Die offene Gesellschaft vereinigt sich mit ihren Feinden?

Die Wiedervereinigung hat den Bevölkerungsanteil von Gegnern der offenen Gesellschaft erhöht. Das unabdingbare allgemeine Wahlrecht wird zusammen mit ungesteuerter Zuwanderung das demokratische Gewicht der Rechtsstaatsgegner stärken. Das ist auf Dauer gefährlich.

Rechtsstaatlichkeit und Demokratie – eine delikate Balance

Als es zur Wiedervereinigung kam, war viel von Demokratie und wenig von Rechtsstaatlichkeit die Rede. Viele verwendeten die beiden Begriffe entweder als Synonyme oder einfach nur als Signale des Wohlstands. Die sogenannte politische Klasse pflegte das Bewusstsein für das delikate Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Demokratie ebenfalls nicht. Das Scheitern der Weimarer Verfassung war nicht mehr lebendiger Gegenstand der Auseinandersetzung. Über die latente Gefährdung der Rechtsstaatlichkeit durch die an sich zu ihrem Erhalt notwendigen demokratischen Verfahren zu sprechen, kam und kommt vielmehr einem Tabubruch gleich. Es steht zu erwarten, dass auch am Tag der deutschen Einheit nicht an diesem Tabu gerüttelt werden wird. Dabei ist es höchste Zeit, nach dem unwillkommenen Weckruf des Angriffs auf die Ukraine, auch innenpolitisch aufzuwachen. Westliche Rechtsstaaten sind nicht nur von außen, sondern auch von innen latent gefährdet. Die BRD ist keine Ausnahme.

Helikopter Rechtsstaatlichkeit

Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte die BRD das unverdiente Glück, erste Schritte der Rückkehr zu Traditionen demokratischer Rechtsstaatlichkeit unter alliierter Oberaufsicht tun zu können. Auch wenn der erste Regierungswechsel auf Bundesebene von vielen Christdemokraten noch als illegitimer „Coup“ empfunden und von Teilen der Parteiführung auch als solcher stigmatisiert wurde, fand er 1969 statt. Danach konnte der rechtsstaatliche Rahmen in der BRD als grundsätzlich etabliert gelten.

Beim nächsten historischen Glücksfall, der der DDR unter wesentlicher Mitwirkung von Gorbatschow beschert wurde, vollzog sich der Übergang zur Rechtsstaatlichkeit ähnlich „undemokratisch“. Man verzichtete wie bei Gründung der ursprünglichen BRD darauf, der neuen gemeinsamen Rechtsordnung durch eine Volksabstimmung demokratische Weihen zu verleihen.

Rechtsstaatlichkeit und Grundgesetz wurden per westlichem Helikopter der vormaligen DDR übergestülpt. Das war nicht nur vom Standpunkt der Priorität der Rechtsstaatlichkeit her richtig. Es funktionierte auch gut angesichts des beträchtlichen Schmerzensgeldes für die vormaligen DDR-Bürger und der ohnehin durch Vorteile stets käuflichen vormaligen „sozialistischen Eliten“. Der zunächst nahezu reibungslose Übergang in die neue Grundordnung führte allerdings auch dazu, dass man Rechtsstaatlichkeit und freiheitliche Grundordnung als selbstverständliche Gegebenheiten ansah.

Frau Merkel war nicht nur selbst sorglos, sondern auch eine willkommene Projektionsfläche der allgemeinen Sorglosigkeit in diesen Belangen. Leider hatte und hat auch die traditionelle Partei des Rechtsstaats in Deutschland, die Sozialdemokratie, dem wenig entgegenzusetzen. Hätte der überzeugte Rechtsstaatler Willy Brandt anstelle der populistischen Formel „mehr Demokratie wagen“ doch nur von „mehr Freiheit wagen“ oder von „mehr Bügerrechte wagen“ gesprochen!

Erst polnische dann deutsche Richtungswahl?

Wie im öffentlich-rechtlichen Verlautbarungsfernsehen über die „polnische Richtungswahl“ berichtet wird, ist aufschlussreich. Es scheint so, als seien wir weit entfernt davon, uns mit Gefährdungen der Rechtsstaatlichkeit in polnischem Ausmaß auseinandersetzen zu müssen. In Polen, so heißt es, gibt es Mehrheiten für autoritäre Regierungsweisen, die eine Gefahr für die Demokratie darstellen. Die Vorstellung von der direkten Verbindlichkeit demokratischer Mehrheitsentscheidungen, die man ansonsten unkritisch pflegt, harmoniert allerdings nicht mit dieser Kritik an der Mehrheit der Polen. Vielleicht sind wir den Polen näher, als wir denken?

