Die griechische Krankheit
Wettbewerb ist die beste Medizin

“Grant me chastity and continence, but not yet.“ (St. Augustinus von Hippo Regius)

Ein extrem hoher staatlicher Schuldenstand und ein anhaltend schwaches wirtschaftliches Wachstum sind Symptome für ökonomische Fehlentwicklungen. Sie deuten darauf hin, dass ein Land über seine Verhältnisse lebt. Das ist auch in Griechenland so. Die fiskalischen und monetären Rettungspakete der Troika haben nicht geholfen. Sie haben nur an Symptomen kuriert. Der Patient wurde narkotisiert, das Problem wurde nicht gelöst, ganz im Gegenteil. Es hat sich weiter verschärft. Das war keine Hilfe zur Selbsthilfe. Helfen kann nur ein anderer ökonomischer Lebenswandel. Auch ein großer Schuldenschnitt ist keine Lösung, wenn der alte Schlendrian weiter geht. Wirtschaftlich kommt Griechenland nur wieder auf die Beine, wenn es ökonomisch wächst. Ohne Konsumverzicht heute ist das nicht möglich. Das schließt aus, weiter über die wirtschaftlichen Verhältnisse zu leben. Und es reicht trotzdem nicht. Dazu kommen muss ein intensiverer Wettbewerb auf Güter- und Faktormärkten. Die Verhandlungen der Quadriga mit Griechenland sollten sich vor allem darauf konzentrieren, die sklerotisierten griechischen Güter- und Faktormärkte zu öffnen. Marktwirtschaftliche Strukturreformen sind das „A und O“. Es ist schwer vorstellbar, dass sich die sozialistische Regierung Tsipras darauf wirklich einlassen wird.

Griechische Wachstumsschwäche

Der große Kieler Ökonom Herbert Giersch hat vor fast 40 Jahren den ebenso populären wie treffenden Begriff der Euro-Sklerose geprägt. Dahinter verbirgt sich ein grundlegender institutioneller Mismatch in Europa. Veränderte wirtschaftliche Gegebenheiten und existierendes institutionelles Arrangement passen oft nicht mehr zusammen. Ein Paradebeispiel dafür ist Griechenland. Es leidet seit langem unter fortschreitender institutioneller Sklerose. Kein Wunder, dass die Wirtschaft nur sehr langsam wächst. Das ist nicht erst seit der Euro-Krise der Fall. Der Niedergang fing schon viel früher an. Das fällt auf, wenn man das wirtschaftliche Wachstum zerlegt. Wie stark eine Volkswirtschaft wächst, hängt vom Mengen- und Qualitätswachstum der Produktionsfaktoren ab. Die Rate des wirtschaftlichen Wachstums des BIP pro Kopf lässt sich in die Wachstumsrate der Arbeitsstundenproduktivität und die Wachstumsrate der Arbeitsstunden pro Kopf zerlegen. Schon seit Anfang der 70er Jahre wächst das BIP pro Kopf in Griechenland langsamer. Es ist in weltweit guter Gesellschaft der reichen, industrialisierten Länder. Der zweite Abschwung setzte um die Jahrtausendwende ein. Seit der Einführung des Euro schmierte das Wachstum des BIP pro Kopf in Griechenland ab. Erholt hat es sich bisher nicht.

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Das Wachstum der Arbeitsstundenproduktivität gibt einen ersten Hinweis, warum es seit der Jahrtausendwende zu dieser Entwicklung kam. Mit dem Euro schwächte sich das Produktivitätswachstum in Griechenland ab. Die Finanzkrise im Jahre 2007 und die spätere Euro-Krise ab dem Jahre 2010 trugen dazu bei, dass das Trendwachstum der Arbeitsproduktivität gegen Null tendierte. Mit dazu bei, trug dreierlei: Die Qualität der Arbeit wuchs kaum noch und die Vertiefung des Kapitalstocks trat auf der Stelle. Der wichtigste Grund ist aber das seit langem extrem schwache Wachstum der griechischen totalen Faktorproduktivität. Sie war schon lange vor der Jahrtausendwende negativ, erholte sich bis zum Jahr 2000 leicht und stürzte dann regelrecht ab. Ob die Einführung des Euro der Grund war, ist noch ungeklärt. Das Wachstum der totalen Faktorproduktivität entwickelt sich fast überall in reichen Ländern seit diesem Zeitpunkt sehr schwach. Der Tiefpunkt der Entwicklung der totalen Faktorproduktivität wurde mit der Euro-Krise ab dem Jahr 2010 erreicht. Das Trendwachstum der totalen Faktorproduktivität schrumpfte im Jahr 2011 um über 2 %. Seither hat es sich, trotz der gewaltigen fiskalischen und monetären Rettungspakete, die der IWF, die Euro-Gruppe und die EZB schnürten, nicht mehr erholt.

