Schätzungsweise 75 Prozent der Polit-Talkshows von Will, Plasberg & Co. handeln direkt oder indirekt von Hartz-IV. Die Protagonisten dieser Shows sind wieder und wieder dieselben, und die Empörung von Moderatoren, Talkgästen und Zuschauern über die von Hartz-IV ausgehende soziale Ungerechtigkeit kennt kaum Grenzen. Dort ist auch der Ort, an dem sich die Sozialdemokraten mehr oder minder offen von den Hartz-Reformen distanzieren, ebenso wie von der Riester-Rente und der Anhebung des Rentenalters. Dabei tun sie so, als ob die Wähler nicht wüssten, dass sie selbst es waren, die entgegen vollmundigen Wahlversprechen diese Reformen seinerzeit umgesetzt hatten – und zwar nicht durch Herrn Schröder allein, sondern mit aktiver Hilfe oder zumindest mit Billigung all derer, die auch heute noch zum sozialdemokratischen Spitzenpersonal gehören, allen voran die „Stones“ (Steinmeier und Steinbrück) sowie Müntefering und auch Klaus Wowereit, der als Talkshow-Löwe regelmäßig die „neoliberalen Umtriebe“ dieser Republik beweinte (und noch beweint), während er seinen Ex-Finanzminister Sarrazin ein ganzes Arsenal „neoliberaler“ Feuerwerkskörper abfackeln ließ, angefangen von der Berliner Haushaltssanierung über Kita-Schließungen bis hin zu weit reichenden Privatisierungen.
Alle diese Spitzenleute lassen es zwar wohlwollend zu, dass die zweite Führungsriege der SPD landauf landab gegen die Hartz-Reformen stänkert (oder sie übernehmen wie Wowereit das Stänkern gleich selbst); doch sie erwähnen nur ungern, dass sie keineswegs vorhaben, die Hartz-Reform, die Riester-Reform und die Anhebung des Rentenalters zurückzunehmen, so die Wähler ihnen Regierungsverantwortung „jenseits von CDU und FDP“ übertrügen. Der Grund dafür ist ein einfacher: Ihnen ist bewusst, dass die Schröder-Regierungen diese Reformen aus Mangel an Alternativen durchgesetzt hat; und ihnen ist auch bewusst, dass es aus ebenjenem Grunde kein Zurück zum status quo ante gibt. Nicht bewusst ist ihnen offenbar, dass sie das ihren Wählern nicht vorenthalten können. Ebenso scheint ihnen nicht bewusst zu sein, dass die Wähler selbstverständlich wissen, von wem diese Reformen stammen, und dass sie auch wissen, dass die SPD-Führung diese Reformen keineswegs zurückzunehmen beabsichtigt.
So ist es denn nur eine logische Konsequenz, dass das Gestänkere über die alternativlosen Reformen der Schröder-Regierung das Wasser der Wählerstimmen allein auf die Mühlen der „Linken“ leitet und die Sozialdemokraten leer ausgehen. Denn warum sollte ein Hartz-IV-kritischer Wähler die Sozialdemokraten wählen, die den beklagten Zustand erstens höchstselbst hergestellt haben und die ihn zweitens mit ziemlicher Sicherheit auch nicht wieder in die Vor-Hartz-IV-Zeit zurücktransferieren werden? So betrachtet liefern sich die Sozialdemokraten ein Hase-Igel-Rennen mit ihren neuen Fressfeinden: Wo immer sie mit ihrer Hartz-Kritik ankommen, sind Oskar und Gregor schon da. Etwas zynisch betrachtet ist es daher nur folgerichtig, wenn die Sozialdemokraten bei eigenen Verlusten von über sechs Prozent im Saarland (ganz zu schweigen von Thüringen und Sachsen) den Sprung der „Linken“ auf über 21 Prozent fast euphorisch bejubeln, ja sich selbst geradezu als Wahlsieger feiern; denn sie dürfen mit einiger Berechtigung behaupten, dass der Erfolg der „Linken“ nicht zuletzt ihr Werk gewesen ist. Dass sich manche Sozialdemokraten nun, da die Wahlen gelaufen sind, dem bis dahin verhassten „linken“ Spitzenkandidaten im Saarland anbiedern, indem sie ihm öffentlich und „neidlos“ (Rudolf Dressler) zum Wahlausgang gratulieren, erinnert an die Berichte von Folteropfern, die ab einem gewissen Punkt begannen, ihren Peiniger zu lieben.
