Auf dem Weg in die Gerontokratie…?
Im Jahr 2002 verfassten die beiden Münchener Finanzwissenschaftler Hans-Werner Sinn und Silke Übelmesser (heute Universität Jena) eine kurze, aber prägnante Studie über das rasche Herannahen gerontokratischer Verhältnisse in Deutschland. In der Studie mit dem Titel „Pensions and the path to gerontocracy in Germany“ zeigen sie, dass Deutschland etwa ab dem Jahr 2016 eine Gerontokratie sein wird, wobei Gerontokratie als ein Zustand zu verstehen ist, in dem keine strukturelle politisch-gesellschaftliche Mehrheit mehr gegen die Interessen alter Menschen möglich ist. Konkret argumentieren die Autoren, dass insbesondere keine Rentenreformen mit Einschnitten bei den Rentnern mehr durchsetzbar sein werden.
Betrachtet man die gegenwärtigen Koalitionsverhandlungen, dann kann leicht der Eindruck entstehen, dass CDU, CSU und SPD in einer Art vorauseilendem Gehorsam bereits die zukünftige Gerontokratie vorwegnehmen wollen. In der Diskussion sind u.a. Mütterrenten und Renten für langjährig Versicherte, die – vor allem, wenn sie durch ausbleibende Beitragssenkungen finanziert werden – die Balance des Rentensystems zugunsten der Rentnerinnen und Rentner und zulasten der arbeitenden Bevölkerung verschieben würden.
Altersabhängige Wählerinteressen
Dass eine solche (intergenerationale) Umverteilung von den Jungen zu den Älteren eine kaum vermeidbare Konsequenz des demokratischen Prozesses in Ländern mit umlagefinanzierten Rentensystemen sei, wurde bereits in dem berühmten Artikel „Why the social insurance budget is too large in a democracy“ von Edgar Browning (Texas A&M University) aus dem Jahr 1975 ausgeführt. Browning und zahlreiche Autoren nach ihm argumentieren, dass die Wahlinteressen der Menschen – auch – altersabhängig sind. Je jünger ein Mensch ist, desto weiter liegt sein Ruhestand in der Zukunft und desto länger wird er noch Beiträge in das Rentensystem einzahlen. Ein Mensch am Anfang seines Berufslebens wird demgemäß die Vorteilhaftigkeit eines Rentensystems beurteilen, indem er die (Beitrags-)Kosten während eines langen Arbeitslebens und die Renten(-Nutzen) der erwarteten Bezugszeit miteinander verrechnet. Weil er alle zukünftigen Beitrags- und Bezugsjahre im Barwert gegeneinander abwägt, ist die von ihm gewünschte Kombination aus Beitragssatz und Rentenniveau als effizient anzusehen (sofern er nicht seinerseits Lasten auf zukünftige, evtl. noch nicht einmal geborene Generationen verschieben kann).
Ein älterer Mensch, dessen Berufsleben sich dem Ende zuneigt, wird seine Zukunft anders bewerten: wenigen Beitragsjahren stehen relativ viele Rentenbezugsjahre entgegen, d.h. ein hoher Beitragssatz stellt für ihn kein gravierendes Problem dar, weil er davon nur kurz betroffen sein wird. Dafür wird er aber später von höheren Rentenzahlungen profitieren, die – und dies ist das Problem des Umlagesystems – von der nachfolgenden Generation durch höhere Beiträge zu zahlen sein werden. Die Beitragssatz-Rentenniveau-Kombination wird hierbei – zulasten jüngerer Kohorten und Generationen – in Richtung eines höheren Rentenniveaus oder höherer Rentenleistungen verzerrt.
Betrachtet man schließlich die Rentner, so ist anzunehmen, dass die genannte Verzerrung sogar einen Höhepunkt erreicht. Die Rentner profitieren in Brownings Modell uneingeschränkt von einer Erhöhung des Rentenniveaus, da sie keine Beiträge mehr zahlen. Für sie darf der Beitrag also gerne kräftig steigen (solange die negativen Arbeitsangebotsanreize der Beitragszahler nicht zu groß werden).
