Bürgerversicherung ahoi! Alter Wein in neuen Schläuchen?
Die Perspektive der Versorgungssteuerung ist entscheidend

Die Bundestagswahl naht und die Frage der Gesundheits- und Pflegepolitik spielt für den Wähler beim anstehenden Urnengang wieder eine entscheidende Rolle. Dabei greifen oft Schlagworte Raum, die suggerieren, mit einer einmaligen Reform könnten die Herausforderungen der Gesundheitsversorgung der Zukunft gelöst werden. Ein Beispiel dazu liegt in der Forderung nach einer Bürgerversicherung, die häufig im Kontext der Frage formuliert wird, wie die das System der Gesetzlichen Krankenversicherung und der Privaten Krankenversicherung zukünftig ausgestaltet wird.

Mit der Forderung nach einer Bürgerversicherung wird von manchem politischen Akteur die grundsätzliche Ausweitung des bisherigen GKV-Systems auf alle Bürger verbunden. Diese wird häufig damit begründet, dass ein Nebeneinander der beiden Systeme weder gerecht noch zukunftsträchtig sei. Eine derartige Begriffszuordnung ist methodisch fragwürdig. Die Einführung einer Bürgerversicherung bedeutet zunächst nichts anderes als eine allgemeine Versicherungspflicht für alle Bürger, unbeachtlich der konkreten Organisationsform des Sicherungssystems. Für beide Systeme gilt strenggenommen bereits eine allgemeine Versicherungspflicht, für die GKV seit dem Wettbewerbsstärkungsgesetz und für die PKV seit der Änderung des Versicherungsvertragsgesetzes. Daneben existiert noch das Versorgungsprinzip „Beihilfeberechtigung für Beamte“, das an dieser Stelle nicht weiter betrachtet wird. Unabhängig von der konkreten Ausprägung dieser Formen einer Pflichtversicherung, führt die Forderung nach einer Bürgerversicherung, zumindest wenn sie aus der Überwindung der Systemgrenze zwischen GKV und PKV motiviert ist, zur Frage, wie sich beide Systeme hinsichtlich ihrer Steuerungsvor- und Steuerungsnachteile einordnen lassen.

Das PKV-System ist zu Beginn des Jahres 2012 in eine besondere Legitimitätsdebatte geraten, da viele PKV-Versicherte mit Prämiensteigerungen zurechtkommen mussten. Ursächlich hierfür sind die Ausgaben der PKV, die in einzelnen Leistungsbereichen, etwa beim Zahnersatz stärker angestiegen sind als im Bereich der GKV (vgl. Ärztezeitung 2012, 04.05.2012.). Diese Ausgabenunterschiede können das Resultat präferenzbasierter Nachfrageentscheidungen, aber auch Ausdruck von Steuerungsproblemen innerhalb des PKV-Systems sein. Sofern anzunehmen ist, dass Steuerungslogiken ursächlich sind stellt sich ökonomisch und ordnungspolitisch die Frage der Systemeffizienz.

Ein Blick in die grundlegende Theorie des (Gesundheits-)Versicherungsvertrages kann dabei helfen, den Zusammenhang zwischen den Versicherungsmärkten mit den Versorgungsmärkten herzustellen, die die Leistungserstellung konkretisieren. Im Fokus jedes Versicherungssystems steht die Gestaltung des Versicherungsangebotes, da Versicherungsunternehmen c. p. Versicherungsangebote erhöhen, sofern eine höhere kontrahierbare Prämie zu erwarten ist. Gleichzeitig muss die Abweichung des zu kalkulierenden Erwartungsschaden vom kontrahierten Versicherungsversprechen richtig eingeordnet werden. Eine höhere Kapitalausstattung einer Versicherung hilft die Zeichnungsfähigkeit einer Versicherung zu erhöhen. Dabei bleibt für jeden Versicherungstyp die Notwendigkeit bestehen, die Risikoteilung zwischen Versicherungsnehmer und Versicherung zu optimieren. Eine risikoangelehnte Prämie, wie sie im Grundsatz in der PKV angeboten wird, erlaubt eine größere Differenzierung an unterschiedlichen Risikosituationen und erhöht daher c. p. den Risikospielraum des Versicherers. Der Risikostrukturausgleich in der GKV-Systematik kann vor diesem Hintergrund als „Second-best-Ansatz“ verstanden werden, der versucht eine „Quasi-Risiko-Äquivalenz“ zu generieren.