Aber wie kann es sein, dass es einer populistischen Partei mit einer mehr als zweifelhaften Vergangenheit – nicht nur der Partei selbst, sondern nach wie vor auch der meisten ihrer prominenten Repräsentanten – gelingt, die halbe Republik im Einklang mit den öffentlich-rechtlichen Medien auf ein einziges Thema zu fixieren, welches eigentlich längst erledigt ist? Die Antwort ist wohl in einer Kombination aus womöglich ehrenwerter sozialer Betroffenheit mit einem allerdings verheerenden Unwissen über ökonomische Zusammenhänge zu suchen – nicht allein bei Wählern, sondern vor allem auch bei Medienschaffenden. Auf diesem Nährboden gedeiht das Vertrauen in die Populisten, welche in den letzten Monaten systematisch salonfähig gemacht wurden und welche den Menschen das Paradies auf Erden versprechen, obwohl sie nicht den Hauch eines tragfähigen Konzeptes zu bieten haben. Kern des von den Populisten unter dem zynisch-veralbernden Slogan „Reichtum für Alle“ geführten Scheinkonzepts ist die Rücknahme so ziemlich aller Reformen der Schröder-Regierung, wofür Hartz-IV quasi zum heiligen Symbol erhoben worden ist. Aber während die Populisten die Rücknahme von Hartz-IV wie eine Monstranz vor sich hertragen (was inzwischen von der rechten Populistenkonkurrenz eifrig kopiert wird), wendet sich unser seriöser öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht mit Grausen ab, wie man es von ihm erwarten sollte. Vielmehr reiht er sich – zumindest, was seine Polit-Shows angeht – willig in die Schar der Gläubigen ein und betet im Chor die Verse von Oskar und Gregor nach.
Ist das allabendliche Ritual erst einmal zur sakralen Handlung erklärt, dann muss man sich nicht einmal mehr die Mühe machen, die Absurdität der Inhalte zu tarnen. So fiel es wohl kaum noch jemandem auf, als in zwei aufeinander folgenden Polit-Talkshows Alltagsprobleme von Hartz-IV beziehenden Familien in dunkelsten Farben gemalt wurden, während die Familien selbst in ihren hübsch gepflegten Eigenheimen präsentiert wurden. In diesem Sinne werden fortwährend ganz alltägliche Probleme von Hartz-IV-Familien skandalisiert, obwohl es sich um Probleme handelt, mit welchen sich auch jede andere Familie herumschlägt, welche nicht von Hartz-IV, sondern von einem durchschnittlichen Nettoerwerbseinkommen lebt – ganz einfach, weil auch dort die Mittel begrenzt sind und weil ein Hartz-IV-Satz für eine vierköpfige Familie sehr nah an das durchschnittliche Nettoeinkommen einer allein von Erwerbsarbeit lebenden Familie heranreicht. Nun leben selbstverständlich nicht alle Hartz-IV-Empfänger in akzeptablen Verhältnissen. Aber für die ernsthaften Problemfälle scheint sich kaum jemand zu interessieren. Wer im ganzen Hartz-IV-Wahn einmal nach den wirklich prekären Lebenssituationen sucht, nach den Personen, die fast schon in die Perspektivlosigkeit hineingeboren werden; nach denen, die nichts mitbekommen als den Umgang mit Ballerspielen, zweifelhaftem Fernseh-, DVD- und Internetkonsum; nach denen, deren Eltern ihnen keine Perspektive zur Ausbildung und zur Gestaltung ihres Lebens in einer komplex gewordenen Welt aufzuzeigen in der Lage sind und die stattdessen verwahrlosen, in die Kriminalität abgleiten und künftig nicht einmal mehr die Hoffnung auf die relativ großzügigen Sozialtransfers der heutigen Zeit haben können; wer nach diesen wirklichen Verlierern der modernen Gesellschaft sucht, der wird im Kartell der Polit-Talkshows nicht fündig.
Der Grund ist einfach: Deren Probleme sind in die Skandalgeschichten der Anti-Hartz-IV-Gläubigen nicht einzupassen, und sie eignen sich daher auch nicht für deren Rituale. Zudem haben diese Personen keine Lobby in der medialen Betroffenheitsindustrie, für deren Effekthascherei die Bilder der armen, aber behüteten Familien mit ihren Opfern zugunsten raffgieriger Banken, Manager und Finanzjongleure besser passt als der verwahrloste Junkie mitsamt seinem gewaltbereiten Vater – wie will man die auch auf Anne Wills Couch interviewen? Deshalb finden wir die wirklichen Verlierer dieser Gesellschaft in diesen Sendungen auch gar nicht. Stattdessen müssen wir uns beispielsweise kollektiv darüber ereifern, dass das Geld einer Familie mit Hartz-IV für die elektrische Bassgitarre der Tochter des Hauses nicht gereicht hat, was den anwesenden Dauertalk-Ehrengast Gysi das schiere Entsetzen ins Gesicht trieb – und natürlich die blanke Wut über die Auswüchse unseres neoliberalen Raubtierkapitalismus.
Bleiben wir einmal bei dem obigen Fall. Er handelt von einer alleinerziehenden Mutter mit zwei Kindern, welcher ein Teil ihres Arbeitslosengeldes II gekürzt wurde, nachdem eine zum Haushalt gehörende Tochter durch einen Nebenjob ein eigenes Einkommen erwirtschaftet hatte – ein Vorgang, der neben Herrn Gysi auch alle anderen Anwesenden der betreffenden Talk-Show in Empörung versetzte; nicht zuletzt, weil von dem Einkommen der Tochter die Bassgitarre angeschafft werden sollte. Aber was ist hier eigentlich geschehen? Die betreffende Mutter bezog nicht etwa aufstockendes Arbeitslosengeld II, weil sie für Hungerlöhne schufften gehen musste und es dennoch nicht reichte, wie dies zunächst suggeriert wurde, sondern weil sie sich für eine Teilzeitbeschäftigung als Bibliothekarin in einer öffentlichen Bibliothek entschieden hatte. Man mag diese und alle anderen Entscheidungen dieser Frau nun loben oder tadeln, je nach Werteordnung. Aber darauf kommt es nicht an. Worauf es ankommt ist dies: Ihre Lebenssituation entspringt in keiner Weise den Auswüchsen des neoliberalen Kapitalismus, sondern sie ist die Folge einer Reihe rein privater Entscheidungen und, ja, möglicherweise auch der ein oder anderen unglücklichen Fügung des Schicksals. Solange ihr der Staat oder eine dritte Person oder Institution keinen Schaden zugefügt hat, für den sie Schadenersatz verlangen könnte, greift ihr die Gesellschaft – und damit die Steuerzahler – dann und nur dann unter die Arme, wenn sie mit ihrer Familie nicht in der Lage ist, ihr Einkommen aus eigener Kraft zu bestreiten. Die Grundlage dieser Unterstützung entfällt dann und insofern, wie die Familie ihre Fähigkeit zum Bestreiten des Lebensunterhalts zurückerlangt. Dahinter steckt das Subsidiaritätsprinzip – ein Prinzip, das nicht nur einleuchtend, sondern gerade in Deutschland hoch geehrt ist.
Die Kehrseite des Subsidiaritätsprinzips heißt in der Sprache der Ökonomen Transferentzugsrate. Wer sagt, dass keiner Hilfe bekommen soll, wer keine Hilfe benötigt, der sagt zugleich, dass dem die Hilfe gestrichen wird, der sich aus der eigenen Not befreit hat. Ihm wird die Hilfe (technisch: der „Transfer“) entzogen. Dass der in Not Geratene damit freilich den Anreiz dazu verliert, sich selbst aus der Not zu befreien, gehört leider zu den Fallstricken eines an sich einleuchtenden Prinzips. Man bekommt das Subsidiaritätsprinzip aber nur im Doppelpack mit dem Transferentzugsproblem – sie sind siamesische Zwillinge. Die Folgen lassen sich nur durch intelligente Regelungen lindern, los wird man sie nie. Schon gar nicht wird man sie los, wenn man die Hartz-IV-Reformen zurücknimmt; und auch nicht, indem man die Sätze erhöht – man könnte sie verzehnfachen, das Problem wäre immer noch da. Damit aber zurück zum vorliegenden Fall: Man mag – vielleicht zu Recht – der Meinung sein, dass das Einkommen der Tochter unberücksichtigt bleiben solle. Aber damit sind wir beim eigentlichen Kern der Sache angelangt: Dies einzuschätzen, zu regeln und ggf. nachzujustieren, erfordert intime Kenntnis nicht nur der juristischen Details, sondern vor allem auch der ökonomischen Wirkungsmechanismen, die man mit jeder Nachjustierung auslöst. Zu den einfachen Einsichten gehört es allerdings noch, dass sich die betreffende Mutter mit ihrer Tochter vor der Hartz-IV-Reform finanziell schlechter und keineswegs besser gestellt hätte, weil sich dort sämtliche zusätzlichen Einkommen in vollem Umfang mindernd auf die ergänzende Sozialhilfe ausgewirkt hätten, während das Arbeitslosengeld II nicht ganz unerhebliche Freibeträge vorsieht – woraus folgt, dass die betroffene Mutter und ihre Tochter in diesem Falle überhaupt keine Hartz-IV-Opfer sind, sondern eher noch Gewinner!
