreichte gefährden. Was immer die Vorzüge der vom Marxismurx – aber auch vom Anarchokapitalismus – geforderten Offenheit sein mögen, die meisten „Bestandsbürger“ werden – zumal in regellosen Formen der Zuwanderung – keinen Beitrag zum je eigenen Glück in ihr sehen. Die Bürger sind zu gewissen Opfern bereit, aber nicht zu jedem.

Fremde, an deren Zuzug Deutschland nicht ohnehin ein Interesse hat, nur unter der Bedingung dauerhaft aufzunehmen, dass andere EU Staaten dies ebenfalls tun, erscheint als Fairnessforderung. Große Wählergruppen empfinden es vernünftig auf ihr zu bestehen, während alles, was einen ungeregelten Zuzug begünstigen könnte, die Akzeptanz des Rechtsstaates bei signifikanten Gruppen von Bürgern unterminieren würde.

Seehofer und Verantwortung

Wenn jemand in der gegenwärtigen Flüchtlingskrise in einer Weise, die sich unter dem Aspekt der Rechtsstaatssicherung “verantworten” lässt, agiert, dann Horst Seehofer. Natürlich muss die EU gemeinsam handeln. Natürlich sollte sie akute Nothilfe leisten. Im übrigen muss sie eine nach den Maßstäben des Marxismurx zynische Flüchtlingspolitik betreiben, wenn sie den Rechtsstaat „dahoam“ und in der EU sichern will. Wollen die Regierungen der EU nicht die demokratische Unterstützung weiter Teile der Bürgerschaft für die Parteien des demokratischen Rechtsstaates riskieren, werden sie nicht nur den Widerstand rechtsstaatlicher Trampel unter den Regierungschefs der EU Mitgliedsstaaten in Rechnung stellen müssen, sondern die pluralen Meinungen der EU Bürger. Der Marxismurx erschwert dies, indem er eine demokratisch-rechtsstaatliche Selbstverständlichkeit als moralisch falsch diskreditiert.

Aus welchen Motiven der Innenminister insoweit richtig handelt, weiß ich nicht, aber als Anhänger des pluralen Rechtsstaats bin ich dankbar dafür, dass er auf der politischen Dimension der Realisierung jedes humanitären Großprojektes nach außen beharrt. Nach innen geht es darum, so viele Bürger wie nur möglich davon abzuhalten, sich innerlich vom Rechtsstaat zu entfernen. Darüber hinaus gilt es zu verhindern, dass die CDU/CSU mit dem Bestehen auf Vernunft in der Ausländerpolitik ihr eigenes Hartz IV erlebt und zwischen Mitte und AfD so zerrieben wird wie die SPD zwischen Mitte und Linker. Vermutlich würden andernfalls, wie im Fall der SPD, die Grünen und nicht die FDP zum Schaden einer rationalen Ausländer-, Umwelt- und Verteidigungspolitik davon profitieren.

So platt sie sein mag, ist die Formel, dass der plurale Rechtsstaat zwar nicht alles ist, aber ohne ihn alle anderen humanitären Anliegen nichts sind, trotzdem wahr. Diejenigen, die an Sachlichkeit und kritisch-rationaler instrumenteller Vernunft im politischen Diskurs unseres freiheitlich-demokratischen Rechtsstaates interessiert sind, sollten dem Marxismurx argumentativ entgegentreten. Seehofers pragmatischer Umgang mit der Katastrophe im (wie es kurioser Weise wohl neudeutsch heißen müßte) „Geflüchteten Lager“ Moria scheint allemal seiner politischen und moralischen Verantwortung besser gerecht zu werden als das, was die Anhänger des Marxismurx fordern. Moria ist räumlich und zeitlich begrenzt, der Marxismurx als rechtsstaatsgefärdender Feuilletonpopulismus allgegenwärtig.

Referenzen

https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2020/kw37-de-moria-791342

Böhm, Franz. “Privatrechtsgesellschaft Und Marktwirtschaft.” ORDO 17 (1966): 75–151.

Bovens, Luc und Adrien Lutz: ‚From Each according to Ability; To Each according to Needs‘: Origin, Meaning, and Development of Socialist Slogans; History of Political Economy 51 (2):237-57 (2019)

Jonas, Hans. Das Prinzip Verantwortung: Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag, 2003.

Kliemt, Hartmut. Rezension von “Wirz, Stephan, ed. Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen?“ in ORDO 10, 2019

Pinker, Steven. The Better Angels of Our Nature: Why Violence Has Declined. Reprint. New York Toronto London: Penguin Books, 2012.

Wirz, Stephan, ed. Kapitalismus – ein Feindbild für die Kirchen? 1. Auflage. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft mbH & Co. KG, 2018.

Hartmut Kliemt
Letzte Artikel von Hartmut Kliemt (Alle anzeigen)

2 Antworten auf „Am aktuellen Rand
Memento Moriae
Christdemokraten zwischen Neo-Marxismurx und Seehofer

  1. Besten Dank für Ihren Mut, sich als Intellektueller einem moralingeschwängerten Thema öffentlich auf rein rationaler Basis zu widmen. Ich hoffe für Sie und alle, die sich noch einen Rest von Vertrauen auf Argumente bewahrt haben, dass dieser Test nicht in einem empörungsgeladenen Shitstorm endet, sondern sich alle besinnen, das Wollen und Können nicht das Gleiche ist.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert