Felipe Santana, Michel Ortega, Nando Rafael oder Baba Rahman – die Namen dieser vier Spieler stehen für zahlreiche Fußballer, die aus Entwicklungs- bzw. Schwellenländer (hier: Brasilien, Kolumbien, Angola oder Ghana) stammen und in der ersten oder zweiten Fußball-Bundesliga für die hiesigen Vereine (Dortmund, Leverkusen, Augsburg und Greuther Fürth) antreten. Aus den Entwicklungsländern Afrikas oder den lateinamerikanischen Schwellenländern migrierte Fußballer, die in der deutschen Bundesliga, sowohl in der ersten Liga, als auch den unteren Ligen antreten, sind kein Ausnahmephänomen.
Aber nicht nur in Deutschland, auch in anderen europäischen Ländern, wie z. B. England oder Frankreich, spielen vermehrt ausländische Spieler. So erklärte der englische Mittelfeldspieler Steven Gerrard nach der Niederlage gegen Kroatien und dem damit verbundenen Scheitern in der Qualifikation für die Euro 2008: „I think there is a risk of too many foreign players coming over, which would affect our national team eventually if it’s not already. It is important we keep producing players“ (Kuper und Szymanski, 2009: 14).
Jedoch nicht nur aus Sicht der Industrieländer, die die ausländischen Spieler beschäftigen, sondern auch aus Sicht der die Spieler zur Verfügung stellenden Länder wird die Migration der eigenen Sportler kritisch betrachtet, weshalb international (z. B. auch von der FIFA) Überlegungen angestellt werden, wie die Wanderungsbewegungen eingeschränkt werden können. Ob solche Einschränkungen aber auch notwendig sind, soll im folgenden diskutiert werden.
Analog zur Abwanderung (sehr) gut ausgebildeter Arbeitskräfte von Entwicklungs- oder Schwellenländer in Industrienationen – dem Brain Drain – wird das Phänomen der Abwanderung junger sportlicher Talente in professionelle Vereine der Industrienationen als Muscle Drain bezeichnet. Eine Wanderungsbewegung findet also auch in diesem Sektor nicht nur innerhalb eines Landes statt, sondern, wie allgemein auf dem Arbeitsmarkt, über Ländergrenzen hinweg. Angesichts des hohen Ausländeranteils insbesondere im Fußball, der in einigen Mannschaften innerhalb der Europäischen Fußballigen schon 100% betragen hat, ist die Migration im Sportsektor ein im Vergleich zu anderen ökonomischen Sektoren ein sehr bedeutendes Phänomen. Aber nicht nur im Fußball lassen sich vor allem Bewegungen von Lateinamerika bzw. Afrika nach Europa identifizieren: So finden nennenswerte Wanderungsbewegungen auch im Eishockey (von den osteuropäischen Ländern in die USA/Kanada), im Baseball (aus Zentralamerika in die USA/Kanada) oder im Basketball (Lateinamerikanische Spieler werden vermehrt in die Amerikanische NBA abgeworben) statt.
Die Gründe für Sportler, ihr Heimatland zu verlassen, um die athletische Leistung in den Ligen/Vereinen der Industrienationen zu erbringen, liegen neben der besseren athletischen Infrastruktur, die die Industrieländer bieten können, vor allem im Lohngefälle: So kann ein Fußballer, spielt er für Bayern München, durchschnittlich einen Jahreslohn von 4,5 Mio. Euro erzielen, was ähnlich dem Jahresdurchschnittsgehalt der Spieler von Manchester City in der Premier League ist (Stat. Bundesamt, 2011). Dagegen erhält ein brasilianischer Spieler durchschnittlich ein Jahresgehalt von 12.000 Euro, ein afrikanischer kann hingegen nur etwa 2.000 bis 5.000 Euro pro Jahr erzielen (Andreff, 2011).
Dabei ist der Muscle Drain kein neues Phänomen. Schon seit Etablierung der Fußball-Weltmeisterschaften in 1930 existiert ein Markt für internationale Fußballtalente – auch aufgrund von Migrationsbewegungen der jüngeren Generationen in das Heimatland der Elterngeneration (Kolonialbeziehungen spielen hier eine große Rolle). So spielte in der Deutschen Bundesliga bereits 1976 der erste Spieler afrikanischer Herkunft: Ibrahim Sunday aus Ghana (Werder Bremen). Aber erst nach 1995 läßt sich ein Anstieg der Migrationszüge verzeichnen. Grund hierfür war das Bosman-Urteil des EuGH, das es europäischen Sportvereinen erlaubt, beliebig viele ausländische Sportler zu beschäftigen.[1]
Trotz der schon über einen längeren Zeitraum bestehenden Migrationsbewegungen im Sport und insbesondere im Fußball bezeichnete FIFA-Präsident Sepp Blatter Vereine, die Spielertalente aus Entwicklungsländern verpflichten, als „neocolonialists who don’t give a damn about hertiage and culture, but engange in social and economic rape by robbing the developing world of its best players.“ (Blatter, 2003). Die UEFA hat, um dem Muscle Drain entgegenzuwirken, eine Mindestanzahl von lokalen Spielern, die in Fußballspielen zum Einsatz kommen müssen, eingeführt. Diese können zwar einen Migrationshintergrund aufweisen, müssen aber mindestens in der vierten Saison für den aktuellen Verein spielen. Weiterhin müssen diese lokalen Spieler zwischen ihrem 15. und 21. Lebensjahr unter Vertrag genommen worden sein. Im Zuge der Diskussion über eine Reduzierung der Abwanderungszahlen hochtalentierter Sportler (nicht nur im Rahmen des Fußballs) wird außerdem die Einführung der sogenannten Coubertobin-Steuer diskutiert. Das Konzept bezieht sich dabei einerseits auf die Idee von Pierre de Coubertin (Gründer des Internationalen Olympischen Komitees), allen Ländern die Teilnahme an den Spielen in gleichem Ausmaß zu ermöglichen. Andererseits nimmt es bezug auf die von James Tobin vorgeschlagene Transaktionssteuer auf internationale Devisengeschäfte. Die Coubertobin-Steuer ist als einprozentige Steuer auf sämtliche Spielertransfers aus Entwicklungsländern in Industrienationen konzipiert. Mithilfe dieser Steuer sollen die Farmclubs der Entwicklungs- und Schwellenländer u. a. für die ihnen entstandenen Trainingskosten kompensiert werden. Damit soll zugleich der Anreiz zur Migration auf Seiten der Sportler vermindert werden, weil Gehaltszahlungen aus Industrienationen damit sinken und mithilfe der zusätzlichen Finanzmittel auch Investitionen in das Sportsystem vor Ort (Sportanlagen, Schulsport, Trainerausbildung) getätigt werden können: Den zwei Hauptmotiven der Abwanderung soll mithilfe der Steuer folglich entgegen gearbeitet werden.
Daß der Muscle Drain ein negatives Phänomen ist und Industrienationen, die ausländische Sportler beschäftigen, den Titel neokolonialistische Ausbeuter verdienen, muß jedoch angezweifelt werden. Beim Muscle Drain muß man sich die Diskussion um den Brain Drain vergegenwärtigen: So müssen im Rahmen des Muscle Drains auch die möglichen positiven Effekte der Abwanderung junger sportlicher Talente berücksichtigt werden. Zwar verlieren Entwicklungsländer durch die Abwanderung der Sportler zunächst athletisches Kapital, jedoch stellt das mögliche hohe Gehalt, das in den Ligen der Industrienationen erzielt werden kann, einen zusätzlichen Anreiz für junge Talente dar, sich überhaupt im Sportsektor auszubilden. Langfristig kann dieser Effekt entsprechend zu einer Zunahme an athletischem Kapital in Entwicklungsländern führen (Muscle Gain).
Hinzu kommt ein weiterer Effekt: Durch die Teilnahme der abgewanderten Sportler an internationalen Wettbewerben für die Nationalmannschaften ihrer Heimatländer findet ein Austausch der Sportler bezüglich verschiedener Trainingsmethoden statt. In regelmäßigen Abständen können abgewanderte Sportler also neuen Input diesbezüglich an Sportler bzw. Trainer ihres Heimatlandes weitergeben, was sich wiederum positiv auf die Entwicklung der Sportsysteme dort auswirkt. Die positive Wirkung solcher Spillover-Effekte läßt sich an der Stärke verschiedener Fußball-Nationalteams zeigen: Je mehr Spieler einer Mannschaft eines Entwicklungslandes im Ausland unter Vertrag sind, desto besser schneiden diese im FIFA-Ranking ab (u.a. Berlinschi et al., 2010).
Den Vereinen (insb. Fußballigen) Vorschriften bezüglich der Anzahl ausländischer Spieler, die gleichzeitig auf dem Feld antreten dürften, aufzuerlegen, um damit den Muscle Drain zu verringern, oder gar eine Steuer auf Sportler-/Spielertransfers einzuführen, erscheint angesichts der genannten positiven Effekte problematisch, wenn nicht sogar unnötig. Dies gilt insbesondere dann, wenn man den Wechsel von Sportlern aus der Nationalmannschaft des Heimatlandes durch Annahme der Staatsangehörigkeit des Gastlandes an weitergehende Bedingungen knüpft und damit erschwert. Die wäre für die Entwicklung der Sportsysteme der Entwicklungs- und Schwellenländer vorteilhafter als die Einführung einer sogenannten Coubertobin-Steuer. Darüber hinaus ist aus ordnungsökonomischer Sicht ein unbehinderter Faktorverkehr und damit die Möglichkeit der Spieler, sich in anderen Ländern zu verdingen, uneingeschränkt zu begrüßen. Eine Behinderung dieser Wanderungsbewegungen würde die Freiheit der Wirtschaftssubjekte ohne ökonomisch ausreichend legitimierte Gründe einengen und ist daher aus ordnungsökonomischer Sicht abzulehnen.
Literatur:
Berlinschi, R., Schokkaert, J. und Swinnen, J. F. M. (2010): When Drains and Gains Coincide: Migration and International Football Performance. LICOS Discussion Paper 265/2010, Leuven, Belgien, University of Leuven (KUL).
Blatter S. (2003): Soccer’s greedy neo-colonialists. Financial Times, December 17, 19
Kuper, S. und Szymanski S. (2009): Soccernomics: Why England loses, why Germany and Brazil win, and why the U.S., Japan, Australia, Turkey- and even Iraq- are destined to become the Kings of the World’s most popular Sport. New York.
Statistisches Bundesamt (2011): Top 12 Vereine der europäischen und US-Profiligen nach den durchschnittlichen Jahresgehältern der Spieler im Jahr 2011 (in US Dollar), abrufbar unter: http://de.statista.com/statistik/daten/studie/183446/umfrage/spielergehaelter-der-top-vereine-in-europa-und-den-usa/ [Aufruf am 17.01.2013].
Swinnen, J. und Vandemoortele, T. (2008): Sports and Development: An Economic Perspective on the Impact of the 2010 World Cup in South Africa. Working Paper, LICOS- Centre for Insitutions and Economic Performance, Leuven.
[1] Das Balog-Urteil aus dem Jahre 1998 bzw. die Kolpak-Entscheidung aus dem Jahre 2003 dehnten die im Bosman-Urteil getroffene Entscheidung größtenteils auch auf Sportler aus den mit den EG bzw. der EU assoziierten Staaten aus.
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