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„This German-bashing is getting tiresome. When Paul Krugman studied economics, he ranked at the top of his class. If his classmates bashed him for making them look bad by comparison, would he urge them to study harder? Would he give them lessons in how to study more efficiently? Or would he sabotage his own grades and lobby for grade inflation for his classmates?“ (Anonymer Kommentator in der NYT)
Es ist wieder einmal so weit. Deutschland sitzt auf der Anklagebank. Angeklagt ist es wegen zu hoher Leistungsbilanzüberschüsse und das nicht zum ersten Mal. Das amerikanische Finanzministerium und der IWF klagen an, die EU-Kommission will noch prüfen. Mit den ständigen Überschüssen legten die Deutschen nicht nur die Axt an den Euro, sie destabilisierten auch – zusammen mit Chinesen und Japanern – die Weltwirtschaft. Die beklagten deutschen Unternehmen sind sich allerdings keiner Schuld bewusst. Sie strengen sich an, um mit ihren Produkten international wettbewerbsfähig zu werden. Eine produktivitätsorientierte Lohn- und Tarifpolitik und ein starker Strom marktfähiger Innovationen machen deutsche Unternehmen zu ungeliebten Konkurrenten auf den Weltmärkten. Besonders erfolgreich sind sie mit ihren Investitionsgütern. Merkantilistische Instrumente, die Exporte begünstigen und Importe behindern, sind hierzulande nicht mehr als anderswo im Einsatz. Das manipulationsanfällige Instrument des Wechselkurses hat Deutschland mit dem Euro aus der Hand gegeben. Kein Wunder, dass deutsche Arbeitgeber, Gewerkschafter und Politiker die Welt nicht mehr verstehen. Soll Deutschland mit planwirtschaftlichen Obergrenzen für Leistungsbilanzüberschüsse um die Früchte seiner harten Arbeit gebracht werden?
Einmaleins der Zahlungsbilanz
Der Streit um Salden in Leistungsbilanzen eskaliert seit dem Ausbruch der Finanz- und Eurokrise. Weltweit erwirtschaften ein paar Länder – Deutschland, China, Japan – anhaltende Überschüsse. Dagegen häufen etwa die USA seit langem riesige Defizite an. Diese Entwicklung ist auch in der Eurozone zu beobachten. Den größten positiven Saldo hat Deutschland, die südliche Peripherie ist noch immer tief im Defizit. Welt- und europaweit ist die Furcht weit verbreitet, dass die Überschuss- auf Kosten der Defizitländer leben. Sie saugten Nachfrage ab. In Ländern mit Defiziten in der Leistungsbilanz stiege die Arbeitslosigkeit. Tatsächlich ist der heftige Streit um Leistungsbilanzsalden weniger ein Allokations- als ein Verteilungsproblem. Salden in den Leistungsbilanzen spiegeln wider, dass Länder temporär entweder mehr Güter exportieren als importieren (Überschüsse) oder mehr importieren als exportieren (Defizite). In beiden Fällen müssen sich die wirtschaftlichen Akteure mittel- und längerfristig anpassen. Einerseits erodiert die starke industrielle Basis der Überschussländer mit steigendem Wohlstand, andererseits erfordert der wachsende Finanzbedarf der Defizitländer über kurz oder lang eine Umfinanzierung. In Wirklichkeit geht es also darum, wer die Kosten dieser Anpassung tragen soll, die Überschuss- oder die Defizitländer?
Es ist wenig zielführend, die Debatte über Leistungsbilanzsalden emotional zu führen. Der nüchterne Blick auf die Buchhaltung der Zahlungsbilanz ist hilfreicher. Werden alle Transaktionen vollständig erfasst, sind Zahlungsbilanzen immer ausgeglichen. Das hat Folgen für die Teilbilanzen. Die Leistungs-, Kapital- und Devisenbilanz können ebenfalls ausgeglichen oder aber auch im Ungleichgewicht sein. Sie müssen sich allerdings zu null ergänzen. Ein Saldo in der Leistungsbilanz eines Landes lässt sich – wenn die Devisenbilanz ausgeglichen ist – buchhalterisch aus der Sicht der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung als
(Ex – Im) = (S – I) + (T – G)
darstellen. Ein Überhang der privaten Ersparnisse (S) über die privaten Investitionen (I) trägt ebenso dazu bei, dass die Exporte (Ex) die Importe (Im) übersteigen, wie ein Überhang der Steuereinnahmen (T) über die staatlichen Ausgaben (G). Leistungsbilanzüberschüsse bedeuten, dass Private und Staat mehr sparen als ausgeben. Da die Zahlungsbilanz ausgeglichen sein muss, ist die Kapitalbilanz im Defizit. Das Land ist ein Nettogläubiger gegenüber dem Ausland. Bei Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten ist es umgekehrt. Diese Länder müssen die Defizite in der Leistungsbilanz über das Ausland finanzieren. Sie verschulden sich netto im Ausland.
Ein Überschuss in der Leistungsbilanz eines Landes kann mit zwei ganz unterschiedlichen Konstellationen einhergehen. Einerseits können die inländischen privaten Investitionen hinter den privaten Ersparnissen im Inland zurückbleiben. Ein Teil der inländischen Ersparnisse sucht sich Anlagemöglichkeiten im Ausland. Überschüsse in der Leistungsbilanz und Defizite in der Kapitalbilanz gehen Hand in Hand. Andererseits können Leistungsbilanzüberschüsse auch mit Überschüsse im staatlichen Haushalt einhergehen. Das ist der Fall, wenn der Staat „spart“. Die staatlichen Ausgaben für Konsum und Investitionen bleiben hinter den Steuereinnahmen zurück. Der Staat „erwirtschaftet“ Haushaltsüberschüsse. Der umgekehrte Fall von Defiziten in der Leistungsbilanz kann einerseits mit inländischen Investitionen einhergehen, die über den privaten inländischen Ersparnissen liegen. In einem solchen Fall hat das Land einen Überschuss in der Kapitalbilanz. Ausländische Ersparnisse finanzieren die Defizite in der Leistungsbilanz. Diese Ersparnisse können von Privaten oder anderen Staaten kommen. Andererseits ist auch die Kombination von Leistungsbilanz- und Haushaltsdefiziten denkbar. Seit sich in den USA zu Beginn der 80er Jahre eine solche Konstellation einstellte, hat sich der Begriff des „Zwillingsdefizits“ eingebürgert.
Der wirtschaftspolitische Streit über Leistungsbilanzsalden entzündet sich an der unterschiedlichen Interpretation der verschiedenen Konstellationen von Leistungsbilanzsalden, Salden bei Sparen und Investieren und den Haushaltssalden. Die einen, allen voran die Deutschen, interpretieren Überschüsse in der Leistungsbilanz als eine Stärke der internationalen Wettbewerbsfähigkeit ihrer Unternehmen und einer relativ „sparsamen“ Haushaltspolitik des Staates. Defizite in der Leistungsbilanz werden als Wettbewerbsschwäche der Unternehmen und ein konsumtives Leben „über die Verhältnisse“ interpretiert. Die Leistungsbilanz „befiehlt“, die Kapitalbilanz „gehorcht“. Einige andere, allen voran schon Eugen von Böhm-Bawerk (1914), sind allerdings der Meinung, dass die Kapitalbilanz „befiehlt“ und die Leistungsbilanz „gehorcht“. Danach finanzieren die Kapitalströme nicht mehr nur Handelstransaktionen, sie entfalten immer öfter auch ein Eigenleben. Auf weltweit stark integrierten Kapitalmärkten suchen die Ersparnisse nach der optimalen Rendite eines diversifizierten Portfolios. Tatsächlich übersteigen die internationalen Kapitalströme das Volumen des internationalen Handels um ein Vielfaches. Nicht mehr die Leistungsbilanz dominiert. Offensichtlich hat die Kapitalbilanz in Zeiten globalisierter Finanzmärkte oft eine „befehlende“ Rolle.
Probleme von Leistungsbilanzsalden
In der Frage, welche Teilbilanz dominiert, lautet die Antwort nicht „entweder oder“. Kurzfristig mag zwar die Leistungs- oder die Kapitalbilanz den Ton angeben. Schon mittelfristig gibt es aber ein „sowohl als auch“. Leistungs- und Kapitalbilanz interagieren. Grundsätzlich gilt: Identitäten sagen nichts über Kausalitäten. Das gilt auch für die Teilbilanzen der Zahlungsbilanz. Die Entwicklung der Teilbilanzen ist nicht das Ergebnis eines kollektiven Masterplanes. Millionenfache individuelle Entscheidungen von Verbrauchern, Unternehmern und Wählern (Politikern) sind die wirklichen Treiber. National unterschiedliche Präferenzen für Preisniveaustabilität beeinflussen die internationale Wettbewerbsfähigkeit eines Landes. Eine stärkere Präferenz für Preisniveaustabilität stärkt im allgemeinen die Wettbewerbsfähigkeit. Es bilden sich Überschüsse in der Leistungsbilanz. Altern Gesellschaften unterschiedlich stark, haben stärker vergreisende Länder eine stärkere Präferenz für Zukunftskonsum. Sie sind eher bereit, ihre Ersparnisse im Ausland anzulegen. Es bilden sich Defizite in der Kapitalbilanz. Schließlich können sich Länder auch in ihren inter-generativen Präferenzen unterscheiden. Eine stärkere Präferenz für ein angenehmes Leben „auf Pump“ führt zu Defiziten in der Leistungs- und Überschüssen in der Kapitalbilanz.
