Gastbeitrag
Auf dem Weg zur „Vollendung“ der Wirtschafts- und Währungsunion?

Die grotesken Bemühungen um eine (Schein-)Lösung der Griechenland-Krise haben die Diskussion um Reformen in der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) in den letzten Monaten neu beflügelt. Die Folgerungen gehen allerdings –  wie schon früher – in unterschiedliche Richtungen. Einerseits wird beklagt, dass fundamentale Regeln der WWU  sträflich missachtet würden und eine Rückkehr zu dem „Konsens von Maastricht“ unbedingt notwendig sei. Andererseits wurde die gegenteilige Konsequenz gefordert, dass nämlich das Regelwerk selbst einer dringenden Überarbeitung und Ergänzung bedürfe sowie energische Schritte zu einer ‚echten‘ Politischen Union notwendig seien – mit einer weiteren Zentralisierung finanzpolitischer Entscheidungen bis hin zu einer Vergemeinschaftung von Schulden und Übertragung von Fiskalkompetenzen auf die EU.

In jüngster Zeit ist diese Debatte durch verschiedene Beiträge zusätzlich angeheizt worden. Erhebliches Aufsehen hat zunächst der sogenannte „Fünf-Präsidenten-Bericht“ vom 22.06.2015 erlangt, in dem der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, gemeinsam mit  vier anderen Spitzenrepräsentanten der EU Vorschläge für eine „Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion“ vorgelegt hat; dieser Bericht (Juncker u.a., 2015) empfiehlt weitreichende Schritte zu einer fortschreitenden Zentralisierung von Entscheidungskompetenzen auf der EU-Ebene. In eine ähnliche Richtung gehen die jüngst wiederholten Forderungen des französischen Präsidenten Francois Hollande, eine ‚echte‘ Wirtschaftsregierung in der Euro-Zone zu etablieren. Der deutsche Finanzminister Schäuble lässt zwar auf der einen Seite eine überraschende Sympathie für einen Eurofinanzminister und sogar für eine Eurosteuer erkennen; auf der anderen Seite hat er aber eine teilweise Entmachtung der Europäischen Kommission ins Gespräch gebracht, da diese in der Griechenland-Krise ihre Befugnisse überschritten habe und ihre Funktion als „Hüterin der Verträge“ mit ihren immer stärkeren politischen Aktivitäten nicht vereinbar sei. Überaus kritisch hat sich schließlich der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung in seinem jüngsten Sondergutachten zu den Ideen einer Ausweitung der fiskalischen Befugnisse der EU-Ebene geäußert. Solche Ideen für neue EU-Kompetenzen, wie sie derzeit in Brüssel kursieren, betreffen u.a. die angebliche Notwendigkeit eines europäischen Finanzministers, eine europäische Arbeitslosenversicherung sowie schließlich die immer wiederkehrende These, die EU brauche eine eigene Steuerkompetenz.

„Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden“

Unter dem ambitionierten Titel „Die Wirtschafts- und Währungsunion vollenden“ hat der Präsident der Kommission, Jean-Claude-Juncker, am 22.06.2015 einen Bericht zur engeren Zusammenarbeit der Euro-Staaten und zur Stärkung der Gemeinschaftswährung präsentiert; Grundlage dafür war ein Beschluss der Euro-Gruppe im Oktober 2014. Dieser nun vorgelegte „Fünf-Präsidenten-Bericht“ wurde in der Presse so kommentiert, als handele es sich um  gemeinsame und einvernehmliche Vorschläge von Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker sowie von EU-Ratspräsident Donald Tusk, Eurogruppen-Chef Jeroen Dijsselbloem, EZB-Präsident Mario Draghi und EU-Parlamentspräsident Martin Schulz. Tatsächlich ist der Bericht allerdings von Kommissionspräsident Juncker „vorgelegt“ worden, wenngleich – wie es auf dem Titelblatt heißt – „in enger Zusammenarbeit“ mit den genannten anderen vier EU-Akteuren. Die Vermutung dürfte daher naheliegen, dass es sich primär um Wunschvorstellungen der Europäischen Kommission handelt, die die anderen vier Präsidenten mehr oder minder teilen. In der Tat enthält der Bericht mehrere Forderungen, die insbesondere die Europäische Kommission bereits seit Langem vertreten hat. Ihre Realisierung würde auf eine Kompetenzzentralisierung auf der europäischen Ebene hinauslaufen und vor aller die Machtposition der Kommission stärken.

