Das Thema „Rechtsgemeinschaft“[1] impliziert, dass sich ein Ökonom dazu eigentlich nicht äußern dürfte. Allerdings sind seit Gründung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) – auf diesen Zeitraum soll sich dieser Kommentar beschränken – eine Vielzahl von finanz- und geldpolitischen Maßnahmen ergriffen worden, die zumindest als Überdehnungstatbestände eingestuft werden können und zu denen auch der „Überdehnungstatbestand Rechtsstaatlichkeit“ zählt (H.-J. Haß, Die große Überdehnung – Eine etwas altmodische Sicht auf die Finanzkrise, in: Orientierungen zur Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Nr. 3/2013, S. 53 ff.). Insofern erscheint es nicht übertrieben, die Geschichte der Europäischen Währungsunion pointiert als eine Kette von möglichen Rechtsbeugungen oder zumindest rechtlich fragwürdigen Ereignissen zu betrachten und zu prüfen. Dabei mag sich der Ökonom damit trösten, dass nicht nur in seiner Wissenschaftsdisziplin, sondern auch in der Jurisprudenz durchaus unterschiedliche Auffassungen existieren, inwieweit die Finanz- und Geldpolitik in der EU seit 1999 eindeutig gegen geltendes Recht verstoßen hat oder sich möglicherweise nur am ,Rande der Legalität“˜ bewegt hat. Zumindest scheint es aber, dass die im Folgenden genannten Maßnahmen eine Reihe grundlegender Überzeugungen verletzt haben (bzw. noch verletzen), die bei der Gründung der WWU im Konsens vereinbart wurden und die gerne als der „Geist des Vertrags von Maastricht“ apostrophiert werden. Die damit verbundenen Probleme betreffen primär die Ebene der Finanzpolitik, darüber hinaus aber in den letzten Jahren auch die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank.
(1) Bereits bei der Bestimmung des Teilnehmerkreises der 1999 ins Leben gerufenen Währungsunion wurden die seinerzeit als unumstößlich gefeierten „Konvergenzkriterien“ in vielen Fällen missachtet – beziehungsweise in euphemistischer Formulierung: „weit ausgelegt“ (R. Caesar/W. Kösters, Europäische Wirtschafts- und Währungsunion – Europäische Verfassung versus Maastrichter Vertrag, in: Integration, 27. Jg., 2004, S. 288 ff.). Das galt vor allem für das Kriterium des maximalen Schuldenstandes (von 60 % des BIP), das zahlreiche Länder nicht erfüllten, die aber dennoch in die WWU aufgenommen wurden. Auch das als vorrangig betrachtete Defizitkriterium (Haushaltsdefizit von maximal 3 % des BIP) wurde teilweise nur mit Manipulationen erreicht. Besonders gravierend war dann der Fall Griechenlands, dass sich den Zugang zur WWU 2001 nur mit massiv gefälschten Zahlen ,erwarb“˜ – wobei diese Fälschungen den politischen Akteuren auch in den EU-Institutionen und in Deutschland seinerzeit durchaus bewusst waren!
(2) Einen zusätzlichen Schutz gegen eine die Währungsunion gefährdende nationale Finanzpolitik sollte dann der „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ (SWP) von 1997 gewährleisten. Tatsächlich aber sind die Bestimmungen des SWP niemals konsequent angewendet worden. So sind die eigentlich vorgesehenen Sanktionen bei Verletzung der Defizitgrenze kein einziges Mal bis zur ,Schmerzgrenze“˜ finanzieller Sanktionen ergriffen worden, und das Schuldenstandskriterium wurde de facto völlig ignoriert. Zudem wurde der SWP durch eine „Reform“ im Jahr 2005 zusätzlich aufgeweicht. Auch das vertragswidrige ,Anhalten“˜ des Sanktionsprozesses durch Deutschland und Frankreich 2002/2003 hatte keinerlei Konsequenzen – nicht einmal die nachträgliche Verurteilung durch den EUGH. Seither ist der SWP fortgesetzt von zahlreichen Mitgliedsländern (und zwar gerade auch von den großen Staaten) gebrochen worden. Insbesondere seit der Finanz- und Wirtschaftskrise von 2009 hat der SWP in der Tat jegliche „Glaubwürdigkeit verloren“ (O. Issing, Wohin steuert die Währungsunion?, in: FAZ v. 05.07.2013, S. 12).