Politik wird wesentlich mit Worten gemacht. Deshalb ist es selbst ein Politikum, wenn ‚demokratisch‘ umstandslos mit ‚politisch gut oder richtig‘ identifiziert wird. Einfach das, was jemandem an der Demokratie nicht gefällt, als Populismus zu klassifizieren und das, was man selbst möchte, für demokratisch zu erklären, ist gefährlich. Es muss vielmehr öffentlich gesagt werden, dass Demokratie für den Anhänger individueller Freiheiten und Rechtsstaatlichkeit nicht erstrebenswert ist, es sei denn, es handelt sich um rechtsstaatlich gezähmte konstitutionelle Demokratie.

Was das politische Ideal der rechtsstaatlich gezähmten Demokratie anbelangt, ist keineswegs vollkommen klar, wo die Mehrheiten, bei uns liegen. Und selbst dann, wenn es in der BRD immer noch hinreichend viele hinreichend einflussreiche Bürger gibt, die die rechtsstaatliche, begrenzt demokratische Grundordnung unterstützen, gibt es keine Garantie, dass das so bleibt. Eine Gefährdung ist vor allem dann abzusehen, wenn wir weiterhin eher rechtsstaatsferne, autoritären Regierungsformen zugeneigte Zuwanderer bei uns aufnehmen.

Die Aufnahme der DDR-Bürger war auch eine Aufnahme von in höherem Anteil rechtsstaatsfernen Bevölkerungsgruppen. Wenn die AfD insbesondere in den Gebieten der früheren DDR so viel Zulauf hat, dann hat das gewiss damit zu tun, dass von 1933 bis 1989 die Erfahrungen der Bürger alles andere als rechtsstaatlich waren. Der Anteil von die Linke und AfD in den Neuen Bundesländern spricht eine deutliche Sprache.

Wieviel rechtsstaatsferne Bürger kann ein demokratischer Rechtsstaat aushalten?

Die AfD wird gewiss dann ernsthaft gefährlich für die Rechtsstaatlichkeit werden, wenn es ihr gelingt, die zweiten, dritten und spätere Generationen von Zuwanderern, die durchaus autoritäre Neigungen nicht nur in der Familie pflegen, für ihre autoritären Politikideale zu gewinnen. Bislang hat die AfD zum Glück für die Anhänger der Rechtsstaatlichkeit den Schlüssel zu einer derartigen großen Koalition nicht gefunden; u.a. weil dem die dumpfe Fremdenfeindlichkeit ihrer Kernklientel entgegensteht. Das könnte sich jedoch ändern.

In jedem freiheitlichen Rechtsstaat wachsen nicht nur durch Zuwanderung, sondern auch hausgemacht Gegner der Rechtsstaatlichkeit heran, die ihr Wahlrecht gegen rechtsstaatliche Regeln einsetzen werden, wenn dies mit demokratisch organisierten Mehrheiten möglich ist. Dagegen müssen Vorkehrungen getroffen werden, die das allgemeine Wahlrecht und die offene Parteienkonkurrenz nicht infrage stellen. Gewaltenteilung und vor allem auch starke föderale Strukturen zwischen Rechtsstaaten können hier womöglich helfen. Das spricht für eine Stärkung des innerdeutschen wie des europäischen Föderalismus. Eine Entwicklung in diese Richtungen wird jedoch nicht möglich sein, wenn die bisherige unkontrollierte Zuwanderung nicht gestoppt wird.

Der Tag der Wiedervereinigung sollte Anlass dazu sein, zur Besinnung zu kommen. Wenn wir nicht nur mit den Bürgern der DDR, sondern mit allen, die zu uns drängen, in einem gemeinsamen Deutschland leben wollen, dann werden wir am Ende wahrscheinlich eine Art autoritäres „Großdeutschland“ neuer Form bekommen. Die Freiheit verlangt, Intoleranz gegen die Intoleranten zu üben einschließlich der intoleranten Demokraten.

Denjenigen, die meinen, dass nicht alles so heiß gegessen, wie gekocht wird, ist zwar im Prinzip zuzustimmen; aber es gilt auch, dass ein einmal verlorenes Humankapital der Unterstützung von Rechtsstaatlichkeit nur schwer zurückzugewinnen ist. Dann kann es noch länger als bis zur endgültigen Wiedervereinigung dauern; denn

“(i)n establishing the rule of law, the first five centuries are always the hardest.”

Gordon Brown in einer Rede vor der Weltbank… zitiert nach Basu, Kaushik. The Republic of Beliefs: A New Approach to Law and Economics. Reprint edition. Princeton University Press, 2018.

Hartmut Kliemt
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