Im Einzelnen plädiert der Bericht für Fortschritte „an vier Fronten“: Erstens müsse man sich in Richtung einer „echten Wirtschaftsunion“ bewegen. Zweitens seien weitere Schritte zu einer „Finanzunion“ notwendig, die die Integrität des Euro gewährleiste und die Risikoteilung im privaten Sektor erhöhe; dazu gehörten konkret die Vollendung der Bankenunion und ein gemeinsames europäisches Einlagensicherungssystem. Drittens werden weitere Fortschritte zu einer „Fiskalunion“ gefordert, die sowohl haushaltspolitische Nachhaltigkeit als auch die Stabilisierung der öffentlichen Haushalte bewirke. Vor allem aber solle die EU über eigene finanzielle Möglichkeiten verfügen, eine aktive Wirtschaftspolitik zu betreiben. Viertens soll langfristig die „Politische Union“ vorangetrieben werden – mit „wahrer politischer Rechenschaftspflicht, Legitimität und einer Stärkung der Institutionen (als) Grundlagen für die drei anderen Unionen“.

Offene Fragen und Reaktionen

Das alles soll in drei Stufen erreicht werden. In der ersten Phase („Vertiefung durch Handeln“) sollen die bestehenden EU-Verträge bis zum 30.06.2017 „bestmöglich genutzt werden“. Das beinhalte, die Wettbewerbsfähigkeit und die strukturelle Konvergenz zu fördern, die  Finanzunion zu vollenden, eine „verantwortungsvolle“ Haushaltspolitik zu verwirklichen und die politische Rechenschaftspflicht zu stärken. In einer zweiten Stufe (Vollendung der WWU“) sollen dann „konkrete, weitreichende Maßnahmen“ vereinbart werden, wozu u.a. eine stärkere Koordinierung bzw. Zentralisierung der Wirtschaftspolitik sowie die Schaffung entsprechender Institutionen, u.a. eines „euroraumweiten Schatzamtes (Treasury)“  mit eigenem Budget, gehöre. Außerdem sei dann eine „Funktion zur Stabilisierung des Euro-Währungsgebietes“ notwendig. Unklar bleibt, wie lange die zweite Phase dauern soll. Es heißt lediglich, dass die Endphase „bis spätestens 2025“ erreicht werden soll. Dann sei die Währungsunion in allen genannten Schritten verwirklicht und „ein Hort der Stabilität und des Wohlstands für alle Bürgerinnen und Bürger der EU-Mitgliedsstaaten, die eine gemeinsame Währung miteinander teilen.“

Naheliegenderweise sind die Reaktionen auf den „Fünf-Präsidenten-Bericht“ sehr unterschiedlich ausgefallen. So wurde kritisiert, dass  viele Absichten sehr wolkig formuliert sind und eher das Wunschdenken der Kommission als realistische Reformoptionen widerspiegeln. Auch Bundeskanzlerin Merkel und Präsident Holland hatten erst kürzlich vereinbart, eine ernsthafte Debatte über die Vertiefung der Währungsunion erst nach 2017 zu führen (in diesem Jahr wird in Frankreich gewählt). Zudem drückt sich der Bericht um die Kernfrage herum, ob eine Revision der Europäischen Verträge notwendig ist. In dieser Hinsicht sind sich die fünf Autoren offensichtlich nicht einig, weil EU-Ratspräsident Tusk und Eurogruppen-Chef Dijsselblom Vertragsänderungen skeptisch sehen, während vor allem Kommissionspräsident Juncker und EP-Präsident Schulz prinzipiell dafür sind. Denn klar ist: Eine solche Währungsunion bedeutet sicher mehr Macht für die Euro-Institutionen und weniger Souveränität für die einzelnen Mitgliedstaaten – was diesen wohl kaum gefallen dürfte. Auf Seiten der Staats- und Regierungschefs scheint man den „Fünf-Präsidenten-Bericht“ allerdings ohnehin nicht sonderlich ernst zu nehmen.  So heißt es im Schlusskommuniqué des EU-Gipfels von Ende Juni, man habe den – unmittelbar davor präsentierten – Reformbericht „zur Kenntnis genommen“ und fordere den Ministerrat auf, diesen „umgehend zu prüfen“; viel deutlicher lässt sich in der Tat Desinteresse in der Diplomatensprache kaum verklausulieren (Mussler, 2015b).

