Euro-Union: Von der Euphorie zur Ernüchterung

Zahlreiche bereits mehrmals als final bezeichnete Verhandlungsrunden und Entscheidungen haben in den vergangenen Monaten der Euro-Union ihren Stempel aufgedrückt. Nun wurde ein weiteres Maßnahmenpaket geschnürt, dessen Inhalte noch nicht bis ins letzte Detail an die Öffentlichkeit gedrungen sind, das aber wohl alle Verhandlungspartner ihr Gesicht wahren ließ. Doch die Erinnerungen an den Champagner, mit dem der Euro seinerzeit in vielen EU-Staaten – auch in Griechenland – begrüßt wurde, sind verblasst. Die Euphorie der ersten Jahre ist einer Ernüchterung gewichen. Nicht mit den Kollateralschäden einer Gemeinschaftswährung haben wir es zu tun, vielmehr zeigen sich die Konstruktionsmängel inzwischen sehr deutlich. Es ist also nach den Lehren zu fragen, die zu ziehen sind.

Erstens: Ist eine gemeinsame Währung für einen gemeinsamen Markt unerlässlich?

Es war plausibel und bedurfte keiner komplexen Analysen, obwohl solche vorgelegt wurden. Die einzelwirtschaftlichen Vorteile aus wegfallenden Transaktionskosten, die daraus entstehenden Investitionsanreize sowie die naheliegenden Effizienzgewinne, unterstützt durch ein geringeres Zinsniveau würden Einkommens-, Wachstums- und Beschäftigungszuwächse im gemeinsamen Währungsraum nach sich ziehen. Auf diese Weise könnte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den konkurrierenden Wirtschaftsräumen aufgeholt werden. Ernüchtert muss heute festgehalten werden, dass es zu einem Zugewinn an EU-Wettbewerbsfähigkeit nicht gekommen ist. Die resultierende Zinssatzkonvergenz auf niedrigem Niveau nach dem Start der Euro-Union hat – verbunden mit einer nicht glaubwürdigen no bail out-Klausel – zu Fehlinvestitionen, Vermögenspreisblasen, nicht tragfähigen Niveaus der Staatsverschuldung und den folgenden Korrekturen mit Bankenkrisen und realwirtschaftlichen Problemen geführt. Diese sowie die folgenden Konsolidierungsprogramme brachten und bringen in mehreren Volkswirtschaften große Belastungen der Bevölkerung mit sich. Griechenland ist nur ein Beispiel. So überzeugend „Ein gemeinsamer Markt braucht eine gemeinsamen Währung“ oberflächlich klingt, so dringend ist es nach den vorliegenden Erfahrungen geboten, auch nach den dafür erforderlichen Voraussetzungen und den damit verbundenen Konsequenzen zu fragen.

Zweitens: Ist der Euro ein unverzichtbares politisches Projekt?

Freilich war der Euro auch oder noch mehr ein politisches Projekt. Mit ihm sollte der Frieden in Europa ein für alle Mal gesichert werden. Doch ist er dazu tatsächlich in der Lage, ohne überfordert zu werden? Da ging es auch darum, die deutsche Wiedervereinigung zu ermöglichen. Manchen EU-Mitgliedern war es hingegen wichtig den disziplinierenden Druck der Deutschen Mark im EWS, dem Europäischen Währungssystem, loszuwerden, wozu die gemeinsame Währung ein willkommenes Vehikel war. Insgesamt trifft die Feststellung im Abschlussdokument der Deutschen Bundesregierung an den Bundestag vom März 1998 die Einschätzung der Politik wohl auch über die Auswahl der Teilnehmer hinaus sehr gut: „Der Eintritt in die Währungsunion hat beträchtliche ökonomische Konsequenzen, die bei der Entscheidung sorgfältig bedacht werden müssen. Die Auswahl der Teilnehmer bleibt letztlich jedoch eine politische Entscheidung.“ Die Dominanz politischer Entscheidungen hat sich in den folgenden Jahren fortgesetzt. Dies zeigte sich in der Akzeptanz der Verletzung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts durch Regierungschefs und europäische Gremien ebenso wie in der sehr großzügigen Auslegung ihres Auftrags durch die Europäische Zentralbank sowie in den meisten Verhandlungskompromissen im Zuge der Euro-Krise, auch im derzeit letzten. Ist der Euro als ein ausschließlich politisches Projekt zu interpretieren, wäre es hilfreich gewesen zu klären, welche ökonomischen Konsequenzen für die Mitgliedsstaaten zu akzeptieren sind. Kann damit jeder Preis gerechtfertigt werden?

