„Wenn ich zwei Ökonomen nach ihrer Meinung frage, erhalte ich drei verschiedene Antworten. Zwei davon sind von Herrn Keynes.“ Diese boshafte Aussage, die Winston Churchill zugeschrieben wird, hat an Aktualität nichts eingebüßt. Die Zunft der Ökonomen ist weiter in vielem uneins. Und doch gibt es Bereiche, in denen sie im Kern übereinstimmt. Das trifft sogar für werturteilsbeladene Felder zu, wie etwa den Kampf gegen die Armut. Als allgemein akzeptiertes Werturteil gilt: Ein effizienter Sozialstaat muss allen Individuen ein menschenwürdiges Leben garantieren.
Von Einigkeit ist allerdings nur noch wenig zu spüren, wenn es darum geht, wie hoch das Existenzminimum ausfallen und wie Armut bekämpft werden soll. Das erstaunt. Ökonomen sind sich nämlich auch über ein Grundprinzip der Umverteilung weitgehend einig. Verteilungspolitische Ziele sollte man nicht über manipulierte relative Preise zu erreichen suchen. Allokation und Distribution sind so gut es geht, voneinander zu trennen. Jede Form der Umverteilung sollte den Preismechanismus möglichst wenig in Mitleidenschaft ziehen. Damit hat Subjektförderung immer Priorität vor einer Objektförderung.
Diese ökonomische Binsenweisheit wird aber nicht immer beherzigt, auch nicht von Ökonomen. Erst kürzlich sprachen sich in den USA über 650 Ökonomen in einem offenen Brief für einen höheren gesetzlichen Mindestlohn auf Bundesebene aus. Darunter waren auch 5 Nobelpreisträger der Ökonomie. Nach ihrer Meinung lässt sich die Armut mit höheren Mindestlöhnen wirksam bekämpfen. Die Arbeitseinkommen arbeitsfähiger Armen würden nachhaltig in breiter Front steigen, finanzielle Transfers des Sozialstaates könnten abgeschmolzen werden.
Tatsächlich sind Mindestlöhne, gesetzliche und soziale, ungeeignet, Armut wirksam zu bekämpfen. Jede Objektförderung hat mit vielen Problemen zu kämpfen: Sie ist nicht treffsicher, verschwenderisch und wenig transparent. Nicht alle, die den Mindestlohn erhalten, sind nämlich arm. Andere eigene Einkünfte, Einkommen von Haushaltsmitgliedern und Vermögen bleiben unberücksichtigt. Kein Wunder, dass die Mitnahmeeffekte erheblich sind, knappe Mittel werden verschwendet. Und die Verteilungswirkungen von Mindestlöhnen liegen im Dunkeln. Wer sie finanziert, wer von ihnen profitiert, ist unklar.
Mindestlöhne haben einen weiteren gravierenden Mangel: Mit den beschäftigungspolitischen Risiken und Nebenwirkungen ist nicht zu spaßen. Armut lässt sich nachhaltig nur bekämpfen, wenn Menschen in Arbeit und Brot sind. Ein Arbeitsplatz ist die Basis erwerbsmäßigen Einkommens, nur produktivere Arbeitnehmer verdienen mehr. Produktiver werden sie aber vor allem am Arbeitsplatz. Der Kampf gegen Armut ist überhaupt nur mit mehr Arbeitsplätzen zu gewinnen. Mindestlöhne, die über den markträumenden Löhnen festgesetzt werden, vernichten nicht nur über kurz oder lang Arbeitsplätze, sie bremsen auch Investitionen der Arbeitnehmer in marktverwertbares Humankapital.
Wer Erfolg haben will im Kampf gegen Armut, darf nicht mit dem Teufelszeug der Mindestlöhne hantieren. Er muss sich am Grundprinzip orientieren, Umverteilung mit möglichst anreizverträglichen staatlichen Transfers und nicht über den Preismechanismus zu betreiben. Der konsequenteste Weg besteht sicherlich darin, arbeitsfähigen Armen nur dann finanziell unter die Arme zu greifen, wenn sie arbeiten. Mit dem Earned-Income-Tax-Credit (EITC) versuchen die USA, Armut zu bekämpfen. Die Anreize der Unternehmen, einfache Arbeitsplätze zu schaffen, sind hoch. Die Bereitschaft der Arbeitnehmer, solche Arbeitsplätze anzunehmen, ist es ebenfalls.
