SPD-Generalsekretärin Yasmin Fahimi hat das jüngste Jahresgutachten des Sachverständigenrates scharf kritisiert. Es versammele auf 400 Seiten „platte Wertungen und viel zu wenig ökonomische Fakten“. Dies äußerte sie bereits wenige Stunden nach Veröffentlichung und Übergabe des Werkes an die Bundeskanzlerin. Sie kann das Gutachten also gar nicht gelesen, sondern höchstens überflogen haben.
Auch dabei sollte ihr aber nicht entgangen sein, dass es 93 detaillierte Grafiken, 32 ebensolche Tabellen, 31 erklärende Kästen sowie umfangreiche Literaturnachweise zu jedem der insgesamt neun Kapitel enthält. Damit ist es geradezu eine Fundgrube fundierter ökonomischer Daten und Fakten, die noch durch ein umfangreiches online-Angebot des Rates mit Hunderten von monatlich aktualisierten Statistiken ergänzt wird – die meisten direkt downloadbar als Excel-Datei inklusive entsprechender Grafiken und natürlich seriöser Quellenangaben.
Von Faktenmangel kann also keine Rede sein. Aber natürlich geht es in einem solchen Gutachten nicht darum, möglichst große Zahlenfriedhöfe anzulegen, sondern um wirtschaftspolitische Entscheidungshilfe. Ausdrücklich ist dem Sachverständigenrat bei seiner Gründung 1963 Unabhängigkeit von der Regierung garantiert worden, und dies sogar in einem eigenen Gesetz. Allerdings soll er andererseits keine direkten wirtschaftspolitischen Empfehlungen geben, sondern nur Alternativen und ihre Konsequenzen aufzeigen. Allerdings sind die Grenzen hier durchaus fließend. Wenn der Rat etwa schreibt, mit Mindestlohn werde die Arbeitslosigkeit höher sein als ohne, dann liegt darin natürlich bereits eine klare Prioritätensetzung für das, was zu tun ist.
Genau davor hatte sich schon Adenauer gefürchtet, der sich keine solche Laus in den Pelz setzen wollte. Der Ordnungspolitiker Ludwig Erhard setzte sich jedoch schließlich durch. So entstand mit dem Rat der „Fünf Weisen“, wie sie bald ehrfurchtsvoll genannt wurden, eine in der Welt einmalige Institution. Keine andere Beratergruppe, auch nicht der amerikanische Council of Economic Advisors, genießt ein vergleichbares Maß von Unabhängigkeit, wissenschaftlicher Anerkennung und gleichzeitig wirtschaftspolitischer Aufmerksamkeit.
Dies hat den Sachverständigenrat nicht davor geschützt, von politischer Seite immer wieder einmal rüde angegriffen zu werden. Schon Franz Josef Strauß und der frühere SPD-Finanzminister Hans Matthöfer forderten seine Abschaffung, ähnlich wie es auch nun wieder aus sozialdemokratischen Kreisen tönt. Die methodische Kompetenz wissenschaftlicher Analysen wird nun einmal von Politikern vorwiegend danach beurteilt, ob ihnen die Ergebnisse ins Konzept passen oder nicht. Man sollte das nicht allzu ernst nehmen, zumal Politiker der einzige Beruf in Deutschland ist, für dessen Ausübung man keinerlei formale Qualifikation nachweisen muss. Das merkt man leider zuweilen, auch wenn es durchaus einige ökonomisch qualifizierte Politiker gibt.
Die Naturwissenschaftlerinnen Fahimi und Merkel gehören allerdings offenbar nicht dazu. Beide bezeichneten es als „seltsam“ (Merkel) bzw. „hanebüchen“ (Fahimi), dass der erst im nächsten Jahr in Kraft tretende Mindestlohn bereits heute zur Eintrübung der Konjunktur beitragen soll. Sie sollten allerdings wissen, dass in der Ökonomie Zukunftserwartungen durchaus eine zentrale Rolle für das gegenwärtige Handeln spielen. Wenn der Arbeitgeber die Lohnerhöhungen des nächsten Jahres bereits kennt, wird er dies bei seinen heutigen Investitions- und Personalentscheidungen natürlich berücksichtigen. Ob man das in konkreten Wachstumseinbußen messen kann, sei einmal dahingestellt. Aber zutreffend ist zweifellos die Grundaussage des Sachverständigenrates, dass die bisherigen Beschlüsse der Regierung (Mindestlohn, Mietpreisbremse, Mütterrente, Rente mit 63, Energiewende…) überwiegend hohe Folgekosten nach sich ziehen und damit das Investitionsklima belasten.
