Die Europäische Zentralbank (EZB) ist einst als ein ordnungspolitischer Anker erster Güte für den Euroraum aufgetreten: mit einer regelgebundenen Stabilitätspolitik (Zwei-Säulen-Strategie) und absoluter Unabhängigkeit gegenüber den Regierungen, auch gegenüber der ersten rot-grünen Bundesregierung (Lafontaine), die von ihr mit Nachdruck forderte, die Leitzinsen zwecks Konjunkturankurbelung deutlich zu senken. In den jüngsten Krisenjahren ist die EZB indes in eine andere, ordnungspolitisch bedenkliche Rolle geschlüpft: die des Ausputzers. Sie lässt sich von Regierungen mit persistenten Finanzierungsnöten für geldpolitische Hilfeleistungen vereinnahmen. Dies ist eine Neuauflage des Problems der „fiskalischen Dominanz der Geldpolitik“, wie es in den 1980er Jahren von Thomas Sargent (Ökonomie-Nobelpreis 2011) und Neil Wallace modelliert wurde. Die Begründer der Europäischen Währungsunion wollten so etwas gerade nicht und verboten der EZB ausdrücklich, monetäre Staatsfinanzierung (direkt oder indirekt) zu betreiben. Nach der im Maastricht-Vertrag festgesetzten Kompetenzverteilung liegt die Verantwortung für eine nachhaltige Finanzpolitik, sprich der Vermeidung überhöhter Staatsschulden, bei den jeweiligen  Regierungen der Euroländer, und nur bei diesen.
Abseits der Marktsignale
Bei der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2007-09 hatte die EZB schnell und unkonventionell als „Kreditgeber in der letzten Instanz“ handeln müssen, ohne auf ordnungspolitische Grundsätze achten zu können. Es mussten Bankpleiten soweit wie möglich verhindert und depressive Abwärtsspiralen in der Realwirtschaft aufgehalten werden.
Heute ist die Situation eine andere: Die EZB will dafür sorgen, dass für einzelne Euroländer die Risikoprämien auf Staatsanleihen nicht in die Höhe schießen, wenn an den Finanzmärkten Zweifel an der Solvenz des jeweiligen Staates aufkommen. Marktwidrige Zinsen zu generieren, ist ordnungspolitisch genauso heikel, wie die EZB-Politik in Sachen Notkredite (ELA): Der EZB-Rat hat monatelang erlaubt, dass die griechische Zentralbank das klamme nationale Bankensystem mit immer weiteren Milliarden an frischem Geld (aktuell gedeckelt bei etwa 90 Milliarden Euro), trotz einer massiven Kapitalflucht ins Ausland und einer außergewöhnlichen Bargeldhortung seitens verängstigter Bürger, über Wasser gehalten hat und dass im Nebeneffekt dem von der Zahlungsunfähigkeit bedrohten Staat neue Finanzierungsquellen ohne Gegenleistung eröffnet wurden. Ersteres kam einer modernen Form der Notenpresse gleich, das Zweite lief auf eine Insolvenzverschleppung hinaus – bis zu Bankenschließung und Kapitalverkehrskontrollen ab dem 29. Juni.
EZB-Präsident Mario Draghi hatte im Juli 2012, als die Finanzmärkte wegen der Euro-Staatsschuldenkrisen extrem angespannt waren, öffentlich angekündigt, „alles“ zu tun, um den Zusammenhalt des Euroraums zu sichern. Dass er hierfür ohne direkte demokratische Legitimation handelt, ist keine Petitesse. Auch nicht, dass der Europäische Gerichtshof, im Gegensatz zum Bundesverfassungsgericht, die damals dafür angekündigte Strategie (OMT- Programm) unlängst für rechtens erklärt hat. Nicht von ungefähr wird das Ganze jetzt von der EZB übertüncht mit zwei ökonomischen Zielen, die der Öffentlichkeit einfacher zu vermitteln sind: Zum einen heißt es, dass die noch verhaltene Aufwärtstendenz der Konjunktur nachfrageseitig verstärkt werden solle; zum anderen wird verlautet, dass es um eine feste Verankerung der künftigen Inflationserwartungen der Marktteilnehmer am offiziellen EZB-Stabilitätsziel („unter, aber nahe bei 2% auf mittlere Sicht“) gehe und damit um die Abwehr von (angeblichen) Deflationsgefahren. Gelingen soll das über den Bilanzkanal und den Wechselkurskanal: Indem die EZB den Banken Staatspapiere abkauft, auch solche geringer Qualität, haben diese einen größeren Spielraum für die Kreditvergabe an Private; und indem sie den Euro über die Zinssenkung unter Abwertungsdruck setzt, kommt es zu einer Stärkung der Exportnachfrage und zugleich einer Verteuerung der Importe (z.B. von Rohöl), die dann die Inflation im Euroraum treibt. Die EZB kann sich die Welt so zurechtlegen, erzwingen kann sie das Gewollte nicht.
Staatsanleihekäufe: ungewisse Erfolgsaussichten …
Im März hat der EZB-Rat ein gigantisches Wertpapierkaufprogramm (quantitative easing, QE) in Marsch gesetzt: mit einem monatlichen Kaufvolumen von 60 Milliarden Euro bis (vorerst) September 2016 (in kleinerem Umfang werden auch Pfandbriefe und Anleihen europäischer Institutionen erworben). Die EZB-Bankbilanz wird damit auf der Aktivseite um rund 1,14 Billionen Euro verlängert. Zwar kauft die EZB die Staatspapiere nur am Sekundärmarkt, um den Schein der Legalität zu wahren. Aber das ist eine Fiktion, weil eben gerade das Kaufprogramm dem Staat die Platzierung seiner Anleihen am Primärmarkt zu einer künstlich abgesenkten Rendite sichert. Wie auch nur scheinbar etwaige Verluste von der EZB ferngehalten werden: Zwar wurde zur Beruhigung deutscher Sorgen beschlossen, Verluste im Verhältnis 80:20 zwischen nationalen Notenbanken und EZB aufzuteilen; aber man muss schon recht naiv sein, um zu glauben, dass im Ernstfall etwas anderes geschehen würde, als alle Notenbanken des Eurosystems gemeinschaftlich mit ihrem jeweiligen Anteil am EZB-Kapital ins Obligo zu nehmen.