(3) Die „Rettungspolitik“ zugunsten überschuldeter Mitgliedsländer der Währungsunion (Griechenland, Portugal, Irland) seit 2010 hat zu immer neuen instrumentellen Lösungsversuchen geführt (ESFS, ESM), durch die „ein zentraler Pfeiler, nämlich der Ausschluss der Haftung der Staaten untereinander (das No-bail-out-Prinzip) … aus dem Vertragswerk herausgebrochen wurde“ (O. Issing, a.a.O.). Unabhängig davon, ob dies auch de jure als Verstoß gegen Art. 125 AEUV eingestuft werden könnte (diesbezüglich herrscht keine Einigkeit unter den Experten) ist damit de facto ein entscheidendes Grundprinzip der WWU, nämlich der finanzpolitischen Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten, aufgegeben worden. Die Schwelle zu einer „Transferunion“ ist damit aus ökonomischer Sicht bereits klar überschritten. Noch weiter gehen die wiederkehrenden Forderungen nach „Eurobonds“, die auf eine offizielle Vergemeinschaftung der Staatsschulden der WWU-Länder zielen, wodurch ein „Moral-Hazard-Verhalten“ zu einer forcierten Ausweitung der Staatsverschuldung weiter begünstigt würde.
(4) Schließlich wird unter Ökonomen und Politikern heftig diskutiert, ob nicht auch die EZB mit ihrer extrem laxen Geldpolitik seit 2011 nicht doch Maßnahmen ergriffen hat, die als Verstoß gegen das EZB-Statut und Art. 123 AEUV zu bewerten sind. Dies wird nicht nur mehrheitlich von Ökonomen so gesehen, sondern teilweise auch von Juristen bejaht (vgl. R. Schmidt, Wettbewerbsverfälschung als Handlungsmaxime, in: FAZ v. 18.10.13). Im Besonderen gilt das für von EZB-Päsident angekündigte Programm zum (notfalls unbegrenzten) Ankauf von Staatsanleihen der hochverschuldeten Krisenländer durch EZB-Präsident Draghi („whatever it takes“). In seiner kürzlichen Erklärung zu dieser Frage hat das Bundesverfassungsgericht die bemerkenswerte Feststellung getroffen, dass das OMT-Programm nach seiner Meinung mit dem Primärrecht der EU unvereinbar sei. Das Gericht hat die Frage zwar zur endgültigen Klärung an den EuGH weitergeleitet hat (der nach früheren Erfahrungen wohl eher „gemeinschaftsfreundlich“ entscheiden wird). Aus ökonomischer Sicht wäre mit dem gezielten Erwerb von Schuldtiteln hochverschuldeter Problemländer durch die EZB (selbst wenn er über den Sekundärmarkt erfolgen würde) aber eindeutig der Fall eine monetäre Staatsfinanzierung gegeben, die durch den Maastrichter Vertrag aus guten Gründen verboten worden ist (vgl. dazu aktuell: Ökonomenaufruf gegen EZB-Anleihekäufe, FAZ v. 12.09.13, S. 13).
Angesichts dieser Bilanz von Rechtsverstößen oder zumindest Rechtsdehnungen seit Gründung der WWU fällt es nicht leicht, ohne Einschränkungen von einer weiterhin bestehenden „Rechtsgemeinschaft“ in der EU zu sprechen. Unstrittig ist aber die „Gemeinschaft des Rechts“ eine der fundamentalen Säulen der europäischen Integration. Umso wichtiger erscheint es deshalb, nochmals die aus ökonomischer Sicht zentralen Punkte hervorzuheben, auf die sich die EU zurückbesinnen sollte:
– Der Stabilitätspakt, der derzeit nur ein „Papiertiger“, ist, müsste ernsthaft respektiert werden. Länder, die gegen die im SWP fixierten Grenzen verstoßen, müssten daher auch mit den im SWP vorgesehenen Sanktionen rechnen. Das gilt nicht nur für das Defizitkriterium, sondern auch für das Kriterium des Schuldenstandes – und zwar prinzipiell unabhängig davon, ob die numerischen Werte für die beiden Kriterien eine ökonomische Sinnhaftigkeit besitzen. Nach den bisherigen Erfahrungen mit der tatsächlichen Handhabung und politischen Wirkungslosigkeit des SWP besteht allerdings wenig Aussicht, dass es zu einer dauerhaften Änderung der Verhaltensweise der politischen Akteure kommt.
– Die Eigenverantwortung der Mitgliedsländer für eine solide Haushaltspolitik und das No-bail-out-Prinzip müssen wieder strikt beachtet werden. Dazu gehört auch, dass sich überschuldete Länder nicht unbegrenzt auf finanzielle Hilfsmechanismen der EU verlassen können, die ein Moral-Hazard-Verhalten im Bereich der Staatsverschuldung zwangsläufig provozieren. Den Bestrebungen zu einer Vergemeinschaftung von Staatsschulden in der EU sollte deshalb ebenso energisch entgegen gewirkt werden wie möglichen Vorstößen zu einem weiteren Ausbau finanzwirtschaftlicher „Rettungsinstrumente (z.B. einer Aufstockung des ESM). Die im „Fiskalpakt“ von 2012 geforderte Einführung verbindlicher „Schuldenbremsen“ nach deutschem Vorbild müsste tatsächlich umgesetzt werden (wobei der Verfasser freilich seine Skepsis hinsichtlich der politischen Realisierungschancen erneut nicht verhehlen kann).
– Für überschuldete Mitgliedsländer ist eine Insolvenzordnung für eine geregelte Staatsinsolvenz zu schaffen. Dadurch würde verhindert, dass diese Staaten – wie in den letzten Jahren wiederholt geschehen – die übrigen EU-Länder mit der Drohung einer ungeregelten Staatspleite zu erpressen versuchen (vgl. dazu aktuell die provozierenden Äußerungen des griechischen Außenministers Evangelos Venizelos, in: Unsere Erfolge sind beeindruckend, Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, Nr. 1 v. 05.01.2014, S. 2).
– Die EBZ muss ihre exzessiven (und möglicherweise rechtswidrigen?) gezielten Ankäufe der Anleihen von Krisenländern beenden. Das OMT-Programm sollte nicht angewendet werden. Die EZB sollte sich auf ihre zentrale Verantwortung für die Stabilisierung des Geldwertes konzentrieren und vermeiden, durch die Vermischung ihrer Geldpolitik mit finanzpolitischen Zielen ihre Unabhängigkeit zu gefährden.
– Schließlich sollte nach Meinung des Verfassers für ,Krisenländer“˜ eine Möglichkeit geschaffen werden, dass WWU-Länder auf eigenen Wunsch (temporär) aus dem Währungsverbund ausscheiden könnten. Dies würde ihnen die Möglichkeit eröffnen, durch eine formelle Abwertung ihre Wettbewerbsfähigkeit wiederzugewinnen. Diese Lösung wäre zwar sicherlich mit nicht unerheblichen Risiken und Kosten verbunden; diesen sind allerdings die Kosten gegenüberzustellen, die den Krisenländern selbst durch eine ansonsten unvermeidliche interne Abwertung (durch eine über viele Jahre durchzuhaltende Austeritätspolitik) entstehen, sowie darüber hinaus die Kosten immer wiederkehrender Hilfsmaßnahmen – und weiterer politischer Zerwürfnisse – für die gesamte WWU.
[1] Statement bei einer Konferenz „Sechs Dekaden europäischer Integration“ des Europa-Kollegs Hamburg
Würde ein vorübergehender Austritt denn funktionieren? Gäbe es nicht massive Kapitalbewegungen aus dem abwertungsverdächtigen Land und Flucht ins Bargeld?
They never come back. Es widerspricht jeder historischen Erfahrung, dass die die EU zum status quo ante zurückkehrt. Die Entwicklung läuft in die andere Richtung und sie wird gegangen bis zum bitteren Ende.
Ich hätte da noch eine Anmerkung zur Lehre an sich zu machen. Wenn man sich das Curriculum der Wirtschaftswissenschaften einmal näher ansieht und die klare Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroökonomie stattfindet, muss man sich auch hier fragen wie dies miteinander zu vereinbaren ist. Auf der einen Seite wird in der Mikroökonomie mit seiner zu Recht privatwirtschaftlichen und rechtsstaatlichen Sichtweise auf die Trennung zwischen Gläubiger und Schuldner eindringlich verwiesen und auf der anderen Seite mit dem gleichen Gewicht dies durch makroprudenzielle Steuerung und dem Augenmerk des Ausgleichs der Kreislaufanalyse in der Makroökonomie eindeutig revidiert. Wie kann man da von einer homogenen und eindeutig schlüssigen Lehre sprechen ? Das verbittert einen schon sehr. Also was will die Wirtschaftswissenschaft ? Entweder das eine oder das andere; ein zweigeteilter Weg gleicht einem zweigeteiltem Geiste.
Zur EU kann man nichts mehr sagen. Sie weiss wie die Wirtschaftswissenschaft nicht mehr was sie will.