Über viele Jahrhunderte gab es nicht nur lizensierte Piraten, die von Staaten dazu autorisiert waren, Jagd auf die Schiffe anderer, feindlicher Nationen, zu machen. Es gab echte Piraten, die keiner staatlichen Autorität unterstellt waren. Nach der großen Zeit des Piratentums zum Ausgang des 17. und frühen 18. Jahrhunderts verschwand die sozial-ökologische Nische für das echte Piratentum ebenso wie die ökologische Nische für andere im weiteren Sinne anarchische Lebensformen. Moderne Kommunikationsformen und internationale Kooperation taten danach ein Übriges. Nun hat sich aber durch staatlichen Zerfall in jüngster Zeit überraschend modernen Piraten eine neue Nische eröffnet. Das und das Erscheinen von Peter T. Leesons unterhaltsamem Buch zur Ökonomik des Piratentums, „The invisible hook“ (Princeton, 2009) gibt Anlass, sich mit dem Piratentum nicht nur in seinen heute gängigen Varianten des sogenannten Produktpiratentums, sondern auch als ursprünglicher anarchischer Organisationsform zu befassen.
Verbrecherbanden als Lehrer der Moral
Einer der bedeutendsten Moralphilosophen des 20. Jahrhunderts, John L. Mackie, hat einmal bemerkt (Ethik, Reclam 1986), dass die besten Lehrer der Moral die Verbrecherbanden seien. Für die meisten von uns erscheint diese Bemerkung zunächst als so paradox, wie sie zur Anregung unseres Nachdenkens gemeint war. Bei näherer Betrachtung versteht man aber sogleich, was gemeint ist. Verbrecherbanden können sich für ihre interne soziale Organisation nicht auf extern durchsetzbare Verträge und beispielsweise eine Polizei, die von außen eingreift, verlassen. Sie sind deshalb darauf angewiesen, die Kooperation, die ihnen ihre verbrecherischen Aktivitäten ermöglicht, auf eine Weise zu sichern, die keinen Rückgriff auf das Gewaltmonopol irgendeines Staates nimmt. Auch Verbrecherbanden können nicht kooperieren und wirksam gegen andere vorgehen, wenn sie sich nicht untereinander auf gemeinsame kollektive Aktionen verständigen und diese ohne interne Auseinandersetzungen durchführen können. So banale Regeln wie die, die bestimmt, wer von den Bandenmitgliedern das Signal zu einem Übergriff gibt, wie die Beute des Übergriffs zu verteilen ist und wie interne Streitigkeiten – ohne die Möglichkeit vor externe Gerichte gehen zu können – geregelt werden sollen, müssen als rein moralische Regeln der gruppen-internen Sitte existieren.
Vor allem die mathematische und in jüngerer Zeit auch die experimentelle Spieltheorie haben viel zu der Frage beizutragen, wie derartige Normensysteme auf der Basis der Interessen der beteiligten Individuen als Gleichgewichte in wiederholten Interaktionen (Spielen) entstehen können. Das reicht von der einfachen Einsicht, des „hilfst du heute mir, damit ich dir morgen helfe, so helfe ich dir morgen, damit du mir übermorgen hilfst“, bis zu komplexeren „Satellitennormen“, die Strafaktivitäten gegen Abweichler von der zu Grunde liegenden Norm bestimmen; wobei in letzterem Falle etwa ein Prinzip gelten kann, wie „heute nimmst Du den Aufwand der Sanktionsverhängung auf Dich, damit ich ihn morgen und Du ihn übrmorgen auf Dich nimmst…!“.
Die Einsicht, dass die Einhaltung und Durchsetzung von Normen interessenbasiert ist, hat große Bedeutung. Sie sagt uns etwas darüber, wie normative Moralordnungen existieren können, wozu Moral für eine Gruppe gut sein kann und welche Inhalte sie vermutlich transportieren wird. Insbesondere in den Fällen, in denen die Gruppe sich nicht auf außermoralische, staatliche Normdurchsetzung verlassen kann, weil sie vom Staat gerade bekämpft wird, treten die relevanten Sachverhalte deutlich hervor.