Machtpolitische Ziele

Dabei enthält der Bericht durchaus politischen Sprengstoff. So sollen sich etwa neue Wettbewerbsgremien die Wettbewerbspolitiken genauer anschauen. Was zunächst eher bürokratisch klingt, kann aber weitreichende Folgen haben. So heißt es im Bericht, dass „die Stellungnahmen dieser Einrichtungen … bei Tarifverhandlungen als Richtschnur zugrunde liegen“ sollten. Im Klartext heißt das, dass die „Wettbewerbsstellen“ – in welcher Weise auch immer – Einfluss auf nationale Lohnniveaus nehmen könnten – für Arbeitgeber und Gewerkschaften mit garantierter Tarifautonomie „sicher gewöhnungsbedürftig“ (Zeit Online, 2015). Und die im Bericht enthaltenen Forderungen nach mehr wirtschaftspolitischer Zentralisierung und mehr gemeinschaftlicher Haftung laufen dem Grundprinzip der einzelstaatlichen Verantwortung für eine stabilitätsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik und dem Leitgedanken der „Einheit von Haftung und Kontrolle“ zuwider, wie der Sachverständigenrat gerade wieder in seinem jüngsten Sondergutachten in dankenswerter Klarheit hervorgehoben hat (Sachverständigenrat, 2015). Statt immer neuer kurzfristiger „Rettungsmaßnahmen“ wäre eine Rückbesinnung auf die zentrale Rolle des No-Bail-Out-Prinzips zwingend erforderlich. Eine „Fiskalkapazität, wie sie die Europäische Kommission fordert, ist dagegen „weder notwendig noch zielführend“ (Sachverständigenrat, 2015, S. 35). Ähnliches gilt für den im Verlauf der Griechenland-Krise mehrfach diskutierten Vorschlag einer europäischen Arbeitslosenversicherung. Diese könnte zwar im Prinzip als automatischer Stabilisator helfen, länderspezifische Schocks in den Mitgliedstaaten des Euro-Raums auszugleichen. Sie würde aber voraussichtlich nicht nur auf permanente Umverteilungseffekte zwischen beschäftigungspolitisch erfolgreichen und erfolglosen Mitgliedstaaten hinauslaufen, sondern vor allem unerwünschte Anreizprobleme mit sich bringen (ebenda, S. 37).

Insgesamt passt sich der „Fünf-Präsidenten-Bericht“ unübersehbar in das traditionelle Streben der Kommission und des EP nach Kompetenzerweiterung ein. In der Tat scheint es, dass der eigentliche Zweck des Berichts ein machtpolitischer ist: Die Autoren, vor allem Kommissionspräsident Juncker und Parlamentspräsident Schulz, „versuchen vorsorglich, an möglichst vielen Stellen des Euro-Machtgefüges einen Fuß in die Tür zu bekommen“ (Mussler, 2015a).

Zudem bleibt die Ambivalenz der Ziele unübersehbar, die mit der Vollendung der WWU verbunden werden: So soll die WWU, wie der Bericht selbst betont, kein Selbstzweck sein, sondern ein Instrument für mehr Wohlstand und Chancengerechtigkeit. Auf der anderen Seite sei der Euro mehr als eine Währung, nämlich ein wirtschaftliches und politisches Projekt. Wie das alles zusammen gehen soll, soll wohl bewusst im Dunkeln bleiben. Auch die wohlklingenden Beteuerungen, dass künftig die Regeln für eine stabile Haushaltspolitik ernsthaft und strikt beachtet werden sollen, darf man beim Blick auf die jüngsten Erfahrungen mit dem Fall Griechenland eher als Placebo einstufen.

