Das Grundgesetz der Bundesrepublik gilt zu Recht als ein Glücksfall, denn es hat nach den Jahren der Nazibarbarei die Prinzipien der Menschenwürde und der offenen Gesellschaft tief in unserer Gesellschaft verankert. Wer hätte das 1945 für möglich gehalten? Das ändert aber nichts daran, dass das Grundgesetz jenseits seiner unumstößlichen Grundsätze nicht auch Gegenstand öffentlicher Diskurse sein darf und muss. Auch das Bundesverfassungsgericht hat kürzlich einen Beitrag dazu geliefert, indem es die Überhangmandate für verfassungswidrig erklärte. Diese sind bekanntlich die Folge der deutschen Mischung von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht. Auch wenn eine substantielle Änderung des Wahlrechts politisch aussichtslos ist, so darf das Urteil rein sachlich betrachtet doch Anlass sein, sich ein paar grundsätzliche Gedanken zum Wahlrecht und seine Folgen zu machen.
Das Verhältniswahlrecht vergibt die Mandate nach Maßgabe des Stimmenanteils, den eine Liste (sagen wir eine Partei) insgesamt auf sich vereint. Das Mehrheitswahlrecht dagegen unterteilt das Land in Wahlkreise und erteilt für jeden Wahlkreis allein derjenigen Person ein Mandat, welche in ihrem Wahlkreis die Mehrheit der Stimmen erzielt hat. Es gibt dann im reinen Mehrheitswahlrecht genau so viele Mandate, wie es Wahlkreise gibt. In Deutschland wollte man sich die Vorteile beider Systeme sichern und hat eine Mischung von Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht installiert – daher die Überhangmandate. Als Vorteil des Mehrheitswahlrechts gilt, dass es regional differenzierte Präferenzen gut zum Ausdruck bringt, indem es von jedem Wahlkreis gerade jener Person ein Mandat zuweist, welche dort das größte Vertrauen genießt. Als Vorteil des Verhältniswahlrechts gilt dagegen, dass es ausdifferenzierte Präferenzen besser repräsentiert, die über die Regionen hinausreichen.
Inwieweit sich der Vorteil des Verhältniswahlrechts in der Praxis tatsächlich materialisiert, sei einmal dahingestellt. Eines gilt aber ganz sicher: Er muss teuer erkauft werden, und wenn sich die Dinge weiter in die gegenwärtige Richtung entwickeln, so wird die Rechnung künftig immer größer werden. Das Problem des Verhältniswahlrechts ist, dass es politischen Bauernfängern und Populisten Tür und Tor öffnet. Das erkennt man am einfachsten im Kontrast zum Mehrheitswahlrecht. Wenn regionale Differenzen nicht gerade ausufern, dann realisiert sich dort im Großen und Ganzen das so genannte Medianwählertheorem, und dessen Logik ist so: Angenommen, es ginge um die Höhe der Sozialleistungen. Dann gibt es naturgemäß Wähler, die sich davon mehr und andere, die sich davon weniger wünschen. Reiht man sie alle gedanklich von „ganz wenig“ bis „ganz viel“ auf, dann gibt es eine Person M, für die gilt, dass genauso viele Personen mehr Sozialleistungen wünschen als M, wie es Personen gibt, die weniger wünschen als M. Bei einer Abstimmung würde sich daher immer die von Person M gewünschte Höhe der Sozialleistungen durchsetzen. M ist der Medianwähler, und in einem System mit Mehrheitswahlrecht würden alle Parteien um die Gunst dieses Wählers in jedem Wahlkreis buhlen. Das führt dazu, dass das Mehrheitswahlrecht nur denjenigen Parteien einen landesweiten politischen Einfluss zubilligt, welche in der Lage sind, Wahlsieger in hinreichend vielen Wahlkreisen zu werden. Andere Parteien sind dagegen eher bedeutungslos, wodurch Länder mit Mehrheitswahlrecht zu einer Zwei-Parteien-Struktur neigen. Für unsere Überlegungen wichtiger ist, dass das Mehrheitswahlrecht eine machtvolle Tendenz zu ausgleichenden Positionen aufweist. In öffentlichen Debatten mag man die exotischsten Thesen diskutieren, aber wenn es zum Schwur kommt, wenn gewählt wird, dann hat nur eine Chance, wer sich in die Mitte der Gesellschaft begibt. Populisten und Bauernfänger werden auf diesem Wege systematisch an den Rand gedrängt.
