Sie, liebe Leserinnen und Leser, fragen sich jetzt angesichts der Überschrift vielleicht gerade, ob man es mit dem Reformieren nicht auch übertreiben kann. Immerhin wurde ja gerade erst die zweite Föderalismusreform im Bundesrat beschlossen. Reicht es damit nicht erst einmal? Wurde nicht in den letzten Jahren am deutschen Föderalismus genug herumreformiert? Ich denke nein. Aber fangen wir von vorne an.
Der Kern der soeben verabschiedeten zweiten Föderalismusreform ist die Schuldenbremse. Kurz beschrieben funktioniert diese Schuldenbremse folgendermaßen: Ab dem Budgetjahr 2016 darf der Bund nur noch eine jährliche Nettoneuverschuldung in Höhe von grundsätzlich 0,35 Prozent des BIP hinnehmen. Diese Regelhöchstgrenze wird dann noch einigen Korrekturen unterworfen. So führen finanzielle Transaktionen zu einer Korrektur, die bewirken soll, daß beispielsweise Privatisierungserlöse nicht genutzt werden können, um die Verschuldungsgrenze zu unterschreiten. Diese stellen schließlich nur einen Tausch zweier Aktiva dar; ein Vermögensgegenstand wird gegen Geld getauscht. Vor allem gibt es aber auch eine konjunkturelle Korrekturkomponente, die sicher stellen soll, daß der Bund die automatischen Stabilisatoren wirken lassen kann und im Abschwung sinkenden Steuereinnahmen nicht hinterher sparen muß.
Die Schuldenbremse gewährt also eine gewisse konjunkturelle Flexibilität. Darüber hinaus kann der Bundestag mit der Mehrheit seiner Mitglieder (also der Kanzlermehrheit) das Vorliegen einer außergewöhnlichen, von der Politik nicht zu verantwortenden Notlage feststellen und damit die Verschuldungsgrenze zeitweise außer Kraft setzen. Für die Länder sind die Regelungen noch etwas strenger. Zwar dürfen auch sie eine konjunkturelle Korrekturkomponente nutzen, aber grundsätzlich haben sie ihre Ausgaben ab 2020 ohne jegliches Budgetdefizit zu finanzieren. Um hierzu in der Lage zu sein, erhalten Länder mit derzeit besonders hohen Verschuldungsständen, und daraus resultierend hohen Zinsbelastungen in ihren Haushalten, zwischen 2011 und 2019 Konsolidierungshilfen vom Bund. Betroffen sind Berlin, Bremen, das Saarland, Sachsen-Anhalt und Schleswig-Holstein.
Als besonders wichtig erscheint auch die Einführung eines Kontrollkontos, auf dem Verletzungen der Verschuldungsgrenzen verbucht werden. Dies kann beispielsweise aufgrund von Planungsirrtümern ex post immer wieder passieren, wenn etwa ex ante zu hohe Steuereinnahmen erwartet wurden. Überschreiten die kumulierten Abweichungen irgendwann einmal 1,5 Prozent des BIP, dann muß ein schrittweiser Abbau des Kontrollsaldos in Angriff genommen werden – aber auch dies nur in konjunkturellen Aufschwungsphasen.
Die Einführung einer bindenden, konstitutionellen Verschuldungsgrenze war überfällig. Der alte Artikel 115 des Grundgesetzes sah vor, daß ein Budgetdefizit nur in Höhe der Investitionsausgaben hingenommen werden durfte, solange eine Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes nicht vorlag. Diese Regelung hatte zwei Schwachpunkte: Der Begriff der Investitionsausgaben ist auslegungsbedürftig und es gab stets einen Anreiz, ihn besonders großzügig zu deuten. Und die Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichtes konnte einfach vom Finanzminister erklärt werden. Die neue Schuldenbremse knüpft hingegen die Verschuldungsgrenze an den viel objektiveren Maßstab des BIP, und die Kanzlermehrheit ist eine relativ hohe Hürde zur Feststellung einer Notlage – auch wenn ein noch höheres, qualifiziertes Mehrheitserfordernis sicherlich für zusätzliche Sicherheit hätte sorgen können.