Das ökonomische Verhaltensmodell, welches Verhalten grundsätzlich mit den Interessen, denen es dient, zu erklären sucht, leistet hier außerordentliches. Dennoch ist es verfehlt, die Tatsache zu vernachlässigen, dass Menschen nicht nur extrinsisch von äußeren Anreizen etwa pekuniärer Art, sondern auch von intrinsischen Motiven normativer Art bewegt werden. Nicht nur unbeschränkte sogenannte „Gier“, sondern auch innere normative Orientierungen beeinflussen das Verhalten praktisch aller sozialfähigen menschlichen Individuen. Worin unsere Interessen letztlich liegen, das wird auch von Verhaltensweisen beeinflusst, die nicht direkt von Interessenkalkulationen abhängen. Wenn es beispielsweise um die Aufteilung von gemeinsamer Beute geht, dann müssen auch in Verbrecherbanden bestimmte Normen der Verteilungsgerechtigkeit gelten, wenn die Bande auf Dauer stabil kooperieren will. In gemeinsamen Aktionen muss es bestimmte Individuen geben, die als Taktgeber die koordinierenden Signale geben und die Empfänger dieser Signale müssen de facto bestimmte Normen akzeptieren, welche die Signalgeber auszeichnen und die Befolgung der Signale durch deren Adressaten regeln. Die Mafia ist nicht umsonst berühmt oder berüchtigt auch für ihren Ehrenkodex.
Was für die Verbrecherbanden gilt, das gilt auch für jede legitime Organisation, wenn sie sich jenseits des Bereiches bewegen will, der durch ausdrückliche Verträge geregelt werden kann. Da man nicht über jeden einzelnen koordinierten Akt eine eigene Vertragsbeziehung spezifizieren kann, gibt es auch in allen legitimen Organisationen, die sich innerhalb staatlicher Rechtsordnungen und unter Ausnutzung von deren Durchsetzungsapparat bewegen, einen Restbereich. In dem handelt es sich letztlich um eine rein moralische beziehungsweise eine Steuerung, die auch wesentlich auf intrinsische Motivation zur Zusammenarbeit und Regeleinhaltung angewiesen ist.
Erfolgreiche Kooperation zu guten wie zu schlechten Zwecken erfordert immer koordinierende Normen, von denen letztlich einige freiwillig aus intrinsischer — im weiteren Sinne moralischer — Motivation eingehalten werden müssen. In der Anarchie tritt die Rolle dieser sozialen Steuerung nicht nur in dem nach staatlicher Rechtsdurchsetzung verbleibenden Residualbereich, sondern durch die Bank hervor. Beispiele für rein anarchische Systeme sind außerhalb primitiver Gesellschaftn nicht leicht zu finden. Neben dem Island der Zeit von 870 bist 1150 bieten die alten Piratenbanden einiges Anschauungsmaterial, das auch für den modernen Organisationsökonomen und Manger von Interesse sein und den moderne Leser insgesamt unterhalten und belehren kann.
Piraten als Lehrer der Organisationsökonomik
Peter T. Leeson verdanken wir die eingangs erwähnte nicht-technische Studie der Ökonomik des Piratentums, die die Interessenbasis vieler der von Piraten befolgten Normen offenlegt. Das Buch hat zwar ein starkes Elemente dessen, was man auch als bloßes ökonomisches Geschichtenerzählen (analog zum bekannten evolutionären Geschichtenerzählen) bezeichnen kann, jedoch lohnt es sich, wenn man das so gut macht wie Leesen, Geschichte ökonomisch zu beleuchten. Die ökonomischen Anreize, denen sich Piraten gegenübersahen, führten, wie in dem Buch berichtet wird, zu der gleichen Art von Organisation, die wir etwa auch aus primitiven Gesellschaften kennen. Wie in den so genannten primitiven doch normativ hochkomplexen Gesellschaften haben auch die Piraten nur sehr flache Hierarchien besessen. Ihre Organisationsform wies beispielsweise zentrale Elemente einer verfassten Demokratie auf. Der Kapitän konnte typischerweise gewählt und abgesetzt werden. Es gab eine zentrale Rolle für demokratische Wahlverfahren bei der Besetzung der grundlegenden Funktionen und der Festlegung bestimmter Regeln. Die grundlegende Satzung der Piraten wurde über freiwilligen Beitritt anerkannt und letztlich unter Einstimmigkeitsbedingungen festgelegt.