Dieser Weg ist im „alten“ Europa noch versperrt. Ein garantiertes hohes Existenzminimum, auch ohne Arbeit, wird als „Triumph westlicher Zivilisation“ (Assar Lindbeck) angesehen. Damit bleibt nur, die soziale Grundsicherung anreizkompatibler zu gestalten. Das macht es notwendig, die Möglichkeiten des Hinzuverdienstes für Empfänger von ALG II zu verbessern. Um allerdings die finanziellen Lasten für die Steuerzahler in Grenzen zu halten, aber auch, um die Anreize der Unternehmen zu stärken, mehr Arbeitsplätze im Segment einfacher Tätigkeiten zu schaffen, muss der Regelsatz verringert werden.
Würde dieser Vorschlag in die Tat umgesetzt, käme dies einer kopernikanischen Wende im Sozialen gleich. Der Weg zum EITC würde weiter geebnet, die Beschäftigung steigen, die Armut zurückgehen. Bei einem geringeren sozialen Mindestlohn beschäftigen Unternehmen mehr einfache Arbeit. Wer regulär arbeitet und verdient, darf mehr vom ALG II behalten. Gesetzliche Mindestlöhne sind auch in einem solchen System schädlich. Sie verhindern sinkende Anspruchslöhne und mit ihnen mehr neue Arbeitsplätze für gering qualifizierte Arbeitnehmer. Aber auch diese Strategie, das ALG II anreizverträglicher zu gestalten, kann negative Anreizwirkungen auf das Arbeitsangebot nicht ganz verhindern. Umverteilung ist in der realen Welt nicht kostenlos.
Mindestlöhne sind untauglich, Armut wirksam zu bekämpfen. Eine negative Einkommensteuer ist ihnen überlegen, selbst als „aktivierende Sozialhilfe“. Dennoch setzt die Politik in vielen Ländern auf gesetzliche Mindestlöhne. Daran sind vor allem Gewerkschaften interessiert. Seit die Arbeitsmärkte auch in Europa geöffnet werden, haben sie das Arbeitsangebot nicht mehr unter Kontrolle. Ihre Marktmacht auf den Arbeitsmärkten erodiert. Mit Entsendegesetz, Dienstleistungsrichtlinie und gesetzlichen Mindestlöhnen versuchen sie, den Dammbruch protektionistisch zu verhindern. Die Politik hilft ihnen dabei.
Das gewährt allerdings den Gewerkschaften und ihrer Klientel, den besser qualifizierten Arbeitnehmern, nur eine Atempause. Den Preis der marktwidrigen Politik zahlen zunächst gering qualifizierte Arbeitnehmer. Ihre Arbeitsplätze stehen im Feuer, viele werden verschwinden. Das verschafft den Qualifikationen darüber allenfalls etwas Luft, die Nachfrage nach ihnen kann steigen. Darüber können sie sich aber nicht lange freuen. Die steigenden Leistungen an die Arbeitslosen müssen von ihnen finanziert werden. Je höher die gesetzlichen Mindestlöhne angesetzt werden, desto geringer das Nettoeinkommen besser qualifizierter Arbeitnehmer.
Die Politik hat nicht nur ein abgeleitetes, sie hat auch ein eigenständiges Interesse an gesetzlichen Mindestlöhnen. Viele Politiker glauben, sie könnten auf diesem Weg den Sozialstaat finanziell entlasten. Mit Mindestlöhnen könne man Armut bekämpfen, ohne Geld in die Hand zu nehmen. Die finanziellen Lasten würden den Unternehmen aufgebürdet. Tatsächlich ist die Realität eine andere. Unternehmen rationalisieren, wälzen höhere Kosten auf die Preise weiter oder bauen Arbeitsplätze ab. Die Lasten werden vor allem Arbeitnehmern und Konsumenten aufgebürdet. Das geschieht allerdings eher zufällig und nicht nach individueller Leistungsfähigkeit.
