Die Bewunderung für starke Führungspersönlichkeiten scheint so tief verankert zu sein, dass der starke Unterdrücker mehr geschätzt wird, als der zurückhaltende Befreier. Sogar der gewalttätige Revolutionär erfreut sich größerer Bewunderung als der stille Reformer. Die gleichen, die heute Putin mit gutem Recht ablehnen, sehen Gorbatschow als Versager, weil er sein, Ziel Großrussland zusammenzuhalten, nicht erreichte.
Vertraut mit den Schlichen des sowjetischen Machtsystems schaffte Gorbatschow es, den von ihm freigesetzten gesellschaftlichen Kräften den “Rücken“ für etwa vier Jahre freizuhalten. Dann schlug das Imperium mit einem Putschversuch zurück. Jelzin, der zwei Monate zuvor demokratische Legitimation gewonnen hatte, konnte dafür sorgen, dass das Rad nicht zurückgedreht wurde. Er verdient dafür Wertschätzung. Aber er vermochte sich nur durchzusetzen, weil zuvor genug Zeit für eine gesellschaftliche Gruppenbildung geblieben war, die organisatorisches Gewicht hatte.
Angesichts der üblichen Schicksale von Reformen und Reformern in Russland muss man es als politische Meisterleistung ansehen, die autoritären Gegner von Glasnost und Perestroika vorübergehend ausmanövriert zu haben. Die nachhaltige Befreiung von Abermillionen Menschen des früheren sowjetischen Machtbereichs ist Grund zum Feiern.
Es ist die bürgerliche Freiheit, nicht die nationale Einheit, die es in Deutschland wirklich zu feiern gilt. Leider haben aber selbst jene, die das verstehen, nicht den Versuchungen widerstanden, sich auch zum 9. November im romantischen Rausch der Gemeinschaftsgefühle zu ergehen. Der 9.November ist der Tag, der viel mehr gefeiert werden sollte, als der 3. Oktober. Die Freiheit und das Recht nicht die Einheit sind, worauf es wirklich ankommt.
Wir sollten den Gewinn der (relativen) Freiheiten in Russland und der weitergehenden Freiheiten in den früheren Satellitenstaaten als den eigentlichen Erfolg von Gorbatschow feiern. Aber wer macht das schon? Den Zusammenbruch der russischen Hegemonie hat gewiss auch Gorbatschows nicht bewusst herbeiführen wollen. Er hat die Prioritäten richtig gesetzt und dafür gesorgt, dass geschehen konnte, was geschehen ist. Er hat, wie er selbst es ausdrückte, “revolutionären Wandel auf evolutionärem Wege“ herbeigeführt. Wir konnten Zeitzeugen einer Revolution zum Besseren werden. Sie hat sich gerade durch Gorbatschows Wirken, ohne größere Kriege und militärische Auseinandersetzungen vollzogen. Er hat durch sein Beharren auf Prinzipien ein imperiales Gebäude durch bürgerliche Freiheiten so unterminiert, dass es sanft implodierte und nicht gewalttätig explodierte.
Wir alle sollten uns generell abgewöhnen, weiter den vielen Mythen von den starken Führerpersönlichkeiten zu huldigen. Gorbatschow hat vermutlich stärker positiv auf den Lauf der Geschichte eingewirkt als jeder andere Nachkriegspolitiker. Wir sollten am 9. November die Befreiung der Menschen von der sowjetischen Unterdrückung feiern, die von Gorbatschow mit seinem Beharren auf Glasnost und Perestroika herbeigeführt wurde.
Brown, Archie. The Myth of the Strong Leader: Political Leadership in Modern Politics. New York: Basic Books, 2014.
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