Das PKV-System kommt dem Idealbild einer Preisorientierung damit näher. Diese Aussage gilt strenggenommen nur für den Versicherungsmarkt als solchen und nicht für die Leistungsgestaltung. Der Versicherungsnehmer kann im Falle risikoorientierter Prämien Preise und Leistungen von Versicherungen vergleichen. Genau an dieser Stelle kommt die Verknüpfung zwischen Versicherungsmarkt und Versorgungsmarkt zum Tragen. Sofern die Rationalität der Nachfrager auf beiden Märkten berücksichtigt wird, entstehen im Gesundheitswesen wachsende Herausforderungen innerhalb der Leistungs- und Kostensteuerung, insbesondere im Versorgungsmarkt. Der Versicherte richtet sein Nachfrageverhalten im Versicherungswettbewerb häufig anders aus als der gleiche Versicherte in seiner Rolle als Patient als Nachfrager im Versorgungskontext (vgl. Rebscher 2011). Es gilt deshalb zwischen der Wahl der Versicherungsleistung und der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen zu unterscheiden. Gerade bei der Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen, versicherungsökonomisch ist die Frage der Restitution des Versicherungsschadens damit impliziert, sind die Möglichkeiten für eine deutsche PKV sehr eingeschränkt. Das PKV-System ist gemäß dem vorherrschenden Kostenerstattungsprinzip als Wettbewerb um Versicherte organisiert, jedoch kaum als Wettbewerb der Leistungsverträge unterschiedlicher Leistungserbringer. Ein Kostenerstattungsmodell setzt eher auf eine indirekte Einflussnahme der Leistungserbringung, in erster Linie über die Gestaltung der Tarife der Versicherungsnehmer. Eine direkte Kontrolle der Leistungsgestaltung oder des Qualitätsanspruchs, wie es Formen selektiven Kontrahierens vorsehen, ist kaum möglich. Die Zunahme chronischer und altersabhängiger Krankheiten führt außerdem dazu, dass eine kontinuierliche Leistungsinanspruchnahme von Gesundheits- und Pflegeleistungen und somit die Steuerung des direkten Leistungsflusses zwischen Leistungserbringer und Patient an Bedeutung gewinnt (vgl. etwa Zerth 2012).

In der jüngeren Literatur zum Moral-Hazard-Verhalten wird deutlich, dass der bloße Versicherungsschutz eine viel geringere Erklärungskraft besitzt als indikationsspezifische Aspekte der Leistungsinanspruchnahme (vgl. KoÒ« 2011). Die Schlussfolgerung daraus, dass die Gestaltung von Risiko- und Kostenteilung zwischen Versicherung, Leistungserbringer und Patienten an Bedeutung gewinnen, weist gesundheitspolitisch auf die Bedeutung der gesamtheitlichen Betrachtung des Gesundheitssystems hin. Sowohl PKV- als auch GKV-System haben hier Stärken und Schwächen. Während sich das PKV-System auf die risikoorientierte Steuerung im Versicherungsmarkt konzentriert, versuchen jüngere GKV-Reformen, auch teilweise mit unklarer ordnungspolitischer Stringenz, die Möglichkeiten selektivvertraglicher Steuerung im Versorgungsmarkt zu optimieren.

Insgesamt muss das Versicherungssystem so ausgestaltet sein, dass die Versorgung institutionsübergreifender Patientenkarrieren, wofür chronische Erkrankungen Pate stehen, gestützt wird. Gesundheitsreformen der Zukunft sollten daher an der Frage ansetzen, wie die Steuerungsrolle von Krankenversicherung im Versicherungs- und Versorgungsmarkt in der Zukunft ausgestaltet wird. Die PKV kann das Prämienrisiko bei Beginn des Versicherungsvertrages zwar über risikoorientierte Prämien wettbewerblicher lösen, verbleibt jedoch trotz Weitergabe von Altersrückstellungen, die sich auf standardisierte Basistarife beziehen, in einem Einstiegswettbewerb stecken. Im GKV-System gilt es die Ungleichgewichte in der Wettbewerbsrolle zwischen Krankenversicherungen und Leistungserbringer abzubauen, da die Krankenversicherungen trotz mancher Ansätze in der jüngeren Vergangenheit im Sozialgesetzbuch weiterhin nicht als Unternehmen im Sinne des Wettbewerbsrechtes behandelt werden und daher für eine Wettbewerbsorientierung eine wichtige Grundregel verletzt wird. Der aktuellen Forderung nach der Einführung einer Bürgerversicherung fehlt es im Lichte der Betrachtung der Steuerungslogiken an der notwendigen Differenzierung zwischen den Steuerungsvorteilen- und -nachteilen, die sowohl im PKV- als auch im GKV-System beheimatet sind. Gleichwohl gilt es die Frage zu stellen, inwiefern eine PKV als Leitstern einer Wettbewerbsorientierung im Gesundheitswesen noch funktionieren kann, wenn angesichts der wachsenden Bedeutung der Patientenkarriere die Versicherung als Gestalter von Leistungsbeziehungen gefordert ist.