Die Politik sollte von gesetzlichen Mindestlöhnen die Finger lassen. Was als Hilfe für die Armen gedacht ist, verkehrt sich in ihr Gegenteil. Es gibt fast nur Verlierer. Gesetzliche Mindestlöhne sind ungerecht, weil sie wenig zielgenau sind. Sie sind unsozial, weil sie die finanziellen Lasten im Kampf gegen die Armut nicht nach individueller Leistungsfähigkeit, sondern eher zufällig aufbürden. Und sie sind kostspielig, weil sie die Arbeitslosigkeit gerade unter den wirtschaftlich Schwächeren weiter erhöhen. Gesetzliche Mindestlöhne stoßen arbeitsfähige Arme noch tiefer in die Arbeitslosigkeits- und Armutsfalle.
In der Demokratie liegt die Versuchung nahe, die widerstreitenden Meinungen zu gesetzlichen Mindestlöhnen mit einem sehr niedrigen Mindestlohn unter einen Hut zu bringen. Vor einer solchen Strategie sei nachdrücklich gewarnt. Die Erfahrung zeigt, ist ein gesetzlicher Mindestlohn erst einmal eingeführt, lässt er sich politisch nur noch sehr schwer wieder abschaffen. Friedrich August von Hayek hat immer wieder darauf hingewiesen, dass sich interventionistische Eingriffe wie Ölflecke verbreiten und marktwirtschaftliche Ordnungen zerstören. Deshalb gilt: Wehret den Anfängen, auch beim Mindestlohn.
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8 Antworten auf „Gesetzliche Mindestlöhne — wehret den Anfängen“
Kommentare sind geschlossen.
wohl wahr. Siehe auch: http://senordaffy.de/fdog/blog/
Ein sehr interessanter Beitrag. Ein in der aktuellen Ausgabe von Econ Journal Watch veröffentlichter Beitrag über eine Umfrage unter Unterzeichnern des von Ihnen erwähnten Offenen Briefs amerikanischer Ökonomen (http://tinyurl.com/8qpof) zeigt, dass die Unterzeichner zwar durchaus die negative Wirkung von Mindestlöhnen anerkennen, aber ihre Unterschrift offenbar vor alle aus symbolischen Motiven abgegeben haben. So zitiert Bryan Caplan von EconLog (http://econlog.econlib.org/archives/2007/01/the_symbolic_va.html) die Antwort von zwei Befragten: „A low cost demonstration of concern for low wage workers that causes little damage. Elicits a buy-in by low wage workers to the polity“ und „Creating a culture where people realize that some basic needs of people should be satisfied.“ Weil die empirische Literatur bei geringen Mindestlöhnen nur vergleichsweise negative Wirkungen nachweisen kann, glauben einige Ökonomen offenbar mit diesem Brief ihr angeknackstes Image in der Öffentlichkeit aufmöbeln zu können. Das könnte das politisch korrekte Äquivalent zu der bisherigen Zurückhaltung deutscher Wissenschaftler zu diesem wichtigen Thema sein. Offenbar ist dieser Weblog aber angetreten, dieses Manko zu beheben. Viel Glück dabei!
Sämtliche Vorschläge für eine Erhöhung der Möglichkeit des Zuverdiensts von Hartz-IVlern zementiert die Arbeitslosigkeit auf dem gegenwärtigen hohen Stand oder erhöht sie weiter, da es für die Unternehmen sofort zu Mitnahmeeffekten kommt, was sogar ein Prof. Sinn freizügig zugibt. Dadurch wird Armut nur deswegen nicht in das aus den USA bekannte Problem der „working poor“ transferiert, weil der Staat massive Zuschüsse gibt. Diese massiven Zuschüsse sind aber nicht finanzierbar, da aus der gleichen Ecke die Forderung nach beständigen Steuernachlässen für eben die parasitären Unternehmen kommen, die gleichzeitig auch noch staatlich alimentiert werden sollen.