Die entscheidende Frage des Modells ist nun, wer die Kombination aus Beitragssatz und Rentenniveau politisch bestimmen wird. Browning argumentiert, dass dies – gemäß dem Medianwählertheorem – der Wähler im Medianalter sein wird (bei ihm ist die eine Hälfte der Wähler älter und die andere Hälfte jünger als er selbst). Das Medianalter der deutschen Wählerschaft liegt heute bei etwa 50 Jahren und ist damit dem Renteneintritt deutlich näher als dem Berufsstart, so dass aus dem Modell eine zu umfangreiche Umverteilung von den Jungen zu den Alten zu erwarten wäre.
Die Mütterrente
Dieser Wirkungszusammenhang scheint sich auch in den aktuellen Koalitionsverhandlungen widerzuspiegeln, in denen mit Verve über die so genannte Mütterrente gestritten wird, bei der zusätzliche Rentenleistungen für Mütter, deren Kinder vor 1992 geboren wurden, eingeführt werden sollen. Die Mütterrente ist für die Betroffenen vor allem deshalb attraktiv, weil sie als „Windfall gain“ (Mitnahmeeffekt) auftreten wird. In der (finanziellen) Lebensplanung spielte die Mütterrente bisher keine Rolle, weil sie von den Betroffenen zum Zeitpunkt der Geburt ihrer Kinder nicht antizipiert werden konnte. Zudem werden der Rentenaufstockung kaum substanzielle eigene Beitragszahlungen entgegenstehen, so dass die Relation von Kosten zu Nutzen sehr günstig ausfallen wird. Bezahlen müssen dies – ganz wie das Modell es vorhersagt – die jüngeren Arbeitnehmerkohorten, deren Kosten-Nutzen-Abwägung eine derartige Mütterrente sicherlich nicht vorsehen würde. Für sie (und die Gesellschaft als Ganzes) wären eher Zusatzrentenleistungen für zukünftige Kinder von Interesse, weil diese keinen Mitnahmeeffekt darstellen, sondern die Entscheidung, Kinder zu bekommen, positiv beeinflussen können.
Ist der politökonomische Ansatz gerechtfertigt?
Eine solche politökonomische Opportunitätsbetrachtung der Mütterrente wird nicht auf ungeteilte Zustimmung treffen, allerdings wird im Folgenden gezeigt, dass es durchaus stichhaltige Argumente gibt, die Vorhersagen der politischen Ökonomie der Rentenversicherung und des Modells von Browning ernst zu nehmen.
Der naheliegende Einwand, dass Brownings Modell (und damit die weiterführenden Überlegungen zur Mütterrente) zu sehr vereinfachten, weil zu stark von realen Institutionen abstrahiert werde, ist dabei wenig stichhaltig. In der Nachfolge von Brownings Artikel wurden zahlreiche inhaltliche Erweiterungen des Modells vorgenommen, die eine größere Realitätsnähe mit sich gebracht haben. So lässt sich bspw. zeigen, dass die – gerne im Sinne einer vermeintlichen „sozialen Gerechtigkeit“ geforderte – Berücksichtigung von intragenerationaler Umverteilung im Rentensystem (also von reichen zu armen Beitragszahlern bzw. Rentnern) das grundlegende Generationenproblem nicht auflösen kann. Es schafft lediglich einen (zusätzlichen) Anreiz für Reiche und Arme, eine Koalition gegen die arbeitende Mittelschicht einzugehen. Die erst genannten beiden Gruppen zahlen wenig bis gar keine Beiträge in die Rentenversicherung (Reiche sind i.d.R. von der Beitragspflicht freigestellt), haben aber ein Interesse an hohen Rentenleistungen für die Armen (Reiche deshalb, weil sie dann weniger stark über das Steuersystem zur Finanzierung von Leistungen für die Armen herangezogen werden). Betrachtet man die Realität des deutschen Rentensystems und der aktuellen Koalitionsverhandlungen, dann sind es in der Tat die „gewöhnlichen“ Beitragszahler bzw. Arbeitnehmer, die als Finanzierungsquelle für die neuen Leistungen ausgemacht worden sind, weil ihr Anspruch auf eine Beitragssenkung aufgehoben werden soll.