Literatur:

KoÒ«, C., Disease-Specific Moral Hazard and Optimal Health Insurance Design for Physician Service. In: The Journal of Risk and Insurance, Jg. 78 (2011), S. 413–446.

Nyman, J. A., The Theory of Demand for Health Insurance. Stanford, CA 2003: Stanford University Press.

Rebscher, H., Perspektivenwechsel Bewertungskategorien selektiven Vertragshandelns. In: Rüter, G.; Da-Cruz, P.; Schwegel, P. (Hg.): Gesundheitsökonomie und Wirtschaftspolitik. Baden-Baden 2011: Lucius und Lucius, S. 348–362.

Zerth, J., Zur Bedeutung der Wettbewerbsrolle im Gesundheitswesen, in: Zeitschrift für Wirtschaftspolitik, Jg. 61 (2012), S. 299-309.

5 Antworten auf „Bürgerversicherung ahoi! Alter Wein in neuen Schläuchen?
Die Perspektive der Versorgungssteuerung ist entscheidend

  1. Hervorragender Artikel, den ich ncoh ein wenig ergänzen möchte:

    Eine Versicherung ist immer eine Wette auf das Eintreten oder Nichteintreten eines Ereignisses. Basis dafür ist, daß keiner der Beteiligten den Ausgang der Wetter einseitig beeinflussen kann. Bestes Beispiel ist das Lotto. Als Spieler Wette ich auf das Ziehungsergebnis. Der Anbieter wettet dagegen. Keiner der beiden kann das Ergebnis beeinflussen. Beide kennen jedoch die Wahrscheinlichkeit für das Eintreten des Ereignisses. Somit lassen sich Kosten und Risiken und somit auch die Preise exakt bestimmen.

    Auch viele Versicherungen funktionieren so. Aber spätestens bei einer Krankenversicherung läuft es anders.

    So habe ich als Versicherungsnehmer maßgeblichen Einfluß auf meine Gesundheit. Ich kann meine Gesundheit in weiten Bereichen selbst bestimmen. Den Ausgang der Wette kann ich also entsprechend auch maßgeblich beeinflussen.

    Eine Krankenversicherung ist also keine echte Versicherung sondern, egal ob PKV oder GKV, immer eine Form eines Umlagesystems. Und daran krankt das System.

    Was sind mögliche Lösungen?

    Versicherungen sollten dazu dienen, existenzielle Risiken abzusichern, insbesondere solche, auf die ich keinen Einfluß habe. Dies wird bei Krankenversicherungen aus den dargestellten Gründen immer nur unvollständig gelingen.

    Eine gute Möglichkeit sind die aus den USA stammenden Health Savings Accounts (HSA). Hier spart der Bürger steuerfrei Geld an, welches er zur Begleichung von Krankheitskosten zurücklegt. Eine Versicherungskomponente im Plan schützt ihn vor existenziellen Belastungen. Dies stärkt die Eigenverantwortung und versucht die Verantwortlichkeit jedes Einzelnen für seine Gesundheit abzubilden, ohne jedoch die Existenz eines Menschen als solche zu bedrohen.

    Dies ist natürlich nur eine Möglichkeit aus dem Dilemma. Es gibt noch weitere.

    Jedoch ist es meiner Ansicht nach müßig, sich darüber den Kopf weiter zu zerbrechen. So etwas wird es in Deutschland niemals geben. Dem Staat, der Regierung ist alles daran gelegen, den einzelnen Bürger so abhängig wie möglich zu halten und ihm ja nicht zuviel Eigenverantwortung aufzubürden. Nur so kann die Regierung ihn abhängig halten und damit macht über ihn ausüben. Und gerade bei Deutschen klappt dies – wohl aus geschichtlichen Gründen – hervorragend.

  2. Auch ich finde, dass dies ein hervorragend recherchierter Artikel ist. Es wird sehr gut dargelegt, dass sich Probleme nicht lösen, nur weil das Kind einen neuen Namen bekommt. Die Schlussfolgerung, dass es darum geht, die Vorteile aus beiden Systemen zu integrieren, scheint für mich alternativlos.