Mindestlöhne sind unsozial und sozial ungerecht, weil sie für die Leute, die zu geringqualifiziert oder zu minderleistend sind, um den Mindestlohn zu erwirtschaften ein absolutes Arbeitsverbot bedeuten. Beispiel: jemand der 5 Jahre lang keinen Job für 5 EUR Stundenlohn gefunden hat, zB weil er keine Ausbildung hat oder nicht effektiv arbeiten kann, wird natürlich erst recht keinen Job finden, wenn man einen Mindestlohn von 7 EUR einführt. Im Gegenteil: es ist anzunehmen, daß sich derjenige wie bisher von anderen Leistungen (anderer Menschen) ernährt hat: ein Abbau von Lohnersatzleistungen und Gestattung von Leichtlöhnen wäre das deshaln beste Arbeistbeschaffungsprogramm.
@st. sasse „parasitären Unternehmen“
was soll den diese bezeichnung hier? überlegen sie mal ob unternehmmen eigentlich steuern zahlen? oder ob das nicht irgendwie betriebskosten sind die sich dann im kaufpreis wieder finden und dann auch vom kunden bezahlt werden!
Leider ein Beitrag, der außer den bekannten platten Statements nichts zur Diskussion um Mindestlöhne beiträgt:
1. Die Argumentation pro Mindestlöhne geht nicht nur in Richtung Armutbekämpfung sondern auch dahin, dass jeder, der Vollzeit tätig ist, auch seine eigene Existenz hierdurch mindestens finanzieren können muss. Das Wertargument wird hier völlig ausgeblendet.
2. Sie schreiben, dass die USA ihr EITC haben und dieser Weg im alten Europa aufgrund des garantierten hohen Existenzminimums versperrt sei. Tatsächlich haben die USA aber einen Mindestlohn und das „alte“ Deutschland nicht. Wenn Sie mit „hohen“ Existenzminimum Hartz IV meinen, müssen Sie aber berücksichtigen, dass dies eben nicht mehr garantiert ist (wenn man eigenes Vermögen hat oder Arbeit ablehnt).
3. Dass selbst britische Unternehmen positiv über die Mindestlöhne sprechen, diskutieren Sie nicht. Auch nicht, dass es nirgendwo negative Erfahrungen gibt, obwohl sie in der Regel kräftig erhöht werden. Und dass Deutschland ohne Mindestlohn mit die höchste Langzeitarbeitslosigkeit hat.
4. Sie sprechen davon, dass die Gewerkschaften die Mindestlöhne politisch durchsetzen. Aber dann müssen Sie beantworten, warum es in den USA und GBR mit schwachen Gewerkschaften Mindestlöhne gibt und in Deutschland mit vergleichsweise starken Gewerkschaften nicht.
5. Sie sprechen sich für höhere Hinzuverdienste bei geringeren Regelsätzen aus. Aber dann müssen Sie beantworten, wie die Personen sich finanzieren, die auch in diesem Fall keine Arbeit finden. Denn durch die Senkung der Regelsätze auf HartzIV-Modell samt Hinzuverdienste ist die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht (jedenfalls nicht stark) zurückgegangen. Warum sollte dies anders sein, wenn man diesen Weg weiter beschreitet?
Sie sagen, das Beamte, welche in die Politik wechseln (dahingehend beurlaubt werden), nur ihre eigene Unabkömmlichkeit zementieren wollen, stellen jedoch ihre allesgelobte Elite als Wesenheit dar, die keinerlei Eigennützigkeit kennt?! Wo ist da die Realität geblieben?! Wäre diese Behauptung wahr, würden wir diese Diskussion nicht führen, denn dann ginge es weitaus gerechter in unserem Land zu, als die in Wirklichkeit der Fall ist!
Im übrigen muss doch auch erwähnt werden, dass gerade die kleineren Einheiten in der Politik der Masse an Bürgern den entscheidenden Vorteil hat, vor Ort Lobbying betreiben zu können. Näher an die Einflussreichen unserer Politik kommt man nicht – schon gar nicht durch Wahlen!