Mitte der 1970er Jahre beschrieb der deutsche Politikwissenschaftler Fritz W. Scharpf das Problem der Politikverflechtungsfalle in einem Föderalstaat. Er machte darauf aufmerksam, dass bei zunehmender Verflechtung der Entscheidungen über die Staatsebenen hinweg Blockadesituationen in Sachentscheidungen entstehen und institutionelle Änderungen kaum mehr möglich sind. Solche Verflechtungen ergeben sich durch Verbundaufgaben, Verbundfinanzierungen, gemeinsame Entscheidungsforen und andere Formen des kooperativen Föderalismus.
Wesentlich bei der Politikverflechtungsfalle ist, dass mit den institutionellen Verknüpfungen der Entscheidungsprozesse die politischen Akteure als potenzielle Vetospieler auftreten können. Damit ergibt sich nicht nur eine Blockade im konkreten politischen Entscheidungsfindungsprozess, sondern auch eine Barriere zur institutionellen Auflösung dieser Blockaden.
Gewichtige Nachteile der Politikverflechtungsfalle sind die Status-Quo-Orientierung, die ineffiziente Aufgabenerfüllung, die Intransparenz der Verantwortlichkeiten, die Verletzung der fiskalischen Äquivalenz und die Hemmung politischer Innovationsprozesse.
Auch wenn der Schweizer Föderalismus gelegentlich als ein Beispiel eines noch wenig verflochtenen Föderalismus gilt, haben sich über die Jahrzehnte ebenfalls Strukturen der Politikverflechtung ergeben, die man heute als Politikverflechtungsfalle bezeichnen könnte. Ein Beispiel ist das System der Ergänzungsleistungen.
I. Charakter der Ergänzungsleistungen EL
Ergänzungsleistungen (EL) sind Bedarfsergänzungen zur Altersrente (AHV) und Invalidenrente (IV), damit der in der Bundesverfassung garantierte Existenzbedarf gewährleistet werden kann. Sie kommen dort zum Tragen, wo die Renten und das Einkommen die minimalen Lebenskosten nicht decken. Der Bezug setzt dabei grundsätzlich eine Leistung der AHV/IV voraus und bedingt den Wohnsitz in der Schweiz. Zudem müssen die anerkannten Ausgaben das anrechenbare Einkommen übersteigen. Diese Differenz bestimmt dabei die Höhe der Ergänzungsleistungen. Der Betrag wird als jährliche Ergänzungsleistung bezeichnet, die monatlich ausbezahlt wird. Zudem werden Krankheits- und Behinderungskosten (z.B. Zahnarztkosten, Pflege und Betreuungskosten zuhause) durch die EL separat vergütet. Ferner sind Bezüger von Ergänzungsleistungen von einer Zahlung der Radio- und Fernsehgebühren (Billag) befreit.
Die Ergänzungsleistungen werden vollumfänglich mit öffentlichen Geldern des Bundes (zu 62,5 Prozent) und der Kantone (zu 37,5 Prozent) finanziert. Bei Personen, die im Heim leben, gilt jedoch eine Sonderregelung: Zur Berechnung des Bundesanteils werden nicht die effektiven Kosten herangezogen. Stattdessen wird ein fiktiver Betrag festgelegt, der zur Deckung des Existenzbedarfs beim Aufenthalt in einer Wohnung erforderlich wäre (Ausscheidungsrechnung). Der Bund trägt von diesem Betrag wiederum 62,5 Prozent, die Kantone den Rest. Für die Krankheits- und Behinderungskosten haben die Kantone zu 100 Prozent selbst aufzukommen.
Die langfristige finanzielle Sicherung der EL ist nicht nur eine Herausforderung für Bund, Kantone und Gemeinden, sondern auch für die Sozialpartner im Speziellen. Ein allgemein akzeptiertes und gezielt wirkendes EL-System kann neben der individuellen Existenzsicherung auch die beitragsfinanzierten Sozialversicherungsleistungen entlasten und damit einer weiteren Erhöhung der Lohnnebenkosten entgegenwirken. Dies hat positive Auswirkungen auf das Arbeitsangebot und die Beschäftigungslage, was wiederum die bedarfsorientierten Unterstützungsleistungen auf allen Staatsebenen entlastet. Die Sicherung der langfristigen Finanzierung des Systems der EL ist deshalb wichtig. Der Abbau von falschen Anreizen und die Umsetzung von Optimierungspotenzialen sind in diesem Zusammenhang von Bedeutung.
II. Entwicklung der EL
Die Ausgaben der EL stiegen über die letzten zehn Jahre (2003-2013) um rund 1,86 Milliarden auf über 4,5 Milliarden Franken, bei einer Wachstumsrate von etwa 5,5 Prozent pro Jahr. Das Wachstum der EL liegt damit weit über dem Wirtschaftswachstum und lässt sich infolgedessen nicht über die allgemeine Wohlstandssteigerung finanzieren. Aktuell beträgt die Zahl der EL-Bezüger rund 300 000 Personen. Dies ist ein Wachstum um 33 Prozent innert zehn Jahren und 68 Prozent gegenüber dem Jahr 1993. Gestützt auf eine Studie von 2013 rechnet der Bund bei unveränderten Rahmenbedingungen bis 2020 mit einem Kostenwachstum von einer weiteren Milliarde Franken.