    Jedoch möchte ich dem vorigen Kommentator in einigen Punkten widersprechen:

    Der Vergleich einer Wette zwischen Versicherer und Versicherten krankt in meinen Augen, denn ich frage mich inwiefern ich Einfluss auf Gesundheitsrisiken nach erfolgter Gesundheitsprüfung habe. Schließlich ist das Risiko von den Versicherern in der Prämie mit einkalkuliert, wenn ich z.B. Raucher, Übergewichtig bin oder andere Vorerkrankungen habe. Und verbietet es nicht schon allein der gesunde Menschenverstand, dass ich als Versicherter nicht den Wetteinsatz durch Krankheit für mich einstreichen möchte? Oder haben Sie schon mal von jemandem gehört, der deshalb krank geworden ist?

  3. @Skeptiker_In:

    Vielleicht habe ich mich zu unklar ausgedrückt oder es ist ein Mißverständnis:

    Was ich zum Ausdruck bringen wollte, war die Tatsache, daß eine Versicherung im Idealfall immer eine Wette ist. Der Versicherer ordnet die versicherte Sache oder Person einer Gruppe gleichartiger Risiken zu. Dadurch kann er die statistische Wahrscheinlichkeit für einen Schadenfall bemessen.

    Idealerweise kann dann weder der Versicherer noch der Versicherte am Ausgang der Wette etwas ändern. In diesem Fall ist die Versicherung für beide Seiten klar kalkuliert.

    Bei KV, insbesondere der in Deutschland anzutreffenden Form, ist das anders. Der Versicherte kann durch sienen Lebensstil auf vielfältige Art und Weise Einfluß auf den Ausgang der Wette nehmen.

    Die Vorstellung, niemand wünsche sich ja freiwillig, krank zu sein, trifft zwar in der Mehrheit der Fälle zu, ändert aber nichts an den Grundbedingungen.

    Kein Raucher WÜNSCHT sich Lungenkrebs. Statistisch ist es aber nun mal so, daß 95 % aller Lungenkrebsfälle durch das Rauchen ausgelöst werden. Jedenfalls so die einhellige Meinung der Medizin.

    Ein Raucher kennt also die potentiellen Risiken, geht sie ein, hofft/kalkuliert aber, die Konsequenzen seines Handelns nicht tragen zu müssen.

    Er wünscht sich also nicht, krank zu werden, wird es aber aufgrund seines Verhaltens statistisch mit hoher Wahrscheinlichkeit. Er verändert also die Wette zu seinen finanziellen Gunsten, wenn auch die persönlichen Folgen eher das Gegenteil sein dürften.

    Rauchen ist nur ein Beispiel von vielen. Es ist halt besonders greifbar. Es gibt aber unzählig andere.

    Wenn ich auf den Vergleich mit eienr Lotterie zurückkomme, so halbiert der Raucher gleich am Anfang der Ziehung die Zahl der Kugeln im Ziehungsgerät um die Hälfte. Im Ergebnis muß der Lottoanbieter die Einsätze massivst verteuern oder er wird insolvent werden.

    In Deutschland herrscht auch im Gesundheitsbereich eine Vollkaskomentalität vor. Eigenverantwortung ist unerwünscht. Dies hat Folgen: Aus einer Versicherung wird eine Umverteilungsindustrie – mit den entsprechenden Kosten.

    Nur ein Beispiel: Ich bin Beamter. Ich bin somit privat krankenversichert. Zumindest zum Teil. Den anderen Teil müssen leider die Bürger zahlen. Ich habe dafür kein Verständnis und wünschte, es wäre nicht so. Aber als Einzelner werde ich daran nichts ändern.

    Für den Teil meiner Krankheitskosten (50 %), die ich selbst versichere, habe ich mir eine Versicherung gewählt. Erstaunlicherweise gibt es meines Wissens nach nciht eine einzige Versicherung in Deutschland, die Selbstbehalttarife für Beamte anbietet. Ich selbst habe bereits mehrfach danach gefragt. Ohne Ergebnis.

    Ich würde gerne einen kalkulierbaren Teil meiner Krankheitskosten selbst tragen und dafür am Beitrag sparen. Nur leider bietet kein Unternehmen diese Möglichkeit. Warum? Ausnahmsweise sind mir keine gesetzlichen Gründe bekannt, die dies verhindern würden. Ich muß also davon ausgehen, daß die Nachfrage nach solchen Tarifen gleich Null ist. Offenbar gehöre ich zu einer winzigen Minderheit.

    Und genau das meine ich mit Vollkaskomentalität. Jahrzehntelange Erziehung dazu, „zahlt“ sich nun aus.

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