Die Werte der Wirtschaft (4)
Selbstverantwortung – Voraussetzung der freiheitlichen Ordnung

Die Rettung von Espírito Santo

Die portugiesische Bank Espírito Santo (BES) soll mit staatlicher Unterstützung von rund fünf Milliarden Euro vor dem Zusammenbruch gerettet werden. Die Mittel stammen in erster Linie aus dem EU-Hilfspaket, das Portugal in der Finanzkrise von Europäischer Union, Europäischer Zentralbank und vom Internationalen Währungsfonds erhalten hatte. Die Hilfe beinhaltet also keine oder kaum portugiesische Steuereinnahmen, sondern stützt sich auf die Gelder ausländischer Steuerzahler. Das portugiesische Finanzministerium versicherte, dass die Einlagen der Anleger wie auch die Arbeitsplätze der Beschäftigten geschützt seien. Nur Aktionäre und Gläubiger müssen also mit Verlusten rechnen.

Die Rettung der BES ist die erste größere Bankenrettung seit dem Beschluss eines gemeinsamen Bankenfonds, in den die Banken einzahlen, um dann in einer Krise hieraus finanzielle Unterstützung zu beziehen. Mit dem Bankenfonds wurde eine Haftungskaskade angelegt, die den ausländischen Steuerzahler erst an letzter Stelle mit heranziehen wollte.

Was ist nun von einer solchen Bankenrettung wie der aktuellen von Espírito Santo zu halten?

Zum einen vermittelt es uns Bürgern ein positives Gefühl, wenn der kleine Sparer von nebenan, der seine Ersparnisse bei einer Bank angelegt hat, und der mehr oder weniger aus Zufall heraus just die BES als Anlageinstitut ausgewählt hat, seine Ersparnisse nicht verliert. Auch das Verhindern von Kündigungen wird von der Bevölkerung gerne gesehen – was kann der einfache Bankangestellte auch dafür, dass in seinem Institut Misswirtschaft getrieben wird. Zum anderen hinterlässt es aber immer auch ein ungutes Gefühl, wenn andere Menschen (in diesem Fall der ausländische Steuerzahler), die nichts mit den Handlungen, die zum Schadensfall führten, zu tun hatten, für den Schaden aufkommen müssen. Denn dies widerspricht unserem Gefühl, dass Selbstverantwortung ein wichtiges Element unseres Lebens ist. Ein Leben in Freiheit, das eigene Entscheidungen ermöglicht bzw. erzwingt, verlangt Selbstverantwortung. Selbstverantwortung impliziert die Notwendigkeit der Haftung für die eigenen Handlungen. Dies macht den Haftungsgrundsatz zu einem der zentralen Eckpfeiler der freiheitlichen Ordnung – und wegen dieses Grundsatzes ist die Milliardenspritze an die BES problematisch.

Selbstverantwortung kennzeichnet die Bereitschaft und Verpflichtung, für das eigene Handeln die Verantwortung zu übernehmen und die Konsequenzen selbst zu tragen. Zum einen basiert Selbstverantwortung damit auf der liberalen Vorstellung des mündigen und selbstbestimmten Menschen, der bereit ist, die Freiheit, welche Demokratie und Marktwirtschaft ihm zuerkennen, auch zu nutzen. Zum anderen wird Selbstverantwortung aber auch als Verpflichtung angesehen, mit den Konsequenzen des eigenen Handelns leben zu müssen. Zu diesen Konsequenzen zählen positive wie negative Handlungsfolgen.

Was das Haftungsprinzip in der freiheitlichen Marktwirtschaft bedeutet

„Wer den Nutzen hat, muss auch den Schaden tragen“, formulierte in den 50er Jahren bereits der geistige Vater der Ordnungsökonomen Walter Eucken (1990, S.279). Mit diesem einleitenden Satz beginnt er sein Kapitel über das Prinzip der Haftung in der sozialen Marktwirtschaft. Der Grundsatz der Haftung besagt, dass derjenige, der einen Schaden verursacht hat, für diesen Schaden auch mit seinen eigenen Mitteln aufkommen muss. Weiter gefasst lässt sich Haftung im Eucken’schen Sinne so interpretieren,  dass ein jeder, der Ressourcen, Waren oder Dienstleistungen verbraucht, für diesen Verbrauch geradestehen muss. Dieses Prinzip der Haftung ist für eine funktionsfähige Marktwirtschaft von elementarer Bedeutung. Es galt – so resümierte Eucken bereits vor über 50 Jahren – zu Beginn des Industrialisierungszeitalters noch weitgehend. Doch die Erosion des Haftungsgrundsatzes hatte schon vor 50 Jahren begonnen – also in den Gründungstagen der sozialen Marktwirtschaft.

