Kaum ein Monat vergeht, ohne dass das schwierige Verhältnis zwischen den sogenannten „Pluralisten“ innerhalb der VWL und dem im Verein für Socialpolitik (VfS) organisierten ökonomischen „Mainstream“ medial diskutiert wird (z.B. hier oder hier). Die entsprechenden Artikel ähneln sich sehr: In der Regel wird die studentische Nachfrage nach „mehr Vielfalt“ bzw. „mehr Relevanz“ in der Lehre zum Ausgangspunkt genommen, um die vermeintliche methodische Monotonie der Standardökonomik einer Kritik zu unterziehen. Der „Homo Oeconomicus“ (nicht immer korrekt dargestellt) muss als die Wurzel allen Übels herhalten. Typischerweise dient ein mehr oder weniger bekannter VWL-Professor als Kronzeuge, so wie zuletzt ein Düsseldorfer Kollege in einem Artikel der Süddeutschen Zeitung. Die Botschaft: Wackere bunte Vielfalt trifft auf sture Orthodoxie, zulasten der Studierenden und letztlich der Qualität der (deutschsprachigen) Ökonomik generell.
Es ist tatsächlich kaum von der Hand zu weisen, dass etwa das Programm der am 9. September zu Ende gegangenen Jahrestagung des VfS in Münster – bei aller thematischen Vielfalt – z.B. den wichtigen Bereich der Verhaltensökonomik eher stiefmütterlich behandelte (im Gegensatz zur Jahrestagung der American Economic Association im Januar). Wirtschaftsgeschichte kam kaum vor, ideengeschichtliche oder gar wirtschaftsethische Themen gar nicht. Das Programm der parallel angebotenen Gegenveranstaltung des „Netzwerkes für Plurale Ökonomik“ bot indes keine überzeugende Alternative. Es ist wahr, der organisierte Pluralismus in der VWL ist noch relativ jung – zumal im Vergleich mit dem 1873 gegründeten VfS! Und die Schieflage zugunsten makroökonoÂmischer Themen mag verständlich sein in Zeiten globaler Finanzkrisen. Dennoch: Wenn es darum gehen soll, die Spannung zwischen „Mainstream“ und „Pluralen“ fruchtbar zu machen, dann liegt der Ball jetzt eindeutig im Feld der letzteren. Was meine ich damit?
Zwei grundlegende Probleme behindern nach meinem Eindruck Akzeptanz und Einfluss der „Pluralen“ in der deutschsprachigen Ökonomik: Erstens wird regelmäßig der Eindruck erweckt und befördert, dass plurale Ökonomik stark normativ geprägt ist. Der als politisch „links“ eingeordnete französische Verteilungstheoretiker Thomas Piketty gilt als Gallionsfigur der Pluralen. Aber auch Ordnungsökonomen – traditionell eher marktfreundlich eingestellt – und die bunte und streitlustige Truppe aus Hayekianern und Libertären kann man mit Fug und Recht eher den Pluralen als dem Mainstream zuordnen, und auch hier steht das normative Element natürlich stark im Vordergrund. Fast überflüssig zu sagen: Aus Sicht eines im Mainstream sozialisierten Ökonomen (der es bezüglich des Status normativer Aussagen üblicherweise mit Lord Robbins halten wird) ist das fatal.
Das zweite Problem ist vielleicht noch gravierender. Überspitzt formuliert: Während der Mainstream der deutschen VWL in den vergangenen zwei Dekaden mehr oder minder erfolgreich den Ruch des Provinziellen überwunden hat, steht diese Aufgabe den Pluralen noch bevor! Es fällt auf, dass die meisten Protagonisten des Pluralismus in der VWL – das betrifft sowohl „linke“ als auch „rechte“ – kaum Publikationen in guten internationalen Fachzeitschriften (Journals) vorzuweisen haben. Mit anderen Worten: Sie beteiligen sich nicht bzw. kaum an internationalen Debatten innerhalb der Ökonomik. Das sei eine unfaire Kritik, wird der Pluralist umgehend einwenden: Die großen Mainstream-Journals akzeptierten ohnehin keine methodisch unorthodoxen Beiträge, daher sei man gezwungen, auf Sammelbände auszuweichen, um den eigenen Ideen ein Forum zu schaffen.
Das aber ist eine allzu bequeme Ausrede. Tatsächlich gibt es eine Reihe renommierter internationaler Journals, die offen sind gegenüber heterodoxen Ansätzen. Man denke etwa an das J. of Econ. Behavior & Organization, Kyklos, das J. of Instit. Econ., das J. of Experim. and Behav. Econ., Econ. & Philosophy, Ecological Econ., das Cambridge J. of Econ., das J. of Post-Keynesian Econ., das J. of Evol. Econ., oder das J. of Econ. Methodology. Die Liste ließe sich verlängern. Richtig, das sind alles keine A-Journals (wenngleich man mit einer Solopublikation in jedem von ihnen bereits auf solide 1,35 „Handelsblatt-Punkte“ käme). Aber man sollte der Tatsache ins Auge sehen, dass eine traditionsreiche und einflussreiche Sozialwissenschaft wie die Ökonomik naturgemäß eher einem schwerfälligen Tanker gleicht als einem kleinen wendigen Schnellboot. Geduld ist angezeigt, zumal sich die Ökonomik gerade ohnehin im mühevollen Prozess, wenn nicht eines Paradigmenwechsels, so doch einer paradigmatischen Öffnung befindet (daher ist sie momentan auch vielfältiger als in den 1980ern oder 1990ern). Zusätzlicher „Reformstress“ kommt da nicht unbedingt gelegen. Denn die Ökonomik ist auf breiter Front dabei, Erkenntnisse der Psychologie zu integrieren, einer in mancher Hinsicht grundlegend anders gestrickten Wissenschaft. Das ist ein intellektuelles Großprojekt, welches eine Fülle hochinteressanter methodologischer (und nicht zuletzt auch normativer) Fragen aufwirft, die auch und gerade für Pluralisten relevant sind: Was ist „Rationalität“? In welcher Beziehung steht rationales zu „moralischem“ Handeln? Wie konzeptualisiert und misst man „Wohlfahrt“, wenn Präferenzen inkonsistent bzw. unvollständig sind? Was folgt aus der Verhaltensökonomik für die Politikberatung? Kann bzw. sollte die Ökonomik eine „wertfreie“ Wissenschaft sein? Was kann sie über Neuheit aussagen? Was können wir aus Experimenten über reales Verhalten im Kontext von Märkten lernen? Über derlei Fragen wird in vielen der oben genannten Journals auch leidenschaftlich und auf hohem Niveau gestritten, nur leider praktisch ohne deutsche Beteiligung.
Was ist zu tun? Wie gesagt, der Ball liegt grundsätzlich im Feld der Pluralen. Aber auch dem VfS stünde es gut an, sich in methodischer Hinsicht weiter zu öffnen. Den Anfang könnte man machen, indem man ab 2016 ein oder zwei (der insgesamt voraussichtlich gut 150) Sessions dem weiten Feld der „Philosophy of Economics“ widmet. Auf internationaler Ebene ist das ein vitales Forschungsgebiet (s.o.). Keineswegs müssen bei der Auswahl der Referenten irgendwelche wissenschaftlichen Standards verwässert werden. Dabei denke ich an die im Mainstream anerkannte Methode des Handelsblatt-Ranking. Ob man es mag oder nicht (ich mag es auch nicht): Der auf absehbare Zeit gültige Standