In der Pandemie hat das RKI unter Leitung von Lothar Wieler viele Aufgaben gewiss zufriedenstellend erfüllt. Herr Wieler hat es aber nicht vermocht, seine öffentlichen Stellungnahmen zum Stand der Wissenschaft von Werturteilen politischer Art hinreichend zu trennen. Wieweit er dies zu verantworten hat, kann hier dahingestellt bleiben. Angesichts seines Ausscheidens besteht jedenfalls Anlass, über die angemessene Rolle von staatlich gesponserten wissenschaftlichen Instituten und der sie vertretenden Wissenschaftler(innen) politisch nachzudenken. Angesichts der zunehmenden Möglichkeiten wissenschaftlicher Politikvorbereitung wären gewisse Reformen des RKI eine gemeinwohlsichernde Maßnahme.
Selbstauskünfte von Wissenschaftlern und wissenschaftliche Auskünfte über Wissenschaft
Insgesamt haben Wissenschaftler in der Covid-19 Krise viel zu bereitwillig darüber Auskunft gegeben, welche Politik sie empfehlen würden. Solche persönlichen Werturteile von Experten, stehen diesen frei und können für die Öffentlichkeit von Interesse sein. Aber das ändert nichts daran, dass diese Urteile nicht Auskunft über den Stand der Wissenschaft geben: sie sind vielmehr nur Selbstauskünfte über das Resultat einer letztlich nicht wissenschaftlich fundierten persönlichen Wertabwägung der betreffenden Wissenschaftler(innen-gruppen).
Eine sich in gesundheitlichen Krisenszenarien dynamisch entfaltende Erkenntnislage, samt der ihrer Feststellung zugrundeliegenden Methoden im Zeitablauf öffentlich und transparent zu dokumentieren, wäre an sich die vornehmste Aufgabe des RKI. Eine klarere derartige politische Vorgabe würde es dem RKI erlauben, die Feststellungen zum Stand der Wissenschaft autonom zu treffen und qualitätssichernder wissenschaftlicher Kritik unabhängiger Wissenschaftler auszusetzen. Die daraus entstehende öffentliche Transparenz der den Güterabwägungen der Politik zugrundeliegenden Sachstände würde es erleichtern, die Politik für das verantwortlich zu machen, was sie wirklich zu verantworten hat und es ihr zugleich nicht erlauben, sich für ihre eignen Wertungen auf Wissenschaftler-Wertungen zu berufen.
Die Pandemie als Beispiel
Konkret war es zu Beginn der Pandemie etwa von besonderem Interesse, wissenschaftliche Auskunft darüber zu erhalten, ob alle Bürger gleich gefährdet waren. Ebenso waren Inforationen darüber von Interesse, wer das größte Gefährdungspotential für andere darstellte – z.B. als ‚super-spreader‘ in Netzwerken (Ferguson 2021). Was sagten die jeweils verfügbaren Daten über gruppenspezifische Übersterblichkeit? Worüber waren sich die Wissenschaftler relativ einig und worüber nicht und aus welchen Gründen? Welche stilisierten Zukunftsszenarien konnte man evidenzbasiert aus Sicht solcher Institutionen wie dem RKI erwarten? Wie groß war eigentlich das Unwissen, zu den Zeitpunkten zu denen Entscheidungen zu treffen waren?
Nur dann, wenn man die Antworten auf solche Fragen kennt oder wenigstens weiß, inwieweit diese Fragen keine wissenschaftlich verlässlichen Antworten haben, kann man die zu treffenden Entscheidungen und die relative Rolle der in sie eingehenden Werturteile einschätzen. So gehört etwa die Entscheidung, jedes menschliche Leben altersunabhängig und unabhängig vom eigenen Vorverhalten grundsätzlich als gleich schützenswert anzusehen, zu den öffentlichen Wertvorgaben unseres Rechtsstaates. Aber selbst dann, wenn man diese rechtliche Wertvorgabe fraglos akzeptiert, bleibt es notwendig, aufgrund der prognostizierten Entscheidungsfolgen wertbasierte Güterabwägungen vorzunehmen, über die man geteilter Meinung sein kann — und in der Pandemie auch verbreitet unterschiedlicher Auffassung war.
Als es beispielsweise um Priorisierungsreihenfolgen beim Zugang zu noch nicht hinreichend verfügbaren Impfstoffen ging, waren die vertretbaren Meinungen sehr unterschiedlich. Ebenso konnte man darüber geteilter Meinung sein, ob ein allgemeiner Lockdown gerechtfertigt war, um eine wissenschaftlich evidenz-basiert prognostizierte Übersterblichkeit in bestimmten Personengruppen einzudämmen. Diese Entscheidungen waren nicht ‚alternativlos‘ und belasteten unterschiedliche Gruppen unterschiedlich.