Unternehmen wie auch Haushalte freuen sich heutzutage über zahlreiche Haftungsbeschränkungen oder Haftungsausschlüsse, die ihnen die negativen Folgen ihrer Handlungen ganz oder teilweise abnehmen. Dies ist deshalb problematisch, weil ein funktionierendes Haftungsprinzip essenzielle Voraussetzung einer Marktwirtschaft ist. Dies betrifft zunächst einmal die Disposition der Produktionsfaktoren – vor allem jene des Kapitals.  Aufgrund des Haftungsgrundsatzes erfolgt diese Disposition vorsichtig, denn wer verantwortlich ist für die Investitionen, die er tätigt, der wird diese auch sorgfältig überdenken. Wer einem anderen Menschen einen Kredit gibt, wird sich hinreichend über die Ausfallwahrscheinlichkeit Gedanken machen. Jemand, der ein neues Unternehmen kaufen möchte, wird die Risiken des Kaufes genau abwägen, wenn er vollständig für das Ergebnis des Kaufes haftet. Haftung erfüllt damit in einer Wettbewerbsordnung auch die Funktion, die Angliederung oder Übernahme anderer Firmen, die nur aus reinem Machtstreben und nicht aus Effizienzgesichtspunkten erfolgt, zu hemmen. Modelle einer beschränkten Haftung hingegen ermöglichen die Entstehung von ökonomischer Konzentration in Konzernen und sind für vermachtete Märkte mitverantwortlich. Somit verhindert das Haftungsprinzip systemfremde Marktformen und trägt dazu bei, die freiheitliche Wettbewerbsordnung zu festigen.

Zudem setzt die Wettbewerbsordnung voraus, dass ein Gewinn nur durch eine gleichwertige wirtschaftliche Leistung realisiert wird. Gleichzeitig führt eine Fehlleistung zu Verlusten und bei privatwirtschaftlichen Unternehmen letztendlich zum Konkurs. Haftung ermöglicht somit Selektion und Auslese, und dies gilt für leitende Persönlichkeiten in Unternehmen genauso wie für Betriebe am Markt. Wer unwirtschaftlich handelt, verschwindet. Es muss insofern folgendes Prinzip gelten: Derjenige haftet, der für die Handlungen und Pläne der Unternehmen verantwortlich ist. Er trägt die Verluste. Eucken (1990) kritisierte vor diesem Hintergrund insbesondere die Entwicklung unseres Gesellschaftsrechts, in dem sich die Entscheidungsträger zunehmend der persönlichen Haftung entziehen konnten. Probleme mit dem Haftungsgrundsatz treten dann auf, wenn Funktionäre und Manager, die keine Eigentümer sind, und die dementsprechend auch nicht mit ihrem Eigentum haften können, die relevanten Entscheidungen im Unternehmen treffen. Beschränkungen der Haftung wollte Eucken dort und nur dort akzeptieren, wo der Kapitalgeber für die Geschäftsführung gar nicht oder nur begrenzt verantwortlich ist. Hierzu zählte er unter anderem Kleinaktionäre und Kommanditisten.

Nach Eucken soll derjenige die Haftung in einem Unternehmen übernehmen, der auch die Entscheidungen trifft. Bezogen auf eine Aktiengesellschaft bedeutet dies, dass, weil ein zersplitterter Aktienbesitz den Vorstand in Entscheidungsfragen allmächtig macht, der Vorstand die Haftung grundsätzlich übernehmen muss. Ist der Vorstand aber ausnahmslos von den Plänen und Anweisungen eines Mehrheitsaktionärs abhängig, so muss der Mehrheitsaktionär die Haftung tragen (vgl. Eucken, 1990, S.285).

Mit anderen Worten: Eucken konnte sich durchaus vorstellen, dass Kapitalanleger nicht für ihre Anlageentscheidung verantwortlich sein können. Friedrich August von Hayek formuliert den gleichen Gedanken wie folgt:

Freiheit verlangt, dass die Verantwortung des Einzelnen sich nur auf das erstreckt, was er beurteilen kann, dass er in seinen Handlungen nur das in Betracht ziehen muss, was innerhalb des Bereichs seiner Voraussicht liegt und vor allem, dass er nur für seine eigenen Handlungen (und die der seiner Fürsorge anvertrauten Personen) verantwortlich ist – aber nicht für die anderer, die ebenso frei sind.“ (Hayek, 1991, S. 102).

Dies deckt sich mit unserem Gefühl: Kleinanleger und einfache Bankangestellte sollten nicht für das Managementversagen der BES haften. Es darf unterstellt werden, dass ihnen eine Beurteilung der Schieflage der Bank nicht möglich war. Doch es ist andererseits ihre Anlage, die Ersparnis der Sparer und das Humankapital der Bankangestellten, das im Fall eines Konkurses verloren geht. Damit bleiben zwei Optionen: Die Verursacher des Schadens ersetzen den Betroffenen den Schaden – was den Führungskräften der Bank bei der Höhe des Schadens allerdings kaum möglich ist. Oder der Steuerzahler springt ein – es folgt das bei Bankenrettungen inzwischen übliche Szenario: Die Haftung wird vergesellschaftet.