Es wäre reiner Zufall, wenn die Teilbilanzen ausgeglichen wären. Salden in den Teilbilanzen sind nicht die Ausnahme, sondern eher die Regel. Unausgeglichene Teilbilanzen sind allerdings wirtschaftlich grundsätzlich kein Problem. Das setzt aber voraus, dass die relativen Preise flexibel sind. Wichtige relative Preise sind die Wechselkurse. Lässt man sie sich entfalten, sorgen sie nicht nur dafür, dass die Bäume der Erfolgreichen nicht in den Himmel wachsen. Sie verhindern auch, dass die wirtschaftlich Fußkranken für immer in der Hölle schmoren. Die Zahlungsbilanz gleicht sich aus. Trotzdem sind Salden in den Teilbilanzen weiter möglich. Größere Probleme bereiten sie allerdings nicht. Schwierigkeiten treten erst auf, wenn der Mechanismus der Wechselkurse ausgeschaltet ist. Das ist in einem System fester Wechselkurse oder einer einheitlichen Währung, wie in der EWU, regelmäßig der Fall. Die notwendigen strukturellen Anpassungen in Ländern und Zahlungsbilanzen müssen dann über interne Auf- und Abwertungen erfolgen. Höhere Löhne und Tarife führen in Ländern mit Leistungsbilanzüberschüssen über kurz oder lang fast automatisch auch zu steigenden Lohnstückkosten. Schwieriger ist es in Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten. Dort behindern oft nach unten inflexible Löhne und Preise den Prozess der internen Abwertung.
Die anhaltend hohen bilateralen Salden in den Leistungsbilanzen der Länder der EWU sind ohne die Existenz des Euros nicht denkbar. Erst trug er mit dazu bei, dass sie entstanden sind und nun verhindert er, dass sie verschwinden. Der Euro war mit daran beteiligt, dass in einigen Ländern die Überschüsse in der Leistungsbilanz weiter wuchsen und in anderen die Defizite geradezu explodierten. Mit dem Euro erodierten die Zinsdifferenzen zwischen Zentrum und Peripherie, weil die Risikoprämien sanken. Die Anreize, sich zu verschulden, stieg in der Peripherie, die Bereitschaft des Zentrums, die Ersparnisse dort anzulegen, nahm zu. Kapital floss vom Norden in den Süden. Die Kapitalbilanzen des Südens erzielten einen Überschuss, die des Nordens gerieten ins Defizit. Das stieß nicht nur einen Prozess starken wirtschaftlichen Wachstums in der Peripherie an, auch die Leistungsbilanzen dieser Länder gerieten noch weiter ins Defizit. Die Kapitalbilanzen „trieben“ die Leistungsbilanzen. Möglich wurde diese Entwicklung, weil die Politik im Euro eine Schicksalsgemeinschaft sieht. Damit wurde den Kapitalgebern signalisiert, dass der in Maastricht vereinbarte Haftungsausschluss im Zweifel das Papier nicht wert ist, auf dem er steht. Die Risikozuschläge verschwanden, Kapital floss vom zentralen Norden in den peripheren Süden. Das spätere „Ärgernis“ der hohen bilateralen Salden in den Leistungsbilanzen war geboren.