Mögliche Rechtfertigungen hingen nicht nur von Wertabwägungen, sondern ganz entscheidend von empirischen Annahmen über Folgen alternativer Maßnahmen ab. Wissenschaft konnte hilfreich sein, um die Folgen unterschiedlicher Politiken abzuschätzen. Wissenschaftliches Faktenwissen konnte aber nichts dazu beitragen, die Güterabwägungen selbst zu rechtfertigen. Etwas gegenteiliges zu suggerieren, liegt weder im Interesse der Wissenschaft noch der Bürger. Lang- und mittelfristig ist transparente Information über wissenschaftlich vermutbare Alternativkosten, also über Alternativen, die man opfert, wenn man etwas anderes tut, die einzige mit den Öffentlichkeitsanforderungen der Rechtsstaatlichkeit vereinbare Strategie.
Grundfehler des RKI in der Öffentlichkeitsdarstellung in der Pandemie
Vertreten durch Herrn Wieler hat das RKI den Fehler begangen, nicht deutlich zu machen, welche Auskünfte es evidenz-basiert auf der Basis von empirischer Forschung (innerhalb gewisser Konfidenzintervalle etc.) geben konnte und welches letztlich nur Auskünfte über die institutionell und persönlich vorherrschenden Werturteile von Angehörigen des RKI waren. Das hat es Politikern unnötig erleichtert, Wertabwägungen vom RKI ‚ratifizieren‘ zu lassen. Der Ausstellung solcher ‚Persilscheine‘ kann man politisch nur dann wirksam entgegenwirken, wenn man das RKI nur als eine Art wissenschaftlicher Clearing-Stelle wirken lässt.
Ein so verstandenes RKI hat die Aufgabe, wissenschaftliche Evidenz zunächst nur nach methodologischen Gesichtspunkten und Werturteilen zu beurteilen. Es ist im übrigen zur Trennung der Sachevidenz von nicht-wissenschaftlichen substantiellen Werturteilen zu verpflichten.
Diese Trennung ist schwierig, weil in die Abwägung, welche wissenschaftliche Evidenz empirisch-wissenschaftlich beim jeweiligen Stand der Erkenntnis als überzeugend zu gelten hat, Wertungen eingehen. In diesem innerwissenschaftlichen Sinne hängt die Momentaufnahme ‚des‘ Standes ‚der‘ Wissenschaft von Werten ab. Aber die für diese Entscheidung relevanten, vornehmlich methodologischen Wertungen liegen auf einer anderen Ebene als die Frage, welche substantiellen Ziele und Werte mit dem methodologisch als überzeugend gewerteten — und zum Beispiel am Eintreten der Prognosen prüfbaren technologischen Wissen – zu verfolgen sind (vgl. Albert 1968).
Das RKI ist nicht der nationale Ethikrat
Das RKI muss sich vom Ethikrat fundamental unterscheiden, wenn es seiner Funktion gerecht werden soll. Der Ethikrat, in dem die Vermischung der Bereiche von Wissenschaft und Wertung systematisch angelegt ist, kann kein wissenschaftlich respektables Gremium sein, sondern allenfalls ein Forum, in dem Wissenschaftlermeinungen und -wertungen ausgetauscht werden.
Der Ethikrat mag ein wertverständiges Gremium sein. Er kann wissenschaftlich wertbegründend für außer-wissenschaftliche Wertungen nicht wirken. Das kann man nur in Anspruch nehmen, wenn man den Wissenschaftsbegriff so aushöhlt, dass die intersubjektive Verlässlichkeit der Wissenschaft verloren geht. Denn die Verlässlichkeit der Wissenschaft beruht darauf, dass man methodologische Werte und Ziele der Wissenschaft respektiert, um wirksam zwischen Werten und Fakten unterscheiden zu können (zur zentralen Rolle des Faktenbegriffs für die Entwicklung der Wissenschaft als Entdeckungsverfahren vgl. Wootton 2016).
Ein wissenschaftlicher Faktenbegriff ist letztlich das Einzige, was uns vom Abgrund der alternativen Fakten trennt. Das ist eine Lehre, die insbesondere auch die Ökonomen unter uns beherzigen sollten.
Literatur zur Wissenschaftlichkeit und ihrer Rolle in der Gesellschaft
Albert, Hans. Traktat über kritische Vernunft. Tübingen: Mohr, 1968.
Ferguson, Niall. Doom: Die großen Katastrophen der Vergangenheit und einige Lehren für die Zukunft. Übersetzt von Jürgen Neubauer. München: Deutsche Verlags-Anstalt, 2021.
Wootton, David. The Invention of Science: A New History of the Scientific Revolution. London: Penguin, 2016.
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