VGR-Revision 2014 – Sind wir jetzt reicher?

Die Deutschen sind seit Anfang September 2014 statistisch erheblich reicher, denn sie haben ein deutlich höheres BIP je Einwohner. Das Volkseinkommen je Einwohner ist aber kaum gestiegen.

Anfang September 2014 wurden revidierte Daten für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen (VGR) vorgestellt. Die VGR – ein, wenn nicht sogar das zentrale Informationssystem für die wirtschaftswissenschaftliche Analyse – unterliegt beständigen Überarbeitungen. Dabei werden neue Basisdaten, neue Berechnungsmethoden, aber vor allem neue Konzepte eingearbeitet. Die sich im Zeitablauf wandelnde ökonomische Realität – zum Beispiel durch eine intensivere internationale Arbeitsteilung – erfordert auch Anpassungen der statistischen Konzepte, um den Anschluss an die ökonomische Realität nicht zu verlieren. Eine evidenzbasierte Wirtschaftspolitik braucht aussagekräftige Daten.

Mit der jetzigen Revision wurde das Europäische System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen 2010 (ESVG 2010) eingeführt. Das ESVG 2010 basiert auf dem weltweiten System of National Accounts 2008 (SNA 2008). Dieses wurde von UN, IMF, Weltbank, OECD und Eurostat ausgearbeitet und im Jahr 2009 vollständig veröffentlicht. Mit dem September 2014 sind die VGR-Daten aller Mitgliedstaaten der Europäischen Union auf Basis des neuen Systems zu veröffentlichen – die Regelungen sind für die EU-Länder rechtsverbindlich. Dies soll eine möglichst hohe Vergleichbarkeit – zumindest unter den EU-Ländern – herstellen. Wie eifrig die Umsetzung des ESVG 2010 in den einzelnen EU-Ländern erfolgt, bleibt offen.

Die größten Änderungen bei der aktuellen VGR-Revision kamen durch die Neuformulierung des Investitionsbegriffs, und dabei vor allem durch die Behandlung der FuE-Ausgaben als Investitionen. Diese machen allein rund 70 Prozent des gesamten Revisionseffekts aus. Außerdem gelten nunmehr auch Militärische Waffensysteme als Investitionen. Als Begründungen für diesen erweiterten Investitionsbegriff wird angeführt, dass FuE-Leistungen wiederholt in Produktionsprozessen eingesetzt werden können und damit auch in der Zukunft Erträge erbringen. Sie haben somit einen investiven Charakter. FuE kann als eine Produktionstätigkeit angesehen werden, die zur Bildung von geistigem Vermögen führt. Demnach stellt sie ein Vermögensgut dar. Zur Begründung für die Kapitalisierung von militärischen Waffensystemen wie zum Beispiel Kriegsflugzeuge oder Panzer wird angeführt, dass diese Güter kontinuierlich und längerfristig für die Bereitstellung von Sicherheitsleistungen zur Verfügung stehen. Bereits mit der Einführung des ESVG 1995 im Jahr 1999 wurden zivil nutzbare militärische Anlagen – wie Militärkrankenhäuser – als Bruttoanlageinvestitionen und somit auch als ein Teil des Anlagevermögens behandelt.

In der Regel ziehen Veränderungen bei den Investitionen (Verwendungsrechnung der VGR) entsprechende Veränderungen bei der Bruttowertschöpfung (Entstehungsrechnung der VGR) und bei den Einkommen (Verteilungsrechnung der VGR) nach sich. Dies folgt aus dem kreislaufmäßigen Abstimmungsprozess zwischen der Entstehungs-, Verwendungs- und Verteilungsrechnung der VGR. Je nach gewähltem Einkommensbegriff kommt man auf Basis der revidierten VGR-Daten jedoch zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen (Abbildung 1):

VGR
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Zunächst ist festzustellen, dass sich das Bruttoinlandsprodukt je Einwohner durch die Revision kräftig erhöht hat. Im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013 hat nun jeder Bundesbürger ein um 817 Euro höheres BIP erwirtschaftet. Das Bruttonationaleinkommen je Einwohner fällt jetzt sogar jahresdurchschnittlich um 878 Euro pro Einwohner höher aus. Aber: Beim Volkseinkommen je Einwohner zeigt sich kaum etwas, zumindest nicht in diesen Größenordnungen. Im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013 ergibt sich lediglich ein Plus in Höhe von 53 Euro je Einwohner, im Jahr 2013 ist es sogar niedriger als auf Basis der nicht revidierten Daten. Wie sind diese unterschiedlichen Revisionswirkungen bei den einzelnen Einkommensmaßen (Bruttonationaleinkommen und Volkseinkommen) zu erklären?

Durch die Erweiterung des Investitionsbegriffs steigt der Kapitalstock einer Volkswirtschaft. Aus diesem höheren Kapitalstock sollten auch höhere Kapitaleinkommen resultieren. Im gesamtwirtschaftlichen Einkommensgefüge würden dann die Kapitaleinkommen an Bedeutung gewinnen. Die Lohnquote würde entsprechend fallen. Mit dem ansteigenden Kapitalstock steigen aber auch die Abschreibungen auf diesen Kapitalstock deutlich an. Im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013 überschreiten die Abschreibungen nach der Revision den vorhergehenden Wert um durchschnittlich 19 Prozent. Das sind immerhin jahresdurchschnittlich gut 60 Milliarden Euro – im Jahr 2013 sogar 93 Milliarden Euro. Bei der Berechnung des Volkseinkommens werden die Abschreibungen vom Bruttonationaleinkommen abgezogen. Durch den hohen Abschreibungseffekt kommt somit der hohe BIP-Effekt nicht mehr beim Volkseinkommen an.

Die Ausweitung des Investitionsbegriffs in den VGR führt somit nicht zu einem merklich höheren Volkseinkommen. Auch die Struktur des Volkseinkommens wurde durch die Revision kaum berührt (Abbildung 2). Die Lohnquote liegt im Durchschnitt der Jahre 1991 bis 2013 mit 69 Prozent sogar um 0,1 Prozentpunkte über dem nicht revidierten Wert. Das liegt allerdings daran, dass die Arbeitnehmerentgelte nach der Revision höher ausfallen. Die Erwerbstätigenrechnung wurde ebenfalls überarbeitet. So werden nunmehr auch Beschäftigte in Einrichtungen für Behinderte als Arbeitnehmer erfasst. Auch erfolgte eine Neuberechnung der unterstellten Sozialbeiträge von Beamten.

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Eine Antwort auf „VGR-Revision 2014 – Sind wir jetzt reicher?“

  1. Natürlich sind wir jetzt nicht reicher. Statistiker definieren, messen, schätzen, reden, aber das verändert nicht das zu messende, reale Phänomen.
    Eine ganz andere Frage ist, ob wir den Begriff „reich“ an der Höhe des Einkommens festmachen sollten, wie das beispielsweise unter Journalisten gang und gäbe ist, oder besser an der Höhe des Nettovermögens.

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