Das sind interessante Tatsachen, die uns die Historiker vermitteln. Der Ökonom kann darüber hinaus mögliche Erklärungen für diese Fakten bieten. Ein wesentlicher Grund für die fast allen Piratengesellschaften gemeinsamen Strukturen, bestand offenkundig in der Notwendigkeit, intrinsisch motivierte Mitarbeiter zu rekrutieren. Zugleich gab es keine Notwendigkeit, die Interessen eines externen Geldgebers durch Hierarchien zu wahren. Die Piraten hätten ohne staatliche Bindungen glaubwürdige Versprechungen gegenüber externen Geldgebern ohnehin gar nicht eingehen können. Ein Kapitän, der über genügend Kapital verfügt hätte, um ein Piratenschiff zu bemannen, hätte zugleich große Schwierigkeiten gehabt, sich gegen eine Ausbeutung durch die Piratengemeinschaft zu sichern. Das Unternehmen konnte nur deshalb funktionieren, weil es durch eine Zusammenlegung relativ gleichwertigen Humankapitals und den einfachen Raub eines Schiffs zustande kam.
Der Kapitän wurde etwa mit dem zweifachen Beuteanteil der gewöhnlichen Mannschaften, der Arzt und andere Fachkräfte mit gegenüber einfachen Mannschaftsmitglieder um ein Viertel oder ein halbe erhöhten Sätzen entlohnt. Das unterschied sich von den Verhältnissen in der legitimen damaligen Handelsschiffahrt. Dort gab es Kapitalgeber, deren Einsatz durch staatlich sanktionierte Eigentumsrechte gesichert war. Diese Kapitalgeber bestellten einen leitenden Angestellten – einen Kapitän –, den sie mit einem Bonus-System anreizkompatibel am Erfolg der Seefahrt beteiligten. Darüber hinaus hatten sie zunächst wenig Interesse daran, die Mannschaft der Schiffe zu beteiligen oder deren Interessen zu berücksichtigen. Da Staaten bereit waren, die Autorität von Kapitänen gegenüber den Seeleuten von Land aus rechtlich abzusichern, konnten die Kapitänen sich so diktatorisch aufführen, wie das aus den Erzählungen über die damalige Seefahrt bekannt ist.
Der Mangel an externer Durchsetzung der Normen bewirkte bei den Piraten etwas anderes. Leeson hebt mit Recht hervor, dass viele der internen Regeln der Piratenbanden unseren heutigen moralischen Vorstellungen weit näher kamen als die Regeln damaliger legitimer staatlicher Systeme. Die Verteilungsprinzipien waren egalitär, weil die Mitwirkung jedes einzelnen Individuums signifikant war und nicht hierarchisch erzwungen werden konnte. Es gab eine starke Mitarbeiterselbstverwaltung. Elemente partizipatorischer und deliberativer Demokratie waren ebenso vorhanden wie solche der Gewaltenteilung.
Weil Sklaven unsichere Kooperationskandidaten waren, gab es sie auf Piratenschiffen kaum. Die Emanzipation der Schwarzen war vielmehr weit fortgeschritten. Mitwirkende, von deren intrinsischer Motivation in entscheidenden Situationen wegen des Mangels an extrinsischen Motiven eines langfristigen Mitwirkungsinteresses nicht auszugehen war, gefährdeten generell den Erfolg gemeinsamer kooperativer Unternehmungen. Jedem mußte daher ein Mitwirkungsinteresse geboten werden. Es drehte sich alles um Gewinn und Raub, doch die rationale Verfolgung dieser Ziele legte gerade die Installation normativer Systeme nahe, die Eigenschaften aufwiesen, die wir auch heute gewöhnlich für moralisch erstrebenswert halten. Wie Leesen zu Recht betont, ist dies eine Variante von Gordon Gekkos Provokation: „Greed is Good“; ungeachtet der breiten Ablehnung der zugrundeliegenden Einsicht, ist es wichtig, sich deren berechtigten Anteil immer wieder klar zu machen. Das Studium, wie die Piraten ihrer Gier auf moralisch kanalisierte Weise nachgingen, kann helfen, die richtigen Lehren auch für unser Wirtschaftsleben und die Rolle der Moral in ihm zu ziehen.