Die Frage, wer bei einer risikobehafteten Entscheidung im Schadensfall für größere gesellschaftliche Schäden die Haftung übernimmt, ist wohl nicht trivial mit dem Verweis auf entweder denjenigen, der die Risikoprämie einfährt, wenn es gut geht, oder auf denjenigen, der  die Entscheidungen trifft, zu beantworten. Dies gilt vor allem dann, wenn die potenziellen Nutznießer wie Anleger oder Mitarbeiter nur begrenzt über die Risiken informiert sind, oder die relevanten Entscheidungen nicht beeinflussen können. Ausmaß und Zuordnung der Haftung sind sorgfältig auszutarieren. Haftungsbeschränkungen können durchaus in manchen Fällen segensreich sein.

Es drängt sich aber in jüngerer Zeit der Eindruck auf, dass zunehmend mehr Haftung vom Einzelnen auf die Gesellschaft übertragen wird. Der freiheitlichen marktwirtschaftlichen Ordnung wird so langfristig ihr Fundament entzogen.

Gerade die Nichtbeachtung des Haftungsprinzips wird unserem heutigen Wirtschaftssystem – der sozialen Marktwirtschaft – ironischerweise von den Menschen oft negativ ausgelegt. Dabei wird nicht reflektiert, dass eine funktionsfähige Marktwirtschaft Haftung vorsieht und lediglich politische Eingriffe in die Marktwirtschaft – also eine Verletzung marktwirtschaftlicher Grundsätze – das Haftungsprinzip erst aushebeln.

Ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie aus dem Jahr 2010 zeigt auf, dass gerade diese Verletzung des Haftungsprinzips ein entscheidender Grund für die geringe Akzeptanz der marktwirtschaftlichen Ordnung in Deutschland sein könnte (Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie, 2010; Neyer, 2013). Die Bevölkerung empfindet die Verteilung von Chancen und Risiken als ungerecht, und dieses Empfinden ist zum zentralen Kritikpunkt am marktwirtschaftlichen System geworden.

Von unserer heutigen Einstellung zum Wert der Selbstverantwortung

Denn in einer freiheitlichen Ordnung aufgewachsene Menschen sind so erzogen, dass sie Handlung und Haftung generell als zusammengehörig empfinden. Wer gesellschaftlichen Schaden verursacht, der soll auch dafür die Verantwortung tragen und diese nicht auf die Gesellschaft überwälzen. Dies spiegelt sich in der Bedeutung wider, die wir der Selbst- oder Eigenverantwortung beimessen. Der deutsche Wertemonitor von 2012 stellte die Frage, wie wichtig den Deutschen der Wert Eigenverantwortung sei.

Was für den Erhalt der sozialen Marktwirtschaft Hoffnung macht: Für 57 Prozent aller Befragten ist die Eigenverantwortung sehr wichtig für eine gut funktionierende Gesellschaft. Damit genießt Eigenverantwortung einen höheren Stellenwert als beispielsweise Solidarität (welche 52 Prozent der Befragten in derselben Befragung als sehr wichtig erachten).  Bemerkenswert ist ein Gefälle der Wertschätzung von Eigenverantwortung zwischen West (58 Prozent) und Ost (51 Prozent). Dies mag damit zusammenhängen, dass die älteren Befragten im Osten noch in einem sozialistischen System aufgewachsen sind.

Was für die Zukunft unserer Marktwirtschaft bedenklich stimmt: Mit dem Alter steigt auch die Wertschätzung des Wertes Eigenverantwortung. 61 Prozent der über 60-Jährigen halten sie für sehr wichtig, aber lediglich 43 Prozent (und damit keine gesellschaftliche Mehrheit) der 18 bis 24-jährigen.

Offen bleibt jedoch die Frage, ob die Zustimmung zum Wert Selbstverantwortung als einem zentralen Wert unserer Gesellschaft vom Alter abhängt, oder ob es hier eine andere Wahrnehmung in der heute jüngeren Generation gibt, die diese heute jungen Menschen auch im Alter noch haben werden. Mit den derzeit vorliegenden Daten ist eine Trendaussage daher nicht möglich. Bleibt die heute junge Generation aber dabei, Eigenverantwortung mehrheitlich als nicht sehr wichtig zu empfinden, wird dies unserem freiheitlichen marktwirtschaftlichen System auf die Dauer nicht gut bekommen. Die Gesellschaft wird dann das Haftungsprinzip scheibchenweise weiter außer Kraft setzen – mit dem Ergebnis, dass der Staat zunehmend mehr Verantwortung erhält.

Eigenverantwortung
– zum Vergrößern bitte auf die Grafik klicken –

Quellen:

Eucken, W. (1990): Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 6. Auflage, Tübingen

Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit (2012): Deutscher Wertemonitor – Die Freiheit der Gesellschaft, Ergebnisse der Befragung im Auftrag der Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit, Berlin

Hayek, F.A. (1991): Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl., Tübingen

Neyer, U. (2013): Akzeptanzprobleme der Marktwirtschaft: Ursachen und wirtschaftspolitische Konsequenzen, Jahrestagung des Wirtschaftspolitischen Ausschusses des Vereins für Socialpolitik 2012, Berlin, S. 91-119

Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (2010): Akzeptanz der Marktwirtschaft: Einkommensverteilung, Chancengleichheit und die Rolle des Staates. Gutachten Nr. 01/10

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