Der Euro verhindert auch, dass die so verzerrten bilateralen Salden in den Leistungsbilanzen der Euro-Länder zügig bereinigt werden. Er wird zum Stolperstein für den Prozess der internen Abwertung der Defizitländer. Die Hoffnung, dass der Euro zu einem Katalysator flexibler relativer Preise wird, hat sich nicht erfüllt. Mit dem Euro sollte massiver Druck aufgebaut werden, Strukturreformen anzustoßen. Eine strikt auf Preisniveaustabilität ausgerichtete Geldpolitik der EZB und ein wirksamer Haftungsausschluss unter den Mitgliedern sollten überfällige Strukturreformen erzwingen. Der Weg über interne Auf- und Abwertungen sollte geebnet werden. Dazu ist es nicht gekommen. Die Regierungen setzten die No-Bail-Out-Klausel außer Kraft, die EZB betreibt eine zügellose „monetäre Fiskalpolitik“. Kein Wunder, dass die Strukturreformen in Ländern mit Leistungsbilanzdefiziten ins Stocken geraten sind. Gigantische monetäre und fiskalische Rettungsschirme zementieren überkommene sektorale Strukturen. Die Salden in den Leistungsbilanzen verfestigten sich. Damit nicht genug. Die wirtschaftliche Schwäche der Peripherie drückt zwar den Außenwert des Euro. Das verbessert aber die internationale Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft stärker als die anderer Mitglieder. Die Salden in der deutschen Leistungsbilanz wachsen weiter.
Lösung der Probleme
Der Bruch der Verträge von Maastricht durch die Regierungen – Haftungsgemeinschaft – und das vertragswidrige Verhalten der EZB – monetäre Fiskalpolitik – verzerren weiter die bilateralen Salden der Leistungsbilanzen. Diese Salden schüren Unfrieden und Zwietracht in Europa. Die Defizitländer haben Bedenken, dass ihnen die Überschussländer die Nachfrage abgraben. Das wäre dem wirtschaftlichen Wachstum und der Beschäftigung abträglich. Dagegen fürchten die Überschussländer um ihr altes „Geschäftsmodell“. Ihre meist exportlastigen industriellen Sektoren würden an Dynamik verlieren. Das täte weder dem wirtschaftlichen Wachstum noch der Beschäftigung gut. Die spannende Frage bleibt, wie man diesen Konflikt zwischen Überschuss- und Defizitländern lösen will. Wer soll die Lasten der Anpassung tragen? Zur Diskussion stehen eine marktwirtschaftliche und eine planwirtschaftliche Alternative. Mit konkreten Obergrenzen für die Salden in den Leistungsbilanzen setzen die USA, der IWF und auch die EU-Kommission auf Planwirtschaft. Eine solche Strategie ist ohne „Wenn und Aber“ abzulehnen. Die individuelle Entscheidungsfreiheit von Verbrauchern, Unternehmern und Wählern (Politikern) würde ausgehebelt. Sinnvoller ist es, die marktlichen Mechanismen der Anpassung der Teilbilanzen endlich wieder in Kraft zu setzen.
Die notwendige interne Anpassung läuft über die realen Lohnstückkosten. Diesen Weg gehen die Überschussländer. Der Anstieg der Beschäftigung lässt Löhne und Tarife quasi automatisch steigen, die internationale Wettbewerbsfähigkeit sinkt, die Überschüsse in der Leistungsbilanz schmelzen. Diese Entwicklung ist auch in Deutschland zu beobachten. Allerdings ist die Preiselastizität der Nachfrage nach deutschen Investitionsgütern eher gering. Deshalb wird es noch etwas dauern. Viel schwieriger ist der Weg über sinkende Lohnstückkosten in den Defizitländern. Von den beiden Möglichkeiten „besser oder billiger“ bleibt ihnen kurzfristig nur die zweite. Nominallöhne und Güterpreise sinken aber nur, wenn es gelingt, die Kanäle zu verstopfen, über die Tarifpartner beschäftigungspolitische Lasten auf Dritte abwälzen. Das ist ohne umfassende Strukturreformen unmöglich. Erstens muss der Weg über eine Abwälzung auf die Systeme der Sozialen Sicherung verbaut werden. So sind etwa höhere, nicht niedrige Altersgrenzen angesagt. Zweitens müssen die Arbeitsmärkte flexibilisiert werden. Betriebsnähere Tarifabschlüsse und ein weniger strenger Kündigungsschutz sind unabdingbar. Drittens muss die staatliche Verschuldung begrenzt werden. Das ist ohne wirkliche Austerität nicht möglich. Die Verträge von Maastricht sind wieder ohne „Wenn und Aber“ einzuhalten. Schuldengrenzen können helfen, eine Haftungsgemeinschaft darf es nicht geben.
