Sind wir nicht alle ein bisschen Millionär?

Seit sich die Finanzkrise immer mehr in Richtung der Staatsverschuldung bewegt, werden aus verschiedenen Richtungen wieder Stimmen lauter, die eine stärkere fiskalische Belastung von Vermögen fordern. Nun ist dieses Ansinnen an sich nicht neu, aber die Veränderung der politischen Mehrheitsverhältnisse und uno actu der Erfolgsaussichten entsprechender Vorstöße in einigen europäischen Ländern legt immerhin nahe, über ein Problem nachzudenken, das leider nur sehr selten in diesem Zusammenhang thematisiert wird.

Bei der Frage, was als „Vermögen“ für die Bemessungsgrundlage einer entsprechenden allgemeinen Steuer oder Abgabe heranzuziehen ist, wird nämlich ein Bereich zumeist ausgeblendet, obwohl dieser für die meisten Bürger den Hauptteil ihres Vermögens ausmacht: Das Humankapital. Die Fähigkeit, über lange Zeiträume Einkünfte aus eigenem Handeln zu generieren, ist ein elementarer ökonomischer Vermögenswert. Wer dies bezweifelt sei neben dem gesunden Menschenverstand auch an den Umstand erinnert, dass die Humankapitaltheorie zum nobelpreisgekürten Teil der Ökonomie gehört und in ihren grundsätzlichen Strukturen nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt wird.

Immerhin gibt es auch einige wissenschaftliche Quellen, die auf die Problematik hinweisen. Sie reichen von Forschungsarbeiten, die auch nichtmonetäre Nutzenkomponenten von Vermögen berücksichtigen (vgl. etwa Dirk Kiesewetter, Zinsbereinigte Einkommen- und Körperschaftsteuer, S. 24) bis hin zur Standardliteratur. So taxiert Stefan Homburg in der 6. Auflage seines Lehrbuchs „Allgemeine Steuerlehre“ (S. 132 f.) in einem Beispiel das Humankapital eines hochrangigen Beamten, der noch viele Dienstjahre vor sich hat, auf knapp 2 Millionen Euro und hält den Umstand, dass hier im Gegensatz zu einem Aktienkapital in gleicher Höhe kein fiskalischer Zugriff erfolgen würde, für die gravierendste Ungleichmäßigkeit einer Vermögensteuer. Nun muss man bei solchen Beispielen immer Vorsicht walten lassen, aber einige Aspekte lassen sich fraglos verallgemeinern:

  • Der Barwert zukünftiger Arbeitseinkommen steigt mit fallenden Zinsen und aktuell liegt in Deutschland ein sehr niedriges Zinsniveau vor (die von Stefan Homburg angesetzten 5% liegen etwa doppelt so hoch wie die derzeitige Rendite längstlaufender Bundesanleihen), so dass heute besonders hohe Humankapitalwerte resultieren.
  • Auch deutlich weniger als Homburgs Beispielbeamter verdienende Zeitgenossen kommen bei einer finanzmathematischen Berechnung des Humankapitals auf Werte im höheren sechsstelligen Bereich, die deutlich oberhalb der momentan genannten Freibeträge liegen, und würden damit in die Vermögensteuerpflicht laufen.
  • Will man sich mit hier nicht weiter erörterten Problemen einer genaueren Berechnung vor einer Erfassung drücken, heißt dies nichts Anderes, als dass man exakt null Euro für einen Vermögenswert unterstellt, der deutlich oberhalb des Durchschnitts selbst bewohnter Eigenheime oder anderer für die Bemessung jener Freibeträge mitunter ins Feld geführter Ausnahmesachverhalte liegt – für eine Besteuerung nach dem Gleichheitssatz von Art. 3 Abs. 1 GG, wie sie das Bundesverfassungsgericht nicht zuletzt in seiner für die Änderung der Erbschaft- und Schenkungsteuer relevanten Entscheidungen (Az.: 2 BvR 552/91, 1 BvL 10/02) nachdrücklich gefordert hat, ein untragbarer Zustand.