III. Kostentreiber der EL in den vergangenen Jahren
Die Kostentreiber der EL in den vergangenen Jahren (Analyse der Jahre 2003-2012) können im Wesentlichen in drei Kategorien eingeteilt werden:
1. Demographie (EL zur AHV)
Der grösste Teil des Kostenanstiegs wird durch die demographische Entwicklung verursacht. Zwar blieb das Verhältnis von AHV-Bezügern ohne EL zu AHV-Bezügern mit EL gleich (12 Prozent), jedoch führten die (stark) zunehmende Anzahl der Neurentner und die gestiegene Lebenserwartung zu einer markanten Zunahme der AHV und EL-Bezüger. Ein Drittel des gesamten Kostenanstiegs ist auf die Demographie zurückzuführen.
2. EL zur IV
Seit 2003 hat sich die Zahl der Neurentner mehr als halbiert. So nahm ab diesem Zeitpunkt bis 2012 die Anzahl IV-Rentner in der Schweiz sogar um rund 1 000 auf 234 800 ab. Dennoch sind die Kosten für die EL zur IV stark weiter gestiegen, da gleichzeitig die Anzahl IV-Bezüger mit EL um 30 900 auf 110 179 und damit einhergehend die EL-Quote (Anteil IV-Rentner mit EL) von 26 auf 41,3 Prozent stieg. Der Grund liegt insbesondere beim tieferen Durchschnittsalter der IV-Rentner. Junge Rentner verfügen aufgrund der kurzen Erwerbstätigkeit nur über kleine Renten aus der beruflichen Vorsorge, da sie selber nur geringe Beiträge einbezahlt haben. Folglich kommen zu jeder solchen IV-Neurente praktisch zwingend auch Ergänzungsleistungen hinzu.
3. Gesetzesrevisionen
Die Neugestaltung des Finanzausgleichs und der Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen (NFA), die Neuordnung der Pflegefinanzierung und die Gesetzesrevisionen in der IV mit Auswirkungen auf das Bundesgesetz über Ergänzungsleistungen (ELG) verursachten einen Kostenanstieg von insgesamt 577,3 Millionen Franken. Dies entspricht einem Anteil von 38,5 Prozent am EL-Kostenanstieg zwischen 2003 und 2012. Die EL dienten in der Vergangenheit somit häufig als Auffangbecken für diverse Kostenauslagerungen, wobei andere Kostenträger (insbesondere die IV sowie die Sozialhilfe) in ähnlichem Ausmass entlastet wurden.
IV. Handlungsbedarf
Die Analyseergebnisse eines von uns für den Schweizerischen Arbeitgeberverband verfassten Gutachtens lassen sich wie folgt zusammenfassen: Das starke Ausgabenwachstum der EL in den letzten zehn Jahren ist durch eine Vielzahl von Faktoren zu erklären. Es lassen sich systembedingte Kostentreiber identifizieren, die direkt auf die Gesetzeslage im ELG oder durch Fehlanreize im System der EL zurückzuführen sind. Dabei geht es im Wesentlichen um die Erhöhung der Vermögensfreibeträge und die Aufhebung des EL-Höchstbetrags, welche im Rahmen der Neuordnung der Pflegefinanzierung respektive der NFA eingeführt wurden. Diese Änderungen sind zusammen für fast 30 Prozent der Ausgabensteigerung (zwischen 2003 und 2012) im EL-System verantwortlich. Ein weiteres Problem von erheblicher Bedeutung sind die Fehlanreize im System der EL zur AHV und IV. Insbesondere bei der IV halten die Fehlanreize die Betroffenen vom (Wieder-)Eintritt in den Arbeitsmarkt ab. Im Weiteren stellt sich auch eine Gerechtigkeitsfrage: Sollen Personen mit EL besser gestellt werden als jene, die sich in den Arbeitsprozess integrieren?
Besonders zu beachten ist hierbei der Fehlanreiz für IV-Rentner mit Kindern in der Kombination von IV und EL. Die Analyse der Studie zeigt, dass für die langfristige Steuerbarkeit des EL-Systems eine Entflechtung der Verbundaufgabe erfolgen muss. Bisher bezahlt der Bund für Entscheide, die auf kantonaler Ebene gefällt werden – und umgekehrt. Diese Konstellation ist äusserst ineffizient und erschwert die Lösungsfindung enorm. Auch leidet die Kostentransparenz erheblich darunter. Deshalb ist die Verbundaufgabe zu entflechten und sind die Aufgaben sowie die finanzielle Verantwortung dem Bund und/oder den Kantonen zuzuteilen.
V. Lösungsansätze
Der Bund erwartet bis ins Jahr 2020 einen weiteren Kostenanstieg von einer Milliarde Franken. Jener Drittel des Kostenanstiegs, der auf die Demographie zurückzuführen ist, ist kaum zu beeinflussen. Jedoch würde sich durch die Entflechtung der Verbundaufgabe und die klare Aufgabenzuordnung von Bund und Kantonen die Steuerbarkeit der Ergänzungsleistungen massiv verbessern. Der bevorstehende Kostenanstieg kann zudem durch die Behebung von Fehlanreizen sowie weiteren kleineren Systemanpassungen deutlich gemindert werden.
Verbesserung der Steuerbarkeit und Entflechtung
Eine Entflechtung der Verbundaufgabe zwischen Bund und Kantonen würde dazu beitragen, die Steuerung der Ergänzungsleistungen stark zu verbessern. Damit können kritische Entwicklungen innert kürzester Zeit lokalisiert und gestützt darauf geeignete Massnahmen beschlossen werden. Die Studie legt drei mögliche Ansätze dar:
1. Variante: Entflechtung „light“
Die moderateste Optimierungsmöglichkeit besteht darin, dass der Bund für die Existenzsicherung vollends die Verantwortung übernimmt und dementsprechend auch 100 Prozent der Finanzierung trägt. Die Kantone blieben aber weiterhin finanziell für die zusätzlichen Heim- und Gesundheitskosten verantwortlich. Allerdings – und deshalb die Bezeichnung Entflechtung „light“ – würde dies nur marginal zur Problemlösung beitragen. Weder würde dadurch die komplizierte Ausscheidungsrechnung für in Heimen lebende EL-Bezüger hinfällig, noch würden die bestehenden Verflechtungsproblematiken im Heim-, Pflege- und Gesundheitsbereich gelöst.
2. Variante: Bund
Einen (grossen) Schritt weiter geht die zweite Variante, die eine konsequente bzw. vollständige Entflechtung der Steuerung und Finanzierung vorsieht. Diese Variante sieht vor, dass die EL vollständig in den Aufgabenbereich des Bundes übergeben werden. Dabei leistet der Bund EL nur für die Existenzsicherung (analog Variante A: Entflechtung „light“). EL würden folglich auf die Existenzsicherung im engeren Sinn beschränkt. Zusätzliche Kosten für Heimaufenthalt und Pflege sowie die Vergütung von Krankheits- und Behinderungskosten fielen weiterhin in den Bereich der Kantone. Im Gegensatz zur heutigen Regelung bekämen die Kantone diesbezüglich aber umfangreiche Kompetenzen zur Hand. Vorgaben und Mindeststandards seitens des Bundes bezüglich Art und Höhe der zu vergütenden Kosten fielen weg. Die Kantone könnten zudem selbst entscheiden, wie sie die entsprechenden Leistungen vergüten. Vorstellbar wäre eine Abwicklung über die bestehenden Strukturen der Sozialhilfe. Mit der konsequenten Entflechtung würde dem Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz Rechnung getragen. Die Kantone erhielten die nötigen Steuerungsmöglichkeiten, die ihnen aufgrund der Finanzierungsverantwortung auch zustehen sollten. Kontrolle und Verantwortung würden klar definiert, intransparente Lastenverschiebungen fielen weg. Der Bund würde die Existenzsicherung definieren und finanzieren, die Kantone die Kosten darüber. Kosteneinsparungen kämen somit vollends derjenigen Staatsebene zugute, die für den entsprechenden Bereich verantwortlich ist.
3. Variante: Kanton
Anstelle einer Zentralisierung beim Bund wäre auch eine vollständige Entflechtung hin zu den Kantonen möglich. Eine solche Kantonalisierung sähe vor, dass sich der Bund ganz aus den EL zurückzieht und diese vollends in den Aufgabenbereich der Kantone übergibt. Eine kohärente und effiziente Trennung der Sozialversicherungen (Zuständigkeit Bund) von den Bedarfsleistungen (Zuständigkeit Kantone/Gemeinden) würde eine möglichst nahe Ansiedlung der Bedarfsleistungen bei den Bedürftigen ermöglichen. Sie erlaubte es den Kantonen, eine ganzheitliche, koordinierte und an den lokalen Bedürfnissen und Gegebenheiten angepasste Sozialpolitik zu verfolgen. Mit dieser dezentralen Kompetenz der EL besteht aus Sicht der Autoren das grösste Optimierungspotenzial. Über die Art, wie diese Entflechtung erfolgen soll, kann diskutiert werden. Letztlich ist aber die klare Zuordnung wichtig. Zentralisierung und Dezentralisierung haben beide ihre Vor- und Nachteile. Bei der Verbundlösung, wie sie heute besteht, vereinigen sich jedoch die Nachteile.
- Rentenreform 2020
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