Die wissenschaftliche Forschung bietet (noch) wenige Erkenntnisse über die Wirkungen eines QE auf das Wirtschaftswachstum und die Inflationsrate. Die empirische Evidenz (USA, Vereinigtes Königreich, Japan) ist unklar. Wie es scheint, eignet sich das Instrument wohl eher, um einen exogenen Schock auf die Realwirtschaft (wie den der globalen Finanzkrise 2007-08) abzufedern, als  um eine bereits aufwärtsgerichtete Konjunktur (wie sie derzeit der Euroraum verzeichnet) zu beschleunigen. Dementsprechend liegen die Schätzungen über die Wachstums- und Inflationswirkungen im Vergleich zu den Basisprognosen im unteren Nachkommastellenbereich. Schießt die EZB etwa mit Kanonen auf Spatzen?
… aber absehbare Risiken
Die Befürworter des Anleihekaufprogramms der EZB räumen ein, dass die Wirkungen bescheiden sein könnten. Sie meinen aber, dass diese Politik keinen Schaden anrichte. Kann sie aber! Man bedenke nur die drei folgenden Punkte:
Erstens, die EZB kann den Euro-Wechselkurs nicht gezielt steuern und nach Belieben drücken. Nach einer Phase der Abwertung bis auf 1,04 US-Dollar (März) stieg der Kurs (bis auf 1,14 US-Dollar Mitte Juni), um dann wieder zu sinken (aktuell: 1,10 US-Dollar). Andere Notenbanken, allen voran die Federal Reserve, würden es nicht hinnehmen, dass sich wechselkursbedingt in ihrem Land die Exportnachfrage deutlich abschwächt und dies die heimische Produktion und Beschäftigung in Mitleidenschaft zieht. Einseitige Wechselkursbindungen an den Euro bringen die jeweiligen Notenbanken in Bedrängnis, wie bis Anfang des Jahres die schweizerische und gegenwärtig die dänische. Am Ende kann es zu einem Überschießen der Wechselkurse (Dornbusch) an den Devisenmärkten kommen, was den internationalen Handel und Kapitalverkehr beeinträchtigen würde.
Zweitens, die Lenkungsfunktion des Zinsmechanismus – das A und O für eine effiziente Kapitalallokation – wird ausgehebelt. Die EZB kann nicht verhindern, dass ein Großteil der aufgeblähten Liquidität, wie bereits zu beobachten ist, nicht in produktive Unternehmensinvestitionen und Firmenneugründungen fließt, weil u.a. wegen der anhaltenden Griechenlandkrise viel Unsicherheit herrscht, sondern an den Aktien- und Wohnimmobilienmärkten landet und früher oder später dort spekulative Blasen entstehen. Alles schon einmal dagewesen! Bei zu geringen Sachinvestitionen wird im Euroraum weder kurzfristig die Konjunktur zusätzlich anziehen, noch mittelfristig das Wachstumspotenzial erhöht, und Produktivitätsreserven bleiben ungenutzt. Was bleibt, ist eine hohe Volatilität der Vermögenspreise, die die Marktteilnehmer irritiert.
Drittens gibt es ein großes Moral-Hazard-Problem. Ein künstlich gedrückter Zins wird in Krisenländern das Ausgabenverhalten des Staates und der Privaten kaum disziplinieren können. Vielmehr bleibt allseits die Verschuldungsmentalität stark. Auf Pump leben kostet ja (fast) nichts! Radikale Populisten von links (Syriza, Podemos) und rechts (Front National) versprechen das Blaue vom Himmel und machen keinen Hehl daraus, dass sie sich um die bestehenden Euro-Regeln nicht scheren. Die Staatsfinanzen kommen nicht ins Lot. Die Leistungsbilanz bleibt übermäßig defizitär. Der Druck auf relative Lohn- und Preissenkungen im Inland (reale Abwertung), die notwendig sind, um die heimischen Unternehmen und Arbeitsplätze (wieder) international wettbewerbsfähig zu machen, wird aufgeweicht. Ein Krisenland wird dann dauerhaft von außen alimentiert werden müssen, was viel Zwietracht innerhalb der Währungsunion säen kann, wie derzeit zwischen Griechenland und dem Rest.
Fazit: Zurück zum Mandat
Über kurz oder lang wird die EZB mit ihrer aktivistischen Staatenrettungspolitik an Grenzen stoßen. Sie kann gar nicht Haushalts- und Strukturprobleme in einzelnen Ländern beheben. Eine nachhaltige Krisenlösung wird erst möglich sein, wenn alle Regierungen einsehen, dass sie ihre Eigenverantwortung in der nationalen Finanz- und Wirtschaftspolitik nicht abwälzen dürfen. Wer das versucht, beschädigt die Europäische Währungsunion.
Hinweis: Dieser Text ist zugleich als Ausgabe Nr. 07/2015 der Reihe Ordnungspolitischer Kommentar des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln und des Otto-Wolff-Instituts für Wirtschaftsordnung erschienen.
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