Das schließt allerdings Hilfen für die Defizitländer nicht aus. Mit der Installation eines Europäischen Währungsfonds (ESM) haben die Mitglieder der EWU eine Lücke geschlossen. Der „fiskalische Rettungsschirm“ soll „Zahlungsbilanzhilfen“ leisten. Diese temporären Hilfen sind an Gegenleistungen der Hilfsbedüftigen gekoppelt. Gefordert werden nachhaltige Sparmaßnahmen und umfassende Strukturreformen. Trotz richtiger Ansätze, reichen die Reformen bisher nicht aus. Das gilt vor allem für die südliche Peripherie einschließlich Italien und Frankreich. Zwar sind auch dort die Lohnstückkosten gesunken, die Güterpreise gehen allerdings nur sehr langsam zurück, bisher allein in Griechenland. Es ist also noch ein weiter Weg zu spürbar mehr internationaler Wettbewerbsfähigkeit der Problemländer. Eine rigorose Reformpolitik stößt aber an Grenzen der Belastbarkeit demokratischer Institutionen dieser Länder. Werden sie erreicht, bleibt ihnen nur die Möglichkeit, zumindest temporär die EWU zu verlassen. Dieser Weg ist allerdings sehr steinig. Der angehäufte reale Schuldenberg gegenüber dem Ausland bleibt nicht nur erhalten. Sinkende Güterpreise erhöhen ihn. Es ist auch eine Illusion zu glauben, mit einer Abwertung könne man sich eine Politik der Austerität und harter Strukturreformen ersparen. Die Lasten aus diesen Reformen können nicht mehr durch Dritte finanziert, sie müssen nun selbst getragen werden.
Der Streit um die Salden der Leistungsbilanzen ist ein handfester Verteilungskonflikt. Überschuss- und Defizitländer geraten sich in die Haare, weil beide die Lasten des sektoralen Strukturwandels dem jeweils anderen aufbürden wollen. In Europa steht vor allem das erfolgreiche „deutsche Geschäftsmodell“ am Pranger. Es spricht einiges dafür, dass auch in Deutschland die sektoralen Strukturen nicht unverzerrt sind. Der exportlastige industrielle Sektor spielt eine zu große, der Dienstleistungssektor eine zu kleine Rolle. Das hat auch damit zu tun, dass Dienstleistungen hierzulande noch immer stark reguliert sind. Es wäre für alle Beteiligten in Europa viel gewonnen, wenn es in Deutschland gelänge, den Dienstleistungssektor zu deregulieren. Mit weniger regulatorischen Wettbewerbshemmnissen vor allem für freiberufliche Dienstleistungen und Netzindustrien würden man drei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens würden die inländische Beschäftigung und das wirtschaftliche Wachstum profitieren, zweitens würden die sektoralen Verzerrungen verringert und drittens würden die strukturell hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse entzerrt. Mit einer forcierten Politik der Deregulierung des tertiären Sektors kann die Politik schon auf mittlere Sicht die Zahlungsbilanzkrise in der EWU entspannen und dem Strukturwandel seinen langfristigen Lauf hin zu einer wissensbasierten Volkswirtschaft freimachen.
Fazit
Die Hektik der EU-Kommission zeigt: Es wird finanziell ernst in der EWU. Der Tag rückt näher, an dem Rechnungen bezahlt werden müssen. Der Streit um Salden in den Leistungsbilanzen ist die Kulisse. Dahinter geht es darum, wer für das sündhaft teure Experiment des Euro zahlen soll. Die Länder mit Defiziten in den Leistungsbilanzen zeigen mit dem Finger auf die Länder mit Überschüssen. Schon heute finanzieren fiskalische und monetäre Rettungsschirme einen erheblichen Teil der Defizite. Damit stehen die Steuerzahler der Überschussländer finanziell im Feuer. Nach den Vorstellungen der Defizitländer soll das auch so bleiben. Die Länder mit Überschüssen in den Leistungsbilanzen sehen das anders. Sie deuten auf die Defizitländer. Wer über die Verhältnisse gelebt habe, müsse dafür auch gerade stehen. Die Überschussländer wollen temporär nur helfen, wenn die Defizitländer sparen und ihre strukturellen Hausaufgaben machen. Damit sind die Fronten klar. Die Mehrheit der Defizitländer ist auf die abstruse Idee verfallen, die Wettbewerbsfähigkeit der Überschussländer zu verringern. Sie will die Gans schlachten, die goldene Eier legt. Diese planwirtschaftliche Strategie löst den Verteilungskonflikt nicht. Allerdings macht sie uns in Europa ärmer. Es ist höchste Zeit, diesen Weg in die Knechtschaft zu blockieren.