Darüber hinaus stärken ganz pragmatische politische Erwägungen die Aussagen von Brownings Ansatz. So ist die Wahlbeteiligung älterer Menschen deutlich höher als die Wahlbeteiligung junger Menschen, so dass die Parteien ihre Wahlchancen mit einer Politik zugunsten älterer Wählerschichten auch vor diesem Hintergrund verbessern. Zugleich ist die Altersstruktur der meisten Parteien, aber auch vieler anderer institutionalisierter und am politischen Prozess beteiligten Gruppen (z.B. Gewerkschaften, Kirchen usw.) oftmals noch gerontokratischer als die der Gesellschaft bzw. Wählerschaft selbst. Auch von dieser Seite werden politische Forderungen wie die Mütterrente daher eher unterstützt als in Frage gestellt. Dass die Mütterrente momentan eine solch zentrale politische Rolle spielt, dürfte schließlich auch der Tatsache geschuldet sein, dass die betroffenen Mütter sich aktuell ungefähr im Alter des Medianwählers befinden.
Wie alt muss man sein, um altruistisch zu handeln?
Nun mag der weitergehende Vorwurf laut werden, dass die politökonomischen Modelle der Rentenversicherung ein zu negatives Bild älterer Menschen entwerfen, weil sie unterstellen, dass diese ausschließlich eigennützig zu ihren Gunsten und zulasten ihrer eigenen Nachkommen handelten. Dies sei aber gar nicht der Fall. Vielmehr würde ein intergenerationaler Altruismus zwischen Alten und Jungen – und zwar in beide Richtungen – existieren. Generationenkonflikte zwischen Jun und Alt, wie sie die genannten Modellwelten suggerieren, würden daher realiter nicht vorkommen.
Diesem Argument wohnt eine gewisse Berechtigung inne, wie Jens Ruhose (ifo Institut München) und der Verfasser dieses Beitrags in ihrem aktuellen Artikel „Honey, I shrunk the kids“˜ benefits – revisiting intergenerational conflict in OECD countries“ zeigen. Betrachtet man ältere Wähler jenseits einer Altersgrenze von 70 Jahren, so sind diese eher altruistisch eingestellt und befürworten durchaus staatliche Ausgaben zugunsten von Familien und Kindern. Dies ist bei Wählern in einem Alter um den Renteneintritt (ca. 60 bis 69 Jahre) anders. Sie lehnen die entsprechenden Ausgaben eher ab. Dies lässt sich durch einen Übergangsprozess erklären: Die Erwartung oder Erfahrung sinkender Einkommen als Folge des eigenen Renteneintritts wirkt sich offenbar negativ auf die Bereitschaft aus, über das Steuer- und Beitragssystem jüngere Kohorten (jenseits der eigenen Familie) zu unterstützen. Erst mit der Gewöhnung an die neuen Einkommensverhältnisse verkehrt sich dieses Verhalten in höherem Alter wieder in sein Gegenteil.
Die Perspektiven
Überträgt man das Ergebnis dieser Studie in die politische Arena, dann lässt sich wenig Erfreuliches für jüngere Menschen und Familien erwarten. Da sich das Medianalter der Wähler in Richtung des Renteneintrittsalters entwickelt, werden knappe Ressourcen eher in Richtung älterer Menschen umgeleitet werden. Gleichzeitig wird das politische Interesse an den jüngeren Generationen sinken, obwohl gerade deren Bildung und Ausbildung die entscheidende Grundlage für wirtschaftliches Wachstum und damit eine großzügigere zukünftige Umverteilung bilden würde. Es ist zu befürchten, dass diese Effekte ab dem ominösen Jahr 2016 und dem danach immer mehr einsetzenden demographischen Wandel noch verstärkt werden.
Die aktuellen Koalitionsverhandlungen und die politischen Diskussionen über die Mütterrente werden nur ein Vorgeschmack darauf sein, wie die gerontokratischen Mehrheiten der Zukunft (mit einem Medianwähler an der Renteneintrittsgrenze) die staatlichen Systeme strukturell ineffizienter und staatliche Leistungen zugunsten junger Generationen vom Wohlwollen der Älteren abhängig machen.
- Bundesfinanzkriminalamt ante portas
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3 Antworten auf „Mütterrenten, ausbleibende Beitragssenkungen und Renten für langjährig Versicherte
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