Nun werden vielleicht manche Anhänger einer stärkeren Belastung von Vermögen, die Humankapital weiter fiskalisch verschont lassen wollen, ins Feld führen, dass die Zahlen bei einem nahen Ende des Berufslebens ganz anders aussehen und angesichts der demographischen Entwicklung viele Bürger einer insoweit drohenden Steuerpflicht „entwachsen“ sind oder dies in absehbarer Zeit sein werden. Tatsächlich hilft diese Überegung aber nur bedingt weiter, denn zukünftige Arbeitseinkommen werden im Zeitverlauf zunehmend durch Anwartschaften auf entsprechende Ruhestandsbezüge substituiert, die selbstverständlich ebenfalls einen erheblichen Vermögenswert darstellen.

Dieser wird nun sogar in vielen Fällen unmittelbar ermittelt, z.B. wenn für die betriebliche Altersversorgung Rückstellungen gebildet werden müssen, die im Falle einer Vermögensteuer auf betrieblicher Basis übrigens die dortige Bemessungsgrundlage entsprechend kürzen würden. Gemäß der Homepage des Pensionssicherungsvereins (http://www.psvag.de/framesets/wir2.html) betrug der Kapitalwert der unter Insolvenzschutz stehenden Versorgungsverpflichtungen zum 31.12.2011 rd. 295 Mrd. €. Bedenkt man, dass hier nur eine „Zusatzrente“ für einen Teil der deutschen Arbeitnehmer adressiert ist, wird schnell klar, dass man die gesamte Vermögensmasse aus Anwartschaften für Altersruhegelder noch eine Zehnerpotenz höher suchen muss. Für den Einzelnen steigt der Wert dieses Vermögens in der Beitragsphase und schmilzt in der Bezugsphase entsprechend ab, doch werden für viele Bürger über Jahrzehnte ebenfalls sechsstellige Summen erreicht. Diese im Fall einer potenziellen Vermögensteuer zu negieren hieße erneut, eine Ungleichheit zu propagieren, die mit den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts schwer in Einklang zu bringen ist. Warum soll ein Freiberufler, der den über eine konventionelle Ersparnisbildung (man denke dabei nur an Bundesanleihen!) erzielten Betrag an seinem 65. Geburtstag in eine private Rentenversicherung einzahlt, gegenüber der Altersversorgung von Arbeitnehmern steuerlich diskriminiert werden?

So bleibt denn nur noch ein letzter Aspekt, den Anhänger einer Vermögensbesteuerung für die Herausnahme von Humankapital aus der Bemessungsgrundlage allfälliger Belastungen heranziehen könnten: Es kann immer nur um Reinvermögen gehen und daher sind die Restitutionskosten des Humankapitals entsprechen in Abzug zu bringen, wenn man dies nicht bereits bei den zukünftigen Einnahmen berücksichtigt hat. Anders formuliert: Das Humankapital geht unter, wenn sein Träger verhungert. Eine entsprechende Überlegung kann man ökonomisch auch dem Grundfreibetrag der Einkommensteuer von derzeit 8.004 € zuordnen. Kapitalisiert man diesen analog der Barwertbestimmung zukünftiger Einnahmen, so ergibt sich ein Maximum, das in etwa dem häufig genannten Vorschlag von 250.000 € als Freibetrag für Vermögensabgaben gleich welcher Ausgestaltung entspricht. Also muss auch hier keine weitere Adjustierung vorgenommen werden, um das Humankapital in die Bemessungsgrundlage einzubeziehen, zumal der anzusetzende Barwert mit steigendem Alter selbstverständlich sinkt.

Letztlich ergeben sich aus alledem zwei Botschaften. Die gute zuerst: Wir sind alle reicher als zumeist vermutet, gar nicht so selten sogar Millionäre! Dann aber die schlechte: Setzen sich die Befürworter einer stärkeren fiskalischen Belastung von Vermögen durch, müsste nach den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts zur gleichmäßigen Besteuerung auch diese Form von Reichtum in die Bemessungsgrundlage allfälliger Abgaben einfließen – naja, Verfassungsrichter sind einerseits hochbezahlte Beamte, aber andererseits auch nur Menschen, weshalb man nicht ausschließen kann, dass sie die Gleichmäßigkeit in eigener Sache dann bei Vorlage einer potenziellen neuen Regelung doch nicht so eng sehen werden.

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