Literatur:
Berthold, N. (2012), Steht das „Geschäftsmodell Deutchland“ auf der Kippe? Euro-Rettungsschirme sind „struktureller Merkantilismus, in: Wirtschaftliche Freiheit vom 27. März 2012Â (Link)
Böhm-Bawerk, E. (1914), Unsere passive Handelsbilanz, in: Gesammelte Werke von Eugen von Böhm-Bawerk (hrsg. von Franz X. Weiss), Wien und Leipzig 1924, S. 499 – 515
Frenkel, M. und A. Tudyka (2012), Der Zusammenhang von Leistungs- und Kapitalbilanz, in: WiSt, 41. Jg. (2012), S. 589 – 594
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Bewährungsprobe für die Europäische (Währungs)Union?! - 27. Juli 2024
Der Leistungsbilanzsaldo ist als wirtschaftspolitische Zielgröße ungeeignet, denn er ist nur das Spiegelbild des gesamten Kapitalbilanzsaldos, und dieser ist das Ergebnis der internationalen Allokation des Weltkapitalstocks durch den Markt, soweit nicht Staat und Zentralbank intervenieren. Weiß die Kommission besser, wie de Weltkapitalstock investiert werden sollte, als der Markt?
Soweit die EZB über das Target-System Kapital aus Deutschland exportiert, ist der deutsche Leistungsbilanzüberschuss tatsächlich zu hoch, aber das wird die Kommission ja nicht bemängeln.
Nach Art. 3 der einschlägigen Verordnung (1174/2011/EU) kann der Rat auf Empfehlung der Kommission Deutschland eine jährliche Geldbuße von 0,1 Prozent des BIP auferlegen, wenn Deutschland zweimal hintereinander einen Plan für Korrekturmaßnahmen vorlegt, der vom Rat abgelehnt wird, oder wenn der Rat zweimal hintereinander entscheidet, dass Deutschland die vereinbarten Korrekturmaßnahmen nicht hinreichend ausgeführt hat. Es ist kaum zu glauben, dass Minister Schäuble dieser Verordnung 2011 zugestimmt hat.
Zahlreiche Professoren der Rechtswissenschaft haben darauf hingewiesen, dass es für die Verordnung 1174/2011/EU in den europäischen Verträgen keine tragfähige Rechtsgrundlage gibt. Der in der Verordnung als Rechtsgrundlage genannte Artikel 121 AEUV erlaubt (in Verbindung mit Art. 136 AEUV) nur Empfehlungen des Rates – nicht Sanktionen.
Deutschland hat keinen Exportüberschuss im Euro
Deutschland wird wegen seiner Exportüberschüsse kritisiert. Kritiker sehen sie als einen Grund für die Schuldenkrise in Euro-Ländern. Doch der Überschuss entsteht außerhalb des Euroraums. (FAZ vom 9. Januar 2014)
„Zahlungsbilanzen zeigen die suggestive Kraft statistischer Abgrenzungen. Nur weil sie national erhoben werden, erscheinen ihre Ergebnisse schon ökonomisch belangvoll, und Teilbilanzsalden wächst plötzlich eine normative Note zu, die sie im Zweifel korrekturbedürftig macht. Wie steht es denn um den Leistungsbilanzsaldo des Ruhrgebiets? Wir kennen nicht einmal das Vorzeichen. Es kann uns auch egal sein. Wenn aber ein deutsches Unternehmen an der polnischen Westgrenze investiert statt an der deutschen Ostgrenze, dann halten das manche für wirtschaftspolitisch gravierend. Die Diskussion atmet den Geist des nationalen Kollektivismus, und statistische Aggregate werden plötzlich zu Akteuren. Solange die einzelwirtschaftlichen Investitions- und Ersparnisentscheidungen nicht durch falsche Rahmenbedingungen verzerrt sind (Investitionshemmnisse, Bail-outs, monetäre Zahlungsbilanzfinanzierung, Niedrigzinspolitik), muss man sich über das marktwirtschaftliche Gesamtergebnis keine Sorgen machen. Leistungsbilanzsalden sind daher allenfalls als Symptom für solche Verzerrungen zu sehen, die das eigentliche wirtschaftspolitische Problem darstellen.“ Stefan Kooths in: „Unsere aktive“ Leistungsbilanz. IfW Focus 159 vom 24. Februar 204
Damit hebt sich Stefan Kooths wohltuend von der breiten Masse der Ökonomen (und Politikern) ab, die von „Ungleichgewichten“ plappern. Er spricht korrekterweise von Salden. Aus Salden können nur bei „falschen Rahmenbedingungen“ auch „Ungleichgewichte“ werden.