Sachlich gilt aber: Mit dem derzeit tobenden Hartz-IV-Krawall ist den geschilderten und auch praktisch allen anderen Fallstricken der Sozialpolitik an der Schnittstelle zur Erwerbsarbeit nicht beizukommen. Dass eine Talk-Show über juristische und ökonomische Detailfragen unseres Sozialsystems an Unterhaltungswert verlieren würde, ist sicherlich einzugestehen. Aber so manches ließe sich schon vermitteln, wenn man denn wollte. Umso ratloser steht man vor der Frage, was es ist, was den ganzen Hartz-IV-Wahn in Gang hält, wo doch wirklich ausnahmslos alle Parteien jenseits der Partei „Die Linke“ im Einklang mit den einschlägigen wirtschaftswissenschaftlichen Evaluationen davon überzeugt sind, dass es zu den Hartz-Reformen keine Alternative gab und dass diese vernünftigerweise auch nicht zurückgenommen werden können – ob das nun offen so kommuniziert wird oder nicht.
Dies deutet auf zwei tiefer liegende Fragen hin: zum einen darauf, wie viel ökonomische Bildung jungen Menschen und damit künftigen Medienkonsumenten und Wählern mit auf den Weg gegeben werden sollte. Wer diese Frage aufwirft, macht sich allerdings gleich wieder verdächtig, als Lobbyist „der Wirtschaft“ jungen Menschen die Interessen des Kapitals als gesamtgesellschaftliche Interessen verkaufen zu wollen. Aber in Wahrheit kann und soll es darum nicht gehen. Das zweite Problem liegt in der Rolle des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Er legitimiert sich kurz gesagt aus den positiven Externalitäten, die eine gut informierte Wählerstimme gegenüber einer schlecht informierten Wählerstimme für die Qualität der Regierung ausübt. Wenn das so ist, dann lässt sich schlecht mit Zwangsabgaben wie jenen der GEZ legitimieren, was nicht als Information über die öffentlich-rechtlichen Kanäle geschleust wird. Dass Information und Unterhaltung verknüpft werden müssen, damit die Menschen es freiwillig konsumieren, ist noch einzusehen. Würde der öffentlich-rechtliche Rundfunk also beginnen, inhaltsleere Krawall-Talkshows von den Privaten zu kopieren, dann wäre das nicht mehr legitimierbar. Man mag einwenden, dass das auch gar nicht geschieht. Aber was geschieht, ist noch schlimmer: Es werden Krawallsendungen mit vermeintlich anspruchsvollen politischen Informationen angereichert und ihnen dadurch der Anstrich von Seriosität verliehen. Das ist dann im Zweifel sogar noch schlimmer als inhaltsleerer Krawall – und das Ergebnis kann man beispielsweise im Hartz-IV-Wahn besichtigen, dem Deutschland sich fürs erste hingegeben hat.
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Lieber Herr Apolte,
vielen Dank für diesen inhaltlich richtigen und zudem unterhaltsam verfassten Artikel. Ich habe diesem nichts hinzuzufügen, außer dem Wunsch, häufiger Texte dieser Qualität zu lesen.
Beste Grüße
Peter Genzel
Den Worten von Peter Genzel kann ich mich nur anschließen.
Es ist schon eine erstaunliche Leistung, aus der Vorlage, wie sie aus den Medien kommt, einen ernsthaften und lesenswerten Beitrag wie diesen zu machen. Respekt.
Und wenn man die thematisierten Probleme tatsächlich angehen und lösen will, anstatt nur reisserische Fernsehstücke zu produzieren, steht einem Ernsthaftigkeit und eine nüchterne Analyse wie diese gut an.