„Mehr Europa“: Rettung oder Drohung?

Viel ist in den letzten Monaten von „Mehr Europa“ zu hören. Manche versprechen sich davon die Lösung aller inzwischen aufgelaufenen Probleme in der Europäischen Währungsunion, andere betrachten dies als Drohung und fordern, nun mit weiteren Integrationsschritten einzuhalten bevor nicht die Konstruktionsfehler der Euro-Union korrigiert sind.

Hochrangige Aussagen

So war vor einigen Tagen von  José Manuel Durão Barroso, dem Präsidenten der Europäischen Kommission, zu vernehmen: „Was wir brauchen, ist eine Stärkung der europäischen Institutionen als solche und eine politische Union, in der sowohl die Bürger als auch die Nationen vertreten sind. Das bedeutet in der Folge auch mehr Rechte für die Kommission mit ähnlichen Kompetenzen wie eine nationale Regierung.  … Wir brauchen in der Krise mehr Europa und nicht weniger.“ (http://www.welt.de/politik/ausland/article115878486/Selbstzufriedenheit-waere-gefaehrlich-fuer-Deutschland.html). Bereits im Februar 2013 hatte sich Viviane Reding, Vizepräsidentin der Europäischen Kommission und EU-Justizkommissarin, einschlägig geäußert: „Die Vereinigten Staaten von Europa – das ist eine zweifellos kontroverse Vision für die Zukunft unseres Kontinents. Ich bin überzeugt, dass sie mittelfristig den richtigen Weg aus der aktuellen Schulden-, Finanz- und Legitimitätskrise Europas weist.“ (http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/europa-der-neue-bund-12092747.html).

Politische Integration

Die Forderung nach „Mehr Europa“ und aktuelle Maßnahmen auf EU- und Mitgliederebene entstammen einer Situation, die durch Fehlentwicklungen in der Währungsunion geprägt ist. Handlungsdruck steht im Vordergrund. Das „Mehr Europa“ ist nicht nur ein Etikett für die Rechtfertigung fast beliebiger Maßnahmen geworden, sondern es wird wieder von einer Politischen Union gesprochen, sogar von „Vereinigten Staaten von Europa“. Ein direkt zu wählender Präsident der Europäischen Kommission, eine Verstärkung der EU-Parlamentarischen Mitwirkungsrechte, eine Ausweitung der Haftungselemente der Währungsunion, die Diskussion von Euro-Bonds, die Bankenunion, generell ein Ausbau der supranationalen Integrationsbausteine sind in der Tat Weichenstellungen für eine politische Integration. Allerdings blieb bisher die Frage unbeantwortet, ob eine solche von den Bürgern der Europäischen Union gewünscht wird. Ohne eine inhaltliche Diskussion über die Perspektiven der Europäischen Union geführt zu haben, würden dann Fakten geschaffen, deren Zustandekommen Legitimität fehlt und Intransparenz kennzeichnet.

Neuer Vertrag

Ohne weitere Konkretisierung sind für die Inhalte eines politischen Gebildes der Europäischen Union unterschiedlichste Interpretationen möglich. Eine Politische Union Europa, wie auch immer bezeichnet und welche Inhalte auch immer, ist eine konsensstiftende Leerformel: in den Details unbestimmt, heute unverbindlich, doch in ihrer Dynamik weichenstellend. Im Folgenden wird damit fortgesetzt, einige einschlägige Aussagen zusammenzustellen. Zuerst soll noch einmal Kommissionspräsident Barroso (2012) zu Wort kommen: „Die Wirtschafts- und Währungsunion wirft daher die Frage einer politischen Union und der europäischen Demokratie auf, auf die sie gestützt sein muss. Wenn die Wirtschafts- und Währungsunion gelingen soll, müssen wir unsere Ambitionen mit präzise geplanten Maßnahmen verbinden. Wir müssen jetzt konkrete Schritte in Richtung einer politischen Union einleiten. … Am Ende dieses Wegs zu einem Bund der Nationalstaaten wird ein neuer Vertrag stehen müssen. … Wir müssen entscheiden, welche politischen Kompetenzen wir brauchen, und welche Instrumente wir zu ihrer Ausübung benötigen. Nur so können wir darüber befinden, welche Instrumente uns noch fehlen und wie wir diesen Mangel beheben können.“  (http://europa.eu/rapid/press-release_SPEECH-12-596_de.htm).

Die Begründung einer Intensivierung der politischen Integration durch Barroso erfolgt hauptsächlich mit der Notwendigkeit, die Funktionsfähigkeit der Währungsunion abzusichern. Während der „Bund der Nationalstaaten“ weitgehend inhaltsleer bleibt, bleibt kein Zweifel an der Notwendigkeit einer Zunahme der supranationalen Integrationselemente.