Was sind Lehren für uns
Die Hauptbotschaft scheint des vorangehenden scheint klar zu sein: Komplexe moderne Rechtsordnungen machen die moralische Steuerung durch intrinsische Motivation und rein sozial-moralische Normsysteme überflüssig. Eine Anreizsteuerung durch solche Motive wie das des Strebens nach monetären Gewinnen ersetzt die Gemeinschaftlichkeit der sozialmoralischen Steuerung. Kein Wunder, dass die moderne rechtlich-rationale Steuerung organisatorischen und marktlichen Verhaltens unserer tieferen emotionalen Sehnsucht nach dem Leben in der anarchischen Kleingruppe fremd gegenüber steht. Aber vergessen wir eben auch nicht, dass es ohne übergreifende Rechtsordnung nur konkurrierende Banden mit ihren eigenen Loyalitäten und Sozialnormen gibt. Die Steuerung mag rein moralischer Art sein, aber die Ergebnisse der Bandenkonkurrenz müssen nicht notwendig begrüßenswert sein. Steuerung durch rechtlich kanalisierte „Gier“ mag sich häufig als moralisch überlegen gegenüber der Steuerung durch allein moralisch koordinierte „Gier“ erweisen.
Die vorangehenden Lehren moralischer und ökonomischer Art sollten uns natürlich nicht dazu führen, die modernen Piraten am Horn von Afrika nicht mehr bekämpfen zu wollen. Wir sollten aber genau prüfen, bis zu welchem Maße die moderne Piraten ähnlichen Anreizsystemen gegenüberstehen und mit ähnlichen Mechanismen auf diese reagiert haben, wie die klassischen Piraten. Eine genaue Analyse dieser Art könnte uns womöglich bei der Bekämpfung der modernen Piraten helfen, indem wir ihre Anreizsyssteme gezielt so beeinflussen, dass Kooperation für sie erschwert wird.
Die Analyse staatsfreier Organisationsstrukturen ist aber auch in sich nach wie vor interessant. Darüber sollte man allerdings nicht vergessen, dass auch der Staat selbst in seiner organisatorischen Grundstruktur auf staatsfreie Mechanismen zurückgreifen muss. Denn über dem souveränen ist kein Staat, auf den er sich berufen kann, sondern nur die Anarchie selbst. Der Staat wie jede andere Großgruppeninteraktion wird von einer Struktur stabil miteinander interagierender dauerhafter Kleingruppen getragen (z.B. den Rechtsstab mit Polizei und Gerichtsorganisationen, die auf entsprechend fragmentierten Kleingruppenstrukturen aufruhen; vgl. ausführlicher dazu Hartmut Kliemt, Moralische Institutionen, Alber 1985). Was unsere Einschätzung der Moral anbelangt, so sollten wir uns klarmachen, dass eine Organisation nach im weiteren Sinne moralischen Normen Zwecken, die wie er letztlich als moralisch verwerflich ansehen, ebenso dienen kann, wie Zwecken, die wir als moralisch erstrebenswert betrachten. Den Organisationsökonomen unter uns sollte die Lehre nicht verborgen bleiben, dass zwar Interessen und extrinsische Anreize von entscheidender Bedeutung sind, dass sie aber nicht die ganze Geschichte erzählen. Normative Ordnung wird immer auch von intrinsischen Motivationen zu regelbefolgendem Verhalten geleitet. Gute Organisationen nutzen das aus.
Literatur
Kliemt, Hartmut (1985): Moralische Institutionen. Alber. München.
Makie, John L. (1986), Ethik. Reclam. Stuttgart.
Leeson, Peter T. (2009), The invisible hook. Princeton University Press, Princeton
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