Sicher: Mit den populistischen könnten auch sonstige Minderheitenpositionen tendenziell an den Rand gedrängt werden, und das wäre zu Recht als Nachteil zu sehen. Diese Befürchtung löst sich aber in Wohlgefallen auf, wenn man einen weiteren Mechanismus politischer Wahlen beachtet: den Effekt der Insignifikanz der einzelnen Stimme. Aus ihr folgt der Anreiz zu einem sehr eigenwilligen Entscheidungs- und Informationsverarbeitungsverhalten der Wähler. Ein Beispiel: Wenn jemand einen Kaufvertrag für ein Auto unterschreibt, dann hat die zugrunde liegende Entscheidung zwingende und weit reichende Folgen für genau diese Person – im Guten wie im Schlechten. Wenn jemand aber eine Wahlentscheidung trifft, dann hat das mit allergrößter Wahrscheinlichkeit überhaupt keine Auswirkungen, weder auf den betreffenden Wähler, noch für irgendwen sonst. Denn die Wahrscheinlichkeit, der alles entscheidende Medianwähler zu sein, sinkt mit der Zahl der Wahlberechtigten sehr schnell auf einen Wert nahe null. Das ist die Insignifikanz.
Bryan Caplan, ein „junger Wilder“ der polit-ökonomischen Zunft, spricht von „rationaler Irrationalität“, wenn es um dir Wirkungen der Insignifikanz geht. Das geht so: Menschen leisten sich mitunter so etwas wie „Lieblingshypothesen“, die sie auch wider bessere Einsicht aufrecht erhalten; vielleicht, weil es einfach schön ist, an irgendetwas zu glauben, woran man glauben möchte – wie an ein Horoskop. Basiert man aber folgenreiche Entscheidungen – wie den Kauf langlebiger Konsumgüter – auf irrationalen Hypothesen, dann kann das teuer werden, und deshalb ist die Reichweite zumindest der ganz irrationalen Lieblingshypothesen in privaten Entscheidungen naturgemäß begrenzt.
Wenn aber eine Einzelperson keine private Konsumentscheidung, sondern eine öffentliche Wahlentscheidung auf einer irrationalen Lieblingshypothese basiert, dann sind die Kosten wegen der Insignifikanz praktisch null, und zwar nicht nur für ihn selbst, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes. So mag man beispielsweise an wundersame wirtschaftspolitische Wirkungsmechanismen glauben, etwa dergestalt, dass man die Renten in einem Umlagesystem erhöhen könne, ohne dass dies die Nicht-Rentner bezahlen müssten. Oder man identifiziert dunkle Mächte oder konspirative Gruppen und findet auf diesem Wege die Schuldigen an dieser oder jener Misere. Bei privaten Entscheidungen würde man mit solchen Theorien schnell auf dem Boden der Tatsachen landen; bei öffentlichen Wahlentscheidungen aber nicht, weil jede Einzelstimme insignifikant ist. Letzteres gilt natürlich nicht für alle Stimmen zusammen. Nur: Auf alle Stimmen oder auch nur auf einen erheblichen Anteil davon hat ein einzelner Wähler keinen Einfluss. Das genau ist der Effekt der Insignifikanz, und ein gutes Wahlsystem trägt diesem Effekt Rechnung. Aber wie? Zunächst einmal dürfte klar sein: Sobald einmal eine Mehrheit der Gesellschaft einer irrationalen Lieblingshypothese anhängt, dann sieht es ziemlich übel aus – das wissen wir nicht zuletzt aus der jüngeren deutschen Geschichte, und mit Blick auf den grassierenden Islamismus ist das auch keine gute Nachricht. Denn dann kommt die Gesellschaft sprichwörtlich nicht zur Vernunft, egal wie teuer das am Ende sein wird.
Hängt umgekehrt eine solide Mehrheit der Bevölkerung den Prinzipien der Vernunft in der Politik an (wie immer man Vernunft konkret definiert), dann hat die Vernunft auch eine Chance – vorausgesetzt allerdings, das Wahlrecht funktioniert. Und dann werden bei Wahlen auch Minderheitenpositionen berücksichtigt, und zwar sowohl Minderheitsinteressen als auch etwas exotische Ideen, soweit diese eine gewisse Chance haben, sich nach näherer Prüfung als sinnvoll zu entpuppen. Der Grund ist wiederum die Insignifikanz der einzelnen Stimme. Denn diese koppelt die persönlichen Interessen des jeweiligen Wählers von seiner Wahlentscheidung ab. Es bleibt allein seine Überlegung darüber, was „vernünftig“ wäre und was nicht. Anders gesprochen: Bei vernunftbegabten Menschen werden die Wahlentscheidungen durch den Insignifikanzeffekt „geadelt“. Aber: Bei den Anhängern abstruser Theorien ist das ganz analog. Wegen des Insignifikanzeffekts werden auch deren Ideen zur vollen Blüte getrieben, ganz unabhängig von den gesellschaftlichen Kosten.