Europa ist Innenpolitik

Etwas konkreter in den Konturen und noch weitgehender klingt die Vision von Europa der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel (2012): „Meine Vision ist die Politische Union, denn Europa muss seinen ganz eigenen Weg gehen. Wir müssen uns Schritt für Schritt annähern, in allen Politikbereichen. Wir merken doch immer mehr, dass uns jedes Thema beim Nachbarn auch wechselseitig etwas angeht. Europa ist Innenpolitik. Wir werden im Laufe eines langen Prozesses mehr Kompetenzen an die Kommission abgeben, die dann für die europäischen Zuständigkeiten wie eine europäische Regierung funktioniert. Dazu gehört ein starkes Parlament. Die gleichsam zweite Kammer bildet der Rat mit den Regierungschefs. Und schließlich haben wir den Europäischen Gerichtshof als Oberstes Gericht. Das könnte die zukünftige Gestalt der politischen Union Europas sein, in einiger Zukunft … und nach vielen Zwischenschritten.“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/angela-merkel-ueber-die-europaeische-union-deutschlands-kraft-ist-nicht-unendlich-1.1267481).

Europäische Regierung

2011 äußerte sich Joschka Fischer, der ehemalige Bundesminister des Auswärtigen, der seine Ideen bereits im Jahre 2000 in einer Rede in der Berliner Humboldt-Universität  formuliert hatte. „Der Kern der europäischen Krise liegt  … in der Politik. Genauer: im Fehlen einer gemeinsamen europäischen Regierung. Als sich zu Beginn der neunziger Jahre die Mehrheit der EU-Mitgliedstaaten dazu entschloss, eine europäische Währungsunion mit gemeinsamer Währung und Zentralbank zu bilden, traute man sich damals die gemeinsame Regierung nicht zu. … Die Währungsunion war und ist deshalb also eine Konföderation souveräner Staaten mit gemeinsamer Währung und gemeinsamen Prinzipien und Mechanismen geblieben. Ein solch loser Verbund von Staaten ist aber in einer Krise nicht ausreichend handlungsfähig … Europa muss daher von einer Konföderation zu einer Föderation werden, wenn es sich nicht selbst ruinieren will. Die Konsequenz heißt: die Europäisierung der tatsächlichen politischen Macht. Entweder lässt man die Dinge weiter treiben, dann wird der Euro unter dem Druck der Krise und mit ihm die gesamte EU zerfallen und sich Europa renationalisieren. … Oder das entscheidende politische Defizit der Währungsunion wird jetzt angegangen, indem man über eine Fiskalunion (gemeinsame Wirtschafts-, Steuer- und Haushaltspolitik und auch gemeinsame Haftung!) zu einer echten politischen Föderation vorangeht, den Vereinigten Staaten von Europa.“ (http://www.sueddeutsche.de/politik/joschka-fischer-fordert-europaeische-regierung-es-wird-einsam-und-kalt-um-europa-1.1177334-2).

Tollkühne Illusionen

Solch weitreichende Vorschläge lieferte auch Edzard Reuter, der ehemalige Vorstandsvorsitzende von Daimler-Benz, der kürzlich fragte: „Was kann uns Europäer endlich dazu bewegen, unsere traditionelle Skepsis gegenüber grundlegenden Veränderungen aufzugeben und die Vereinigung Europas wirklich entscheidend voranzubringen?“  Auch seine Antwort beinhaltet eine radikale Vertiefung der politischen Integration: „Die Wiedergeburt einer Vision für Europa, die tatsächlich einen solchen Namen verdient, kann nur lauten: die „Vereinigten Staaten von Europa“ (oder meinetwegen etwas vergleichbar Einprägsames!) – nicht als billige Kopie der USA, sondern als ein neuer, junger, stolzer und selbstbewusster Weg in eine erfolgreiche Zukunft. Ich weiß wohl, dass ich spätestens an dieser Stelle bezichtigt werde, tollkühnen Illusionen anzuhängen. Doch ist es höchste Zeit, mit den „Vereinigten Staaten von Europa“ Ernst zu machen, indem eine grundlegend neue demokratische Legitimation seiner Institutionen – vor allem seines Parlaments und einer (die bisherige Kommission ersetzenden) Regierung – geschaffen wird.“ (http://www.welt.de/debatte/kommentare/article113682178/Die-Vereinigten-Staaten-Europas-sind-alternativlos.html).

Gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik

Impliziter, wenngleich nicht weniger richtungsweisend, formuliere der Bundesminister der Finanzen, Wolfgang Schäuble (2013): „Die Einsicht, dass eine gemeinsame Währung neben der vergemeinschafteten Geldpolitik auch Institutionen für eine gemeinsame Finanz- und Wirtschaftspolitik erfordert, war schon in den neunziger Jahren vorhanden. Allein die Bereitschaft zu einer entsprechenden Fiskal- und Politischen Union war nicht überall gegeben. … Dass wir auf europäischer Ebene – auf der Basis transparenter Kompetenzverteilung – Exekutive, Legislative und Judikative benötigen, versteht sich. Folglich muss die europäische Kommission zu einer wirklichen Exekutive, das heißt Regierung, weiterentwickelt werden. Auch wegen der höheren Wahrnehmung in der europäischer Öffentlichkeit – oder besser Öffentlichkeiten – habe nicht nur ich den Vorschlag gemacht, den Präsidenten der Kommission in direkter Wahl europaweit unmittelbar zu wählen.“ (http://www.bundesfinanzministerium.de/Content/DE/Reden/2013/2013-01-11-heidelberg.html). Wolfgang Schäuble betont die Notwendigkeit einer pragmatischen Vorgangsweise, die die derzeit machbaren Schritte in Richtung einer weiteren politischen Integration unternimmt, was durch die Fehlentwicklungen in der Euro-Union deutlich erleichtert wird. Eine Intensivierung der politischen Integration würde auch der Verantwortung Europas in der internationalen Gemeinschaft entsprechen.

Flucht nach vorne

Die vorgestellten Bekenntnisse zu einer Politischen Union stammen alle aus dem Zusammenhang mit den aktuellen Problemen in der Euro-Union und wurden durch diese befördert. Wenn nun die Entwicklung der Europäischen Union hin in eine Politische Union fast schon als selbstverständlich gilt, wie dies die vorgestellten Aussagen nahelegen, sind damit weit reichende Konsequenzen für zukünftige europapolitische Entscheidungen verbunden, die einer Flucht nach vorne gleichen:

  • Jeder Integrationsschritt kann als Beitrag zu einem übergeordneten Integrationsziel interpretiert werden, was mit einer Unterschätzung und Tolerierung möglicher negativer Wirkungen verbunden ist,
  • die sachlichen Voraussetzungen für einen weiteren Integrationsschritt werden tendenziell großzügig ausgelegt,
  • das Fehlen von Integrationsfortschritten wird als Gefährdung übergeordneter Integrationsziele interpretiert,
  • noch ausstehende Integrationsschritte werden als Ursache für Fehlentwicklungen interpretiert,
  • die Rückführung einmal umgesetzter Integrationsmaßnahmen – ein „Weniger Europa“ – ist auch dann unwahrscheinlich, wenn die beabsichtigten Wirkungen eines Fortschreitens nicht eingetreten sind,
  • Interpretationsspielräume bezüglich des Inhalts einer finalen Integrationsperspektive erleichtern einen Konsens für weitergehende Integrationsschritte und beschleunigen solche,
  • die Existenz einer finalen Integrationsperspektive legt es nahe, auf die Überprüfung ihrer Akzeptanz und der Maßnahmen zu ihrer Erreichung zu verzichten.

Weniger Europa?

Die Perspektive der EU als einer Politischen Union ist  anders als noch vor einigen Jahren zu einem in Politik und Öffentlichkeit präsenten Thema geworden und zwar unter unterschiedlichsten Überschriften. Zunehmend sind daher auch Forderungen nach der Entwicklung eines Narrativs zur Europäischen Union – einer umfassenden und überzeugenden Begründung der europäischen Integration, die von den heutigen Rahmenbedingungen ausgeht – zu vernehmen. So soll die Bevölkerung in die Lage versetzt werden, einen Diskurs darüber zu führen und die Vorteile einer weiteren Vertiefung der europäischen Integration zu verstehen. So auch Jürgen Habermas (Zur Verfassung Europas. Ein Essay, Berlin 2011): „Mit ein bisschen politischem Rückgrat kann die Krise der gemeinsamen Währung das herbeiführen, was sich manche einmal von einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik erhofft hatten: das über nationale Grenzen hinausgreifende Bewusstsein, ein gemeinsames europäisches Schicksal zu teilen.“ (S. 119).

Zu wenig kommt in den öffentlichen Diskurs-Aufforderungen allerdings um Ausdruck, dass er ergebnisoffen sein muss, dass für ihn ein längerer Zeitraum anzuberaumen ist und dass die Diskussion der komplexen Themen nicht nur Herz, sondern auch Sachverstand einzubeziehen haben. Nicht nur ein „Mehr Europa“ muss als Ergebnis eines solchen Diskurses möglich sein, sondern auch ein „Weniger Europa“.

 

2 Antworten auf „„Mehr Europa“: Rettung oder Drohung?“

  1. Es gab einmal eine UDSSR. Sie zerfiel, weil es unmöglich ist, alle Menschen über den selben Kamm zu scheren. Individuum, Familien, Gemeinden, Länder und Nationen haben alle unterschiedliche Ansprüche, Bedürfnisse und wirtschaftliche und soziale Lebensbedingungen, die sich weder durch eine zentrale Regierung noch durch eine Wählermehrheit regeln lassen.

    In den USA hat es in der Vergangenheit nur geklappt, weil die Gliedstaaten und selbst die Bürger weitgehend autonom selbst ihr Schicksal in die Hand nehmen konnten.

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