Drittens: Lässt die gemeinsame Europa-Vision beliebige Interpretationen zu?

Auch wenn die gemeinsame Vision einer starken, integrierten und wettbewerbsfähigen Union seinerzeit den Aktivitäten der Verhandlungspartner zugrunde gelegen haben sollte, hat sich bald herausgestellt, dass der Weg dorthin unterschiedliche Interpretationen zuließ. Dies betraf die unterschiedlichen Sichtweisen von stärker realwirtschaftlich betroffenen Akteuren versus den Finanzmarktakteuren und ihren politischen Vertretern sowie Interessenvertretern. Dies kam in divergierenden Erwartungen über die Bindungskraft der vereinbarten Regeln sowie widersprüchlichen Anforderungen an die Europäische Zentralbank zum Ausdruck. Ebenso interpretationsfähig waren die Einschätzungen, von wem notwendige Anpassungen in der Union zu tragen seien. Bis zuletzt spiegeln sich diese widersprüchlichen Erwartungen in den geradezu erbitterten Forderungen einerseits nach Schuldenschnitten, Hilfsprogrammen großen Ausmaßes und gemeinsamen Anpassungen, andererseits nach „Austeritätsprogrammen“ unterschiedlichster Definition und der Akzeptanz formell akzeptierter und der Sanktionierung verletzter Regeln. Realismus ist angesagt: So lange jeder Partner von den Inhalten der eigenen Vision ausgehen kann und eine weitere Konkretisierung nicht erfolgt, sind Entscheidungen im Konsens möglich, sogar einstimmig, wie sich regelmäßig zeigt. Subsidiarität, Solidarität und Regeltreue sind im EU-Kontext Begriffe mit beliebigem Inhalt geworden. Gerade diese Unbestimmtheit ist zu einem der Treiber der europäischen Integration geworden.

Viertens: Verhindern Irreversibilität und der Verzicht auf Exits notwendige Lösungen?

Irreversibel – unauflösbar – sollte sie sein, die Euro-Union. Doch auch für einzelne Mitglieder ist ein Austritt nicht vorgesehen. Dies ist für die Euro-Union längst zum Problem geworden. Je länger daran festgehalten wird, umso schwerwiegender werden die Folgen. Die Diskussionen rund um den Grexit liefern die wesentlichen Argumente dafür. Ein Befreiungsschlag, der der Union und einzelnen Mitgliedern, die deren Regeln (noch) nicht ertragen können, eine Perspektive ermöglichen könnten, ist verbaut. Die Konsequenzen für die Union sind geradezu dramatisch. Alle disziplinierenden Regeln für Mitgliedsstaaten, die no bail out-Regel, die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, werden auf diese Weise unglaubwürdig. Ein schlagender Beweis dafür ist die unaufgeregte Reaktion der Finanzmärkte auf die aufgeregten politischen Aktivitäten der letzten Wochen. Der Druck widersprüchlichste Kompromisse einzugehen, nationale Parlamente dazu zu zwingen, sie zu legalisieren und folgende Generationen in verantwortungslose Belastungen zu zwingen, ist ein weiterer Aspekt. Konstruktions- und Entryfehler sollten korrigiert werden können.

Fünftens: Erzwingt die gemeinsame Währung tatsächlich Reformen?

Institutionelle Konvergenz und Strukturreformen in mehreren Mitgliedsstaaten wurden für eine funktionsfähige Währungsunion als notwendig erachtet, gerade weil die Heterogenität der Staaten hinsichtlich Anpassungsmechanismen und wirtschaftspolitischen Präferenzen von Beginn an ausgeprägt war. Manche Beitrittskandidaten wie die baltischen Staaten bereiteten sich im Vorfeld mit entsprechend harten Programmen darauf vor. Doch wurde von Beginn an stark darauf gesetzt, dass es unter dem Druck einer harten gemeinsamen Währung und den begleitenden fiskalen Regeln zu Reformen kommen, die institutionelle und strukturelle Anpassung quasi erzwungen würde. Entsprechend großzügig wurden die Aufnahme-Voraussetzungen gehandhabt, was vor allem beim Start der Euro-Union zum Tragen kam. Die Erwartung, dass der Euro voraussetzungslos in der Lage sein würde, verkrustete Arbeitsmärkte aufzubrechen, bürokratische Auswüchse zu beseitigen, überhöhte Staatsquoten zu reduzieren und die realwirtschaftliche Anpassungsfähigkeit zu sichern, hat sich als Illusion herausgestellt. Sie korrespondiert mit jener einer monetär bedingten Disziplinierung von Regierungen. Die in einer Währungsunion entstehenden Anreize für Regierung und Wähler erhöhen die Gefahr, dass erforderliche Strukturreformen unterbleiben. Es ist daher riskant, sich auf die disziplinierenden und integrierenden Kräfte der gemeinsamen Währungsordnung zu verlassen.

