Die neue Endlagerungsdebatte

Offenkundig wird die Umsetzung einer EU-Richtlinie zur Gestaltung der Endlagerung von Nuklearabfällen auch den Export solcher Abfälle in (Nicht-EU-)Länder ermöglichen, sofern im Empfängerland EU-Sicherheitsstandards erfüllt sind. Es wurde sogleich die Vermutung geäußert, dass man vorhabe, Nuklearabfälle nach Russland zu exportieren. Da vielen der Export von „sündigem Abfall“ in andere Länder als völlig unannehmbar erscheint, hat diese Vermutung – wie von den „Vermutenden“ vermutlich intendiert –sofort zu Gegenreaktionen geführt. Sogar Ministerien sehen sich schon jetzt veranlasst, zu dementieren, dass man die Endlagerung von Nuklearabfällen im Ausland überhaupt in Erwägung ziehe. Wir sollten uns solche Denkverbote jedoch nicht aufzwingen lassen. Es könnte sich im Falle einer Endlagerung in Russland tatsächlich um eine ziemlich gute Idee handeln, deren Für- und Wider wir ernsthaft erörtern sollten.

Auf nach Russland?

Zunächst ist festzuhalten, dass die Atommacht Russland ohnehin aufgrund ziviler und mehr noch militärischer Aktivitäten Nuklearabfälle in großem Umfang angehäuft hat. Sie wird in jedem Falle Sorge tragen müssen, russische Nuklearabfälle zu lagern. Die Vermutung, dass dies aufgrund geologischer und demografischer Bedingungen in Russland mit geringeren Risiken für Menschen und Umwelt geschehen kann als anderswo, ist hochgradig plausibel (müsste aber im einzelnen belegt werden). Wenn wir also gegen angemessene Zahlungen eine Endlagerung von Nuklearabfällen deutscher Herkunft in Russland vornehmen könnten, spräche ökonomisch ziemlich viel dafür, den entsprechenden komparativen Vorteil der Russischen Union wahrzunehmen. Die Dienstleistung der Entsorgung von Nuklearabfällen sollte von jenen erbracht werden, die sie zu den geringsten Kosten und mit den geringsten Risiken für Dritte erbringen können.

Angesichts der generellen Wegelagerer-Mentalität der russischen politischen Führung wäre im übrigen auch damit zu rechnen, dass wir angemessene Preise für die Dienstleistung zahlen müssten und keineswegs einen politisch schwächeren Partner ausbeuten würden. Die bislang nur unzureichend berücksichtigten Kosten der Entsorgung bekämen einen klaren Wert.

Steigert der Export von Nuklearabfällen Risiken in Russland?

Dadurch, dass Nuklearabfälle aus deutschen Quellen nach Russland exportiert würden, würde in keinem Falle das Risiko einer möglicherweise gegen deutsche Interessen gerichteten militärischen oder terroristischen Fehlverwendung – im Vergleich zu den ohnehin schon bestehenden einschlägigen Risiken – erhöht werden. In dem Augenblick, in dem die Beseitigung bzw. Lagerung von Nuklearabfällen für die russische Seite von kommerziellem Wert wäre, würde die russische Regierung aus Interesse an den betreffenden Aufträgen gewiss auch bereit sein, gewisse Sicherheitsstandards „zertifizieren“ zu lassen. Dies würde vermutlich auch auf die Beseitigung der russischen Eigenabfälle einen positiven Einfluss haben können. Die Beauftragung mit der Entsorgung muss jedenfalls – wie auch im Gesetz vorgesehen – an die Einhaltung bestimmter Standards geknüpft werden.

Angesichts des Umfangs der in Russland ohnehin aufgehäuften Nuklearabfälle ist allerdings in keinem Falle anzunehmen, dass durch eine zusätzliche Lieferung aus deutschen Beständen qualitativ relevante Zusatzrisiken entstehen könnten. Im Falle von hoch-toxischen Nuklearabfällen scheint es ganz im Gegenteil eher vorteilhaft zu sein, wenn die Lagerung möglichst zentral erfolgt. Wenn es z.B. nur einen einzigen zu bewachenden Ort dieser Art gibt, kann man die Aufmerksamkeit auf die Überwachung dieses Ortes konzentrieren. Sowohl der Diebstahls- als auch der Umweltschutz werden dann besser sein.

Ob die russische Seite dazu in der Lage ist, verantwortungsvoll mit einer solchen Aufgabe umzugehen, wissen wir nicht. Da Staaten allgemein dazu neigen, in bestimmten Bereichen zu versagen und ganz sicher die Russische Republik eine Neigung zu ausgeprägtem Staatsversagen hat, muss man insoweit vielleicht skeptisch sein. Aber dadurch, dass wir Nuklearabfälle nach Russland exportieren, werden wir kaum das Risiko eines Staatsversagens in der Bewachung und Betreuung von Nuklearabfällen steigern. Russland wird zur angemessenen Endlagerung so gut oder so schlecht in der Lage sein, wie es die russische Politik zulässt. Wenn überhaupt, dann dürfte die Beauftragung Russlands zur Endlagerung von westeuropäischem Nuklearabfall einen positiven Aufmerksamkeitseinfluss haben und eher zu mehr als zu weniger Sicherheit gerade auch der ohnehin betroffenen Russen führen.

Warum nach Russland und nicht nach Argentinien?

Es bleibt die politisch-moralische Frage, ob wir nicht eine direkte Verantwortung gegenüber der Bevölkerung Russlands haben. Demokratische Rechtsstaaten können sich nicht einfach darauf berufen, dass sie Verträge mit souveränen Staaten als Vertretern von deren Bürgern schließen. Wenn es darum geht, erlaubte Akte von unerlaubten zu trennen, kann man nicht einfach sagen, dass die Bürger eines Staates von ihrer Regierung stets so hinreichend vertreten werden, dass man den Bürgern von ihren Regierungen eingegangene Vertragsverpflichtungen moralisch und rechtlich zurechnen darf.

Es ist nützlich, Russland und Argentinien zu vergleichen, um die zentralen politisch-moralischen Fragen besser in den Blick zu bekommen. Beginnen wir mit der Zeit als Argentinien noch von einer Junta von Generälen regiert wurde. Damals wäre es vollkommen unangemessen gewesen, mit der argentinischen Regierung einen Vertrag zu schließen, Nuklearabfälle beispielsweise in Patagonien zu lagern. Dort wären sie zwar nicht aus der Welt, doch hinreichend fern von größeren zivilisatorischen Einrichtungen und Gebieten mit hoher Besiedlungsdichte gewesen. Die Risiken für konkrete Personen wären relativ gering gewesen. Und insoweit hätte man es mit einer erwägenswerten Idee zu tun gehabt.

Es wäre sogar denkbar gewesen, die wenigen Einwohner der betroffenen Gebiete so hoch zu entschädigen, dass sie freiwillig einer entsprechenden Regelung zugestimmt hätten. Trotzdem wären einschlägige Verträge mit den an der Regierung befindlichen Strolchen für uns keine hinreichende Rechtfertigung für einen Export von Nuklearabfällen nach Feuerland gewesen. Den Regierenden fehlte die Legitimation, die ein Rechtsstaat wie die Bundesrepublik aus internen rechts-ethischen Gründen für solche Verträge einzufordern hat. Sie hätten zudem auch die in den entsprechenden Gebieten ansässige Bevölkerung um etwaige Kompensationszahlungen betrogen. Was das Letztere anbelangt, stehen auch die jetzigen gewählten Strolche nicht viel besser da. Dennoch hätten Verträge mit der Regierung von Argentinien als einem demokratisch-rechtsstaatlichen System ein gewisses rechtfertigendes Gewicht.

Doch selbst dann, wenn es eine perfekt demokratisch-rechtsstaatliche Ordnung im Falle Argentiniens gäbe, würde deren Existenz als Legitimation für die Endlagerung importierten Nuklearabfalls in Argentinien nicht ausreichen. Denn anders als in Russland würde man ein langfristiges Risiko ohne hinreichende Zustimmung der jeweils betroffenen Bevölkerung durch den Export von Nuklearabfällen  allererst erzeugen. Es träfe gerade nicht zu, dass es nicht zu einem neuen Risiko käme.

Die demokratisch rechtsstaatlichen Institutionen Russlands – vor allem das Justizsystem – sind gewiss schlechter entwickelt als die entsprechenden argentinischen Institutionen. Insoweit haben Verträge mit der russischen Regierung geringeres legitimatorisches Gewicht als solche mit der argentinischen Regierung. Im Unterschied zur Situation in Argentinien ist Russland jedoch von je her Nuklearmacht gewesen und zugleich diejenige, die vermutlich den meisten Nuklearabfall überhaupt angehäuft hat. Insoweit ist in Russland das Kind ohnehin in den Brunnen gefallen. Bei nüchterner Betrachtung entsteht kein relevantes zusätzliches Risiko durch den Export von Nuklearabfällen, sondern allenfalls eine Minderung von Risiken. Gegenüber dem einzelnen heute oder in Zukunft existierenden Russen ist der Export von deutschen Nuklearabfällen nach Russland insoweit grundsätzlich moralisch vertretbar.

Zum guten oder schlechten Schluss

Dadurch, dass wir über längere Jahre einen größeren Anteil unserer Energie auf der Basis von Nuklearstrom produziert haben, haben wir immerhin weniger Umweltverschmutzung durch CO2 produziert. Den möglichen negativen externen Effekten einer Entsorgung müssen die positiven externen Effekte reduzierte Produktion von Treibgasen in der Bilanz gegenüber gestellt werden. Das wird gern übersehen. Zugleich trifft aber auf jeden Fall zu, dass bestimmte Kosten vermutlich nicht hinreichend eingerechnet wurden. Der Export nach Russland würde dazu führen, dass endlich auch ein klarer Entsorgungspreis bekannt würde und dann echte Kosten zugerechnet werden könnten.

Mittlerweile haben auch grundsätzliche Befürworter der Nuklearenergiegewinnung es aufgegeben, überhaupt noch über Nuklearstromproduktion in Deutschland nachzudenken. Der vollkommene und recht überstürzte Verzicht auf die Atomenergie ist ökonomisch und ökologisch vermutlich unvernünftig. Dieser Verzicht ist zugleich gegenwärtig politisch der einzige vernünftige Weg. Es zeichnet Frau Merkel aus, dass sie in dem Augenblick, als diese politische Erkenntnis unabweisbar schien, konsequent  und vermutlich durchaus gegen ihren eigenen Sachverstand (wie sollten sich statistische Vermutungen durch einen Unfall wie Fukushima ändern können!) politisch vernünftig gehandelt hat.

Politik ist in der Tat die Kunst des Möglichen. Unsere Verantwortung als Bürger ist es, der Politik vernünftiges Handeln zu ermöglichen. Die Offenheit der Debatte gegenüber Tabuisierungsversuchen zu sichern, ist eine Verantwortung, der auch der einzelne Bürger dadurch nachkommen kann, dass er abweichende Meinungen äußert. Nur so können vernünftige Lösungen entwickelt werden und schließlich praktisch möglich werden. Dieser Beitrag versteht sich nicht als Plädoyer für einen Export von Nuklearabfällen. Er fordert allein dazu auf, diese Alternative ernsthaft zu diskutieren und sie nicht dogmatisch von der Hand zu weisen.

 

Hartmut Kliemt
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