Nehmen wir einmal eine Gesellschaft an, die über eine stabile Mehrheit vernunftbegabter Wähler verfügt, aber auch über einen gewissen Teil von Anhängern irrationaler Theorien. Inwieweit sich in dieser Gesellschaft dennoch Populisten und Bauernfänger eine Basis in der Gesellschaft aufbauen können oder nicht, hängt vom Wahlsystem ab. Im Mehrheitswahlrecht geht es am Ende immer um eine Entscheidung zwischen Positionen, die aus der Mitte der Gesellschaft gegriffen sind; und wenn die Mitte der Gesellschaft sich in ihren Positionen auf solche beschränkt, welche dem Prinzip der Vernunft verpflichtet sind, dann können keine völlig irrationalen Dinge entschieden werden. Im Verhältniswahlrecht laufen die Dinge indes komplexer ab. Zunächst einmal erlaubt es jeder noch so abstrusen Position, im Parlament repräsentiert zu werden. Das allein wäre noch nicht schlimm, wenn nicht im Anschluss eine Zentrifugalkraft erzeugt würde, welche die Tendenz zum Medianwähler ersetzt durch Zufallsergebnisse. Aber genau das geschieht mit hoher Wahrscheinlichkeit. Es lässt sich leicht zeigen, dass es dann häufig keine einzige Mehrheit gibt, welche nicht durch ein Umschaufeln von Koalitionen durch eine andere Mehrheit überstimmt werden kann; und keine einzige dieser unendlich vielen möglichen Mehrheiten kann für sich beanspruchen, die eine Mehrheit zu sein, welche letztlich demokratisch legitim ist. Aber das schlimmste ist: Unter diesen Bedingungen werden diejenigen Mandatsträger systematisch benachteiligt, welche bestimmten Grundsätzen verpflichtet sind (etwa dem der Vernunft); umgekehrt werden aber diejenigen systematisch bevorteilt, die bar jeder Grundsätze sind und damit völlig flexibel die ganze Bandbreite des so entstandenen Spiels nutzen können.
Wenn das aber alles so schlimm ist, wieso funktioniert die deutsche Mischung aus Verhältnis- und Mehrheitswahlrecht dann schon so lange? Zwei Faktoren haben die beschriebenen Effekte bisher unter Kontrolle gehalten: erstens die Fünfprozent-Klausel und zweitens die Loyalität zu bestimmten Parteien. „Du wählst CDU, und darum mach ich Schluss“ sang der Szene-Entertainer Rocko Schamoni einst, und umgekehrt soll es Enterbungen wegen mangelnder Loyalität zu ebenjener Partei auch schon gegeben haben. In diesem Sinne hat es – wohl aus historischen Gründen – die bundesdeutsche Gesellschaft bisher auch geschafft, Rechtsradikale und Rechtspopulisten sehr weitgehend in der politischen Schmuddelecke zu halten, weil es auch für tendenziell geneigte Wähler unter Wahrung ihrer gesellschaftlichen Reputation kaum möglich ist, sich zur Wahl solcher Leute zu bekennen. Die Loyalität hat also jene Stabilität erzeugt, die wir bisher hatten, und das hat uns vor allem vor dem Spiel rechter Populisten wirksam geschützt. Bekannt ist aber auch, dass solche Loyalitäten schwinden, und der relativ größere Erfolg rechter wie linker Populisten in den neuen Bundesländern erklärt sich gut aus der dort kaum ausgeprägten Loyalität gegenüber etablierten „Westparteien“.