Sechstens: Verändert sich die Währungsunion im Zeitablauf zum Besseren?  

Die Konstruktionsmerkmale der Euro-Union sind eine wichtige Voraussetzung für ihre langfristigen Perspektiven. Doch sie verändern sich über die Jahre. Wie alle Organisationen durchlaufen Währungsunionen einen Entwicklungsprozess. Dies kann in der Interpretation und Anwendung ihrer Regeln ebenso geschehen wie in ihrer formellen Ausgestaltung. Letzteres geschah in der Euro-Union im Rahmen der Veränderung der Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts, in der Ergänzung des Regelwerks durch temporäre und permanente Transfermechanismen wie den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Informelle Anpassungen erfolgten hingegen in der mehrheitlichen Interpretation des Mandats und des Selbstverständnisses der Europäischen Zentralbank und wohl auch in einer Verschiebung der Aufteilung von Anpassungslasten hin zur Gemeinschaft. Nach einem erfolgreichen Start der Euro-Union kamen die bekannten Belastungsproben, die einen Anpassungsbedarf mit sich brachten. Von den beiden typischen Entwicklungsprozessen – einem Abbau oder einem Aufbau gemeinsamer Elemente – wurden zusätzliche integrierende Maßnahmen ergriffen, die auch den Charakter der Union verändert haben.

Siebtens: Benötigt eine Währungsunion eine Politische Union?

Trifft eine supranationalen Geldordnung wie sie die Euro-Union beinhaltet auf eine nationale politische Ordnung, in der Entscheidungs- und Verantwortungsstrukturen auf den eigenen Staat ausgerichtet sind, ist es für politische Entscheidungsträger rational, die Auswirkungen ihrer Handlungen auf die eigene Volkswirt- und Wählerschaft nicht zu vernachlässigen. Diese Zusammenhänge haben den Aufbau nicht tragfähiger Staatshaushalte in Unionsländern gefördert und sie behindern notwendige Strukturreformen und Haushaltskonsolidierungen, letztlich die Wiederherstellung der Funktionsfähigkeit der Euro-Union. Sie wirken in Unionsländern, die von den Partnern wirtschaftliche Unterstützung erhalten, ebenso wie in den Gläubigerstaaten. Die Geschichte der Euro-Union hat diesen Zusammenhang in jeder ihrer Entwicklungsphasen eindrucksvoll demonstriert. Gerade die Vorgänge rund um das Referendum in Griechenland, doch auch die noch sehr leise aufkommende Kritik in Deutschland an der Bundestags-Zustimmung zu weiteren Hilfsprogrammen sprechen eine beredte Sprache, die noch deutlicher werden könnte. Nur in Politischen Unionen verliert das national orientierte Kalkül an Bedeutung. Die formelle Abgabe dezentraler Souveränitätsrechte ist jedoch ein sehr starker Absicherungsmechanismus für die gemeinsame Währung. Soll die Währungsunion dauerhaften Bestand haben, müssen sich die Vertragspartner also allmählich damit auseinandersetzen, wie sie zu einer Politischen Union stehen, von der im Zuge der Sanierungs- und Rettungsmaßnahmen bereits einige Elemente umgesetzt wurden. Eine dezentral bleibende politische Verantwortung bei supranationalen Verpflichtungen beinhaltet die Festschreibung einer destabilisierenden Anreizstruktur für Staaten und Private. Bislang ist unbeantwortet geblieben, welche Substitute verfügbar sind, die eine Wiederholung der Entwicklungen der vergangenen Jahre vermeiden könnten.

Fazit

Die Entwicklung der Euro-Union von ihrer Entstehung bis heute hat wichtige Informationen geliefert, die freilich mit einer gewissen Ernüchterung verbunden sind und die es nicht zulassen, unbeschwert in die Zukunft zu blicken. So hat sich nicht nur gezeigt, dass ökonomische Gesetze ihren Weg finden, sich durchzusetzen, sondern ebenso, dass politische Projekte mit einem hohen Preis verbunden sein können und dass grundlegende Entscheidungen nicht beliebig in die Zukunft verschoben werden können.

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