Eine eigene Steuer für die EU?

Einer weiteren Übertragung von weiteren finanzpolitischen Befugnissen auf die EU sollte man jedenfalls höchste Skepsis entgegenbringen. Das gilt insbesondere auch für alle Bestrebungen nach einer EU-Steuer. Entsprechende Forderungen gehören seit Langem zu den Lieblingskindern vor allem der Europäischen Kommission, aber auch des Europäischen Parlaments. Andeutungen in dieser Beziehung finden sich – nicht gerade überraschend  – nun auch im Fünf-Präsidenten-Bericht. Sogar die Bundeskanzlerin wie auch der Bundesfinanzminister, die früher stets gegen eine EU-Steuer opponiert hatten, scheinen sich damit inzwischen in gewisser Weise angefreundet zu haben; so sollte nach einem Merkel-Plan von 2012 die Kommission mit eigenen Mitteln ausgestattet werden, um reformbereite Eurostaaten für ‚gute‘ Wirtschaftspolitik  zu belohnen. Diese Idee wird allerdings, so die Einschätzung eines Kenners der Brüsseler Szene (vgl. Mussler, 2015b), mittlerweile nicht mehr weiterverfolgt. Aus ökonomischer und vor allem aus politökonomischer Sicht wäre das nur zu begrüßen. Die für eine EU-Steuer regelmäßig vorgebrachten Argumente (bessere Verwirklichung der „fiskalischen Äquivalenz“, Verminderung unerwünschter Effekte eines zwischenstaatlichen Steuerwettbewerbs, möglicher Einsatz einer EU-Steuer zu allokations-, distributions- oder stabilisierungspolitischen Zwecken, Entschärfung der Diskussion um die „Nettopositionen“, mehr Transparenz der Kosten der EU für die Bürger) können im Kern sämtlich nicht überzeugen. (vgl. Caesar, 2011). Gegen eine EU-Steuer sprechen aber vor allem gewichtige Argumente der Neuen Politischen Ökonomie: Ein eigenes Besteuerungsrecht der EU würde den verantwortlichen EU-Akteuren zusätzliche Einnahmenspielräume verschaffen und damit auf eine entscheidende Lockerung der sog. „Budgetrestriktion“ hinauslaufen; dadurch würde sich – trotz aller wohlklingenden Beteuerungen, dass die Einführung einer EU-Steuer „natürlich“ aufkommensbeutral geschehen müsse – die Belastung für den europäischen Steuerzahler voraussichtlich erhöhen (ähnlich Boss, 2010).  Aus dieser Perspektive scheint es nach wie vor geboten, allen Plänen für eine EU-Steuerkompetenz zu wehren und das herkömmlich System einer De-facto-Beitragsfinanzierung der EU beizubehalten.

Quellenhinweise:

Boss, Alfred (2009): Brauchen wir eine Europa-Steuer?, in: Wirtschaftliche Freiheit, 27.11.2010 (http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=2089).

Caesar, Rolf (2010): Eine eigene Steuer für die EU? Nein, danke!, in: Wirtschaftliche Freiheit, 31.01.2011, (http://wirtschaftlichefreiheit.de/wordpress/?p=5253).

Juncker u.a. (2015): Die Wirtschafts- und Währungsunion Europas vollenden, Bericht vorgelegt von Jean-Claude Juncker in enger Zusammenarbeit mit Donald Tusk, Jeroen Dijsselbloem, Mario Draghi und Martin Schulz, Brüssel, 22.06.2015.

Mussler, Werner (2015a): Brüsseler Papiere, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2015.

Mussler, Werner (2015b): Neue alte Ideen zur Reform des Euroraums, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.07.15.

Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2015): Konsequenzen aus der Griechenland-Krise für einen stabilen Euroraum, Sondergutachten, Juli 2015.

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