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Das Wachstum in Griechenland brach aber auch ein, weil die Menge der eingesetzten Arbeit deutlich schrumpfte. Das kann man an der sinkenden Trendwachstumsrate der Arbeitsstunden pro Kopf erkennen. Sie reduzierte sich wiederum seit der Jahrtausendwende deutlich. Finanz- und Euro-Krise beschleunigten diese Entwicklung. Der Tiefpunkt wurde im Jahr 2012 erreicht. Seither änderte sich nichts zum Guten. Die Wachstumsrate der Arbeitsstunden pro Kopf lässt sich in die Veränderung der Beschäftigungs- und Erwerbsquote und der Wachstumsrate der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem zerlegen. Es liegt auf der Hand, dass die schlechte Performance auf den Arbeitsmärkten ein wichtiger Faktor war. Die extrem hohe Massenarbeitslosigkeit in Griechenland, die über ein Viertel der Erwerbstätigen arbeitslos machte, war die treibende Kraft. Die Beschäftigungsquote ging signifikant zurück. Das ist in starkem Maße der Finanz- und Euro-Krise geschuldet. Allerdings entwickelte sich auch die Erwerbsquote schon länger negativ. Aber auch hier verstärkte die Zwillingskrise die Entwicklung. Die Wachstumsrate der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigem lieferte keinen Beitrag zur rückläufigen Wachstumsrate der Arbeitsstunden pro Kopf. Sie entwickelt sich relativ konstant und zeigt seit langem kaum Veränderungen.

Substantielle Strukturreformen

Wirtschaftliches Wachstum ist kein Schicksal. Es fällt nicht wie Manna vom Himmel. Private wirtschaftliche Akteure und politische Entscheidungsträger haben es in der Hand. Ein Ansatzpunkt ist die Arbeitsproduktivität. Alles, was Investitionen in Realkapital stimuliert, vermehrt Humankapital bildet und neues technisches Wissen schafft, kann helfen. Die Initiatoren investiver Aktivitäten können privat oder staatlich sein. Investitionen erhöhen allerdings nicht per se die Produktivität. Das fällt auf Märkten, wo der Wettbewerb schwach ist, nicht so schnell auf. Kein Wunder, dass staatliche Investitionen oft wenig produktiv sind. Die Produktion pro Arbeitsstunde wächst, wenn mehr investiert wird und ausreichend Konkurrenz auf den Absatzmärkten herrscht. In Griechenland investieren seit langem weder die Privaten noch der Staat genug. Die unsichere wirtschaftliche und politische Lage schreckt private Investoren ab. Der Vorschlag der Quadriga, stärker den Konsum und weniger die Investitionen zu besteuern, geht in die richtige Richtung. Und der griechische Staat verwendet seine Einnahmen vor allem für konsumtive (soziale) Zwecke. Investive Aktivitäten geraten so seit Jahren ins Hintertreffen. Die Forderung der Quadriga den (Sozial-)Staat zu reformieren und verstärkt zu privatisieren, ist richtig. Die anvisierten Erlöse der Privatisierung von 50 Mrd. Euro sind allerdings völlig illusorisch.