Noch wichtiger ist aber, daß nun auch die Länder in die gesamtstaatliche Budgetdisziplin eingebunden sind. Bisher waren wenigstens die ohnehin finanzschwachen, hoch verschuldeten Bundesländer mit einer weichen Budgetrestriktion konfrontiert. Sie konnten davon ausgehen, daß sie, sobald die Zinslast in ihren Budgets zu große Ausmaße annahm, Bundesergänzungszuweisungen zur Sanierung ihrer Haushaltsnotlage vom Bund erhalten. Gerade für sowieso schon hoch verschuldete Länder war der Anreiz zur eigenständigen Sanierung ihrer Haushalte daher gering. Die Schuldenbremse könnte daher endlich dafür sorgen, daß die finanzschwachen Bundesländer vom Pfad einer eskalierenden Staatsverschuldung abkommen müssen. Immerhin ist die gesamtstaatliche Schuldenstandsquote in Deutschland von 18,6 Prozent des BIP im Jahr 1970 auf 60,9 Prozent im Jahr 2007 gestiegen, und nach den Rettungsaktionen im Zuge der Finanzkrise wird eine Schuldenstandsquote um 80 Prozent erwartet. Es bestand Handlungsbedarf, denn hohe Schuldenstandsquoten ziehen hohe Zins-Steuer-Quoten nach sich – sie reduzieren langfristig den Budgetspielraum, anstatt ihn zu erweitern.
Wird die Schuldenbremse wirklich bindend sein? Das ist eine offene Frage. Die formalen Regeln versprechen jedenfalls deutlich mehr, als der alte Artikel 115 des Grundgesetzes halten konnte. Wie leichtfertig mit Kanzlermehrheiten Notlagen erklärt werden, wie zuverlässig Sanierungspläne in die Tat umgesetzt werden – das alles wird sich erst im Laufe der Zeit in der Praxis zeigen. Auch gute formale Regeln können von findigen Finanzpolitikern informell unterlaufen werden, zumal in der Schuldenbremse keine ernsthaften, automatischen Sanktionen gegen unkooperative Defizitsünder eingebaut sind.
Nehmen wir aber einmal an, daß die Verschuldungsgrenzen tatsächlich eine bindende Wirkung entfalten werden. Dann wird die eingangs geäußerte Forderung nach einer Föderalismusreform III umso wichtiger. Man muß sich in Erinnerung rufen, daß die Länderfinanzminister bereits heute auf der Einnahmenseite ihrer Haushalte nur wenig zu entscheiden haben. Die Steuereinnahmen ergeben sich zum größten Teil aus der Steuerzerlegung der aufkommensstarken Gemeinschaftssteuern (Einkommen-, Umsatz und Körperschaftsteuer). Die Gesetzgebung für diese Steuern erfolgt aber bundeseinheitlich in Berlin. Gleiches gilt für Ländersteuern (z.B. die Erbschaft- und Kfz-Steuer), deren Aufkommen zwar vollständig den Ländern zufließt, deren Gesetzgebung aber ebenfalls bundeseinheitlich erfolgt. Autonom sind Länder auf der Einnahmenseite bisher vor allem, wenn es um die Verschuldung geht.
Die Schuldenbremse, so sie denn funktioniert, nimmt den Ländern auch noch dieses geringe Maß an Flexibilität. Ein Bundesland, dessen Wähler sich vom Status Quo eines ausgeglichenen Haushaltes ausgehend wünschen, mehr für öffentliche Güter auszugeben, wird dies schlicht nicht tun können. Nun ist zweifellos die öffentliche Verschuldung dieses Bundeslandes ein arg imperfektes Instrument zur Sicherstellung von Einnahmenflexibilität, schließlich verlagert es Kosten des heutigen Konsums öffentlicher Güter auf zukünftige Steuerzahler, die niemand nach ihrer Zustimmung fragen kann. Es gibt daher nur einen eleganten Ausweg: Die Länder müssen mit einer zumindest eingeschränkten Steuerautonomie ausgestattet werden!
Wie dies im Detail ausgestaltet werden könnte, kann man in der Schweiz lernen: Dort wird die Einkommensteuer sowohl vom Bund, als auch von Kantonen und Gemeinden erhoben. Die persönliche Einkommensteuerlast hängt vom Wohnort ab, und zwar von der Gemeinde, in der sich jemand niederläßt. Die Schweiz, mit ihren etwa 7,7 Millionen Einwohnern, hat 26 Kantone. Jeder dieser Kantone entscheidet selbst über seinen kantonalen Einkommensteuertarif. Wenn in diesem kleinräumigen Föderalismus die kantonale und lokale Steuerautonomie nicht zu einem ruinösen Einkommensteuerwettbewerb führt, dann wird dies in Deutschland erst recht nicht passieren. Es gäbe aber einiges zu gewinnen, nämlich echte Vielfalt unter den Bundesländern. Man könnte auch sagen: Eine echte Existenzberechtigung für die Bundesländer, die nun endlich in der Lage wären, sich nicht nur folkloristisch voneinander zu unterscheiden.
Hinweis: Lars Feld, Jan Schnellenbach und Thushyanthan Baskaran erörtern in dem Beitrag „Die deutsche Schuldenbremse – ein institutioneller Fortschritt?“, der im September-Heft von WiSt erscheinen wird, das wichtigste Ergebnis der Föderalismusreform II.
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