In früheren Jahresgutachten hat der Sachverständigenrat zu jedem einzelnen dieser Punkte mehrfach umfangreiche Analysen und auch eigene Vorschläge vorgelegt. Dabei hat er, seinem Auftrag entsprechend, immer auch den gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Debatte auf den Punkt gebracht und durch entsprechende Zahlen, Literaturverweise und Argumente belegt. Auch abweichende Meinungen einzelner Ratsmitglieder erhalten dabei regelmäßig ausführlichen Raum. „Hanebüchen“ ist daher nicht das Gutachten, sondern der von Frau Fahimi erhobene Vorwurf mangelnder Methodik und Substanz. Sie verwechselt hier offenbar Chemie mit Alchemie.
Im Übrigen beschränkt sich das Gutachten keineswegs auf Konjunkturprognosen und Arbeitsmarktfragen, die im Vordergrund der derzeitigen Debatte stehen. Schon allein die im letzten Kapital vorgelegte Analyse der Einkommens- und Vermögensverteilung erfüllt z.B. eine immer wieder – gerade auch von Sozialdemokraten – erhobene Forderung in detaillierter Weise. Dazu gehören nicht nur internationale und zeitliche Vergleiche, sondern die Bestimmungsgründe für die Ungleichverteilung des Wohlstands und ihre Veränderung. Hinzu kommen die Standardkapitel über Konjunktur, Arbeitsmarkt, Geld- und Fiskalpolitik sowie über detaillierte Analysen u.a. des Produktionspotentials, der Finanzmarktstabilität und der deutschen Leistungsbilanz. Damit ist das diesjährige Jahresgutachten wieder ein fulminantes Kompendium für praktisch alle Fragen, welche auf der wirtschaftspolitischen Agenda stehen. Selbst wer die Empfehlungen des Rates nicht teilt, kommt an der Lektüre praktisch nicht vorbei, wenn er kompetent mitreden will. Im Übrigen enthält das Gutachten auch drei umfangreiche Minderheitsvoten des gewerkschaftsnahen Ratsmitgliedes Peter Bofinger, so dass man auch in dieser Hinsicht voll auf seine Kosten kommt.
Das gesamte Gutachten ist – ebenso wie seine Vorgänger – auf der Webseite des Sachverständigenrates kostenlos verfügbar. Jedermann hat also die Möglichkeit, sich ein eigenes Bild von Vorgehensweise und Inhalten zu machen. Für den eiligen Leser gibt es auch eine Kurzfassung. Es empfiehlt sich allerdings – anders als Frau Fahimi – nicht alleine diese zu lesen. Zwar gibt es auch von Goethes Faust eine einseitige Kurzfassung im Netz. Man darf jedoch bezweifeln, dass sich daraus bereits der volle Gehalt dieses Werkes erschließt: „Geduld will bei dem Werke sein“.(Faust I, Hexenküchenszene).
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Ich stimme den Aussagen des Beitrags zu. Allerdings ist die Dreistigkeit in den Aussagen von Frau Fahimi von einer Qualität, die das Niveau öffentlicher Kritik an bisherigen SV-Gutachten derart unterschreitet, dass der nüchterne bis süffisante Kommentar des Kollegen van Santum vermutlich wenig zur Abschreckung von vergleichbaren Müllsprechblasen prominenter Politiker betragen wird.
Das wäre bedauerlich, denn über den Primärschaden eines Angriffs auf die geistige Volksgesundheit hinaus gibt es speziell für die wirtschaftswissenschaftlichen Disziplinen einen Effekt, den man nicht verschweigen sollte: Wenn hochrangige Vertreter einer Regierungspartei derart unterirdisch ablästern können, ohne einen Shitstorm befürchten zu müssen, wird die ohnehin nicht gerade exzellente Reputation von Volks- und Betriebswirtschaftslehre weiter leiden und Studenten dieser Fächer müssen sich mehr denn je fragen, warum sie sich akademische Mühen antun.
Kurzum: Ulrich Wickert sagte einst mit Recht „Gauner muss man Gauner nennen“. Wie würde er wohl heute die Gaga-Ökonomie von Frau Fahimi nennen?