Hinzu kommt: Was am rechten Rand im Wesentlichen gut gelang, droht am linken Rand vollends zu misslingen, und das könnte einer der beiden Volksparteien nach über 140 Jahren die Existenz kosten. Das Schlimme für die Sozialdemokraten ist: Sie haben keine Chance, dem bösen Spiel zu entfliehen, so lange sie die Menge ihrer politischen Optionen durch ihre Grundsätze beschränkt. Denn solange die SPD sich selbst treu bleibt, wird sie durch die Logik unseres Wahlsystems unerbittlich zwischen den bürgerlichen Parteien und der Partei „Die Linke“ zerrieben. Ihre einzige Chance bestünde darin, ihre Grundsätze über Bord zu werfen, sich vollends dem Populismus hinzugeben und „Die Linke“ ganz links zu überholen. Dann würde „Die Linke“ selbst mit dem derzeitigen SPD-Schicksal konfrontiert. Allerdings könnte sie dies wiederum abwehren, indem sie ihrerseits an irgendeinem politischen Rand plötzlich auftauchte. Würde dieses Spiel dann bar jeder Grundsätze von allen Parteien aufgenommen, dann würde ein Karussell in Gang gesetzt, welches jede Stabilität und jede Legitimität am Ende zerstören müsste, weil es theoretisch gesprochen kein Gleichgewicht gibt.
Damit sieht das Ganze nur vordergründig wie ein Privatproblem einer bestimmten Partei aus. Das tiefer liegende Problem ist nämlich durchaus ein öffentliches, und es besteht darin, dass unser Wahlrecht womöglich gerade das produziert, was adverse Selektion genannt wird. Das Verhältniswahlsystem, in Verbindung mit dem Insignifikanzeffekt sowie einem Bodensatz an Irrationalität in der Wählerschaft, befördert systematisch Personen und Inhalte an die politische Spitze, die dort eigentlich keiner haben will – vermutlich nicht einmal die (rational) irrationalen Wähler. Genau das dürfte es auch sein, was in Wirklichkeit die vielbeklagte Politikverdrossenheit produziert: Man wählt Populisten und wundert sich, dass diese ihre Versprechen nicht einhalten können. Das Verhältniswahlrecht befördert systematisch die Populisten nach oben, und genauso systematisch verdrängt es diejenigen, die zur Vernunft mahnen. Es erlaubt die Übergabe von Verantwortung an Personen, die uns weismachen wollen, dass der Mond eine Scheibe ist. Und die Vertreter (wirtschafts-)politischer Vernunft stehen (nicht nur in der SPD) hilflos daneben, weil sie zwar inhaltliche Alternativen zu den Populisten zu bieten haben, aber keine, mit denen man unter den gegebenen Spielregeln Wahlen gewinnen kann. Bei allem Respekt vor den großartigen Leistungen unseres Grundgesetzes: Über diese Dinge darf und sollte man nachdenken, auch wenn an dieser Stelle keine fertige Problemlösung geboten werden kann.
- Die polit-ökonomische Krux der Klimapolitik - 25. November 2024
- Zwei unangenehme Einsichten zum Krieg in der Ukraine - 31. August 2024
- Populismus und Verschwörungstheorien - 13. April 2024
Ihre Betrachtung geht davon aus, man könne so etwas wie eine rationale oder objektiv richtige Politik bestimmen. Die Aufgabe von Wahlen wäre es dann, diese, in der Mitte der Wählenden vermutete richtige Politik zur Wirkung zu bringen.
Wirklichkeitsnäher ist m.E. ein Modell, das Politik als ein Ausgleich widerstreitender Interessen betrachtet, die zunächst einmal gleichermaßen Ansprüche erheben können und in einem demokratischen Prozess moderiert werden müssen. Ein Mehrheitswahlrecht verzichtet von vorn herein darauf, die Interessen der Ränder auch nur wahrzunehmen. In einem Verhältniswahlrecht ist dieser Prozess offener – damit aber natürlich auch schwieriger zu moderieren.
@ruebe: Es geht ja genau darum, dass die politischen Parteien diese Ränder gar nicht wahrnehmen sollen, weil diese Ränder z.T. äußerst unappetitlich sind. In einem Mehrheitswahlrecht müssen die Parteien versuchen die Gemäßigten zu erreichen, weil sie mit den Extremen alleine nicht gewinnen können. Im einem Verhältniswahlrecht kann man mit den Extremen zwar auch keine absolute Mehrheit bekommen, aber man kann so stark werden, dass man die „normalen“ Parteien zu unnatürlichen Koalitionen zwingt (z.B. große Koalition) und die „normalen“ Parteien rücken beim Versuch der extremistischen Partei wieder Wähler abzuluchsen weiter an den Rand.