Ein weiteres Hemmnis für das Wachstum der Produktivität ist der schwache Wettbewerb auf griechischen Güter- und Dienstleistungsmärkten. Darauf deutet die Entwicklung der Gewinnquote hin. Die Nettogewinnquote ist höher als anderswo. Im internationalen Vergleich ist die unbereinigte Quote „obszön“ hoch. Allerdings ist auch der Anteil der Selbständigen in Griechenland höher. Die so bereinigte Nettogewinnquote ist international trotzdem noch außerordentlich hoch. Das gilt nicht nur im Vergleich mit Deutschland, den USA und UK. Es trifft auch für die Euro-12-Länder zu. Auf den griechischen Absatzmärkten scheint der Wettbewerb nicht gerade zu toben. Offensichtlich ist der Zugang zu den Märkten erheblich beschränkt. Vielfältige staatliche Regulierungen, wild wuchernde Bürokratien und eine grassierende Vetternwirtschaft dominieren. Es herrscht ein Zustand des „crony capitalism“. So kommt Griechenland wirtschaftlich auf keinen grünen Zweig. Um international wieder wettbewerbsfähig zu werden, müssen die Preise für griechische Produkte spürbar sinken. Das tun sie aber, trotz stark gesunkener Löhne, bisher nur sehr widerwillig. Hier müssen die strukturellen Reformen ansetzen. Das hätte einen weiteren Vorteil. Der Reformprozess wird in Griechenland eher akzeptiert, wenn Güter- und Dienstleistungsmärkte zeitgleich mit den Arbeitsmärkten dereguliert werden.

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Mit einem Wachstumsschub ist auch dann zu rechnen, wenn das Wachstum der Arbeitsstunden pro Kopf spürbar steigt. Ein signifikanter Abbau der Arbeitslosigkeit ist schon auf kurze Sicht die beste Therapie. Die Beschäftigungsquote wird steigen. Mehr Wettbewerb auf den Arbeitsmärkten wirkt auch wachstumspolitisch Wunder. Die Vorschläge der Quadriga gehen in die richtige Richtung. Betriebsnähere Lohn- und Tarifverhandlungen, ein nicht so strenger Kündigungsschutz und eine weniger offene Steuer- und Abgabenschere sind sinnvoll. Damit sich allerdings die Steuer- und Abgabenschere schließt, müssen die staatlichen Haushalte konsolidiert werden. Die Staatsquote muss sinken. Eine Reform der großzügigen Frühverrentung zählt dazu. Mit einer stärker äquivalenzorientierten flexiblen Altersgrenze und geringeren Steuern und Abgaben wird sich auch das Wachstum der Arbeitsstunden pro Erwerbstätigen beschleunigen. Längerfristig ist auch eine steigende Erwerbsquote hilfreich. Ein späterer, flexibler geregelter Renteneintritt ohne zusätzliche finanzielle Belastungen der Rentenversicherung und ein früherer Einstieg ins Berufsleben wirken der seit längerem sinkenden, vor allem demographisch bedingten Erwerbsquote ebenso entgegen, wie eine weiter steigende Erwerbsquote der Frauen.

Fazit

Griechenland wandelt am Rande des Abgrundes. Die Gefahr ist groß, dass es abstürzt, ökonomisch und politisch. Besserung ist erst in Sicht, wenn es nicht weiter über seine Verhältnisse lebt. Notwendig ist eine Reorganisation von Staat und Wirtschaft. In Griechenland muss wieder eine marktwirtschaftliche Ordnung installiert werden. Handlung muss wieder mit Haftung korrespondieren. Verkrustete Märkte müssen dem Wettbewerb geöffnet werden. Ein durch und durch korrupter Staat muss neu organisiert werden. Die elende Vetternwirtschaft muss ein Ende haben. Nur ein so runderneuerter Staat kann einen adäquaten Ordnungsrahmen installieren. Erst in diesem Umfeld wird nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum wieder möglich. Eine Rettungspolitik, die nur an Symptomen kuriert und die Probleme mit dem Geld der Anderen zukleistert, ist zum Scheitern verurteilt. Das gesellschaftliche und politische Umfeld ist allerdings nicht so, dass marktwirtschaftliche Reformen eine reale Chance hätten. Die Faszination sozialistischer Ideen ist in Athen ungebrochen. Der Markt und die Deutschen sind weiter Hassobjekte. Es ist deshalb wohl besser, Griechenland steigt aus der EWU aus und schlägt sich künftig auf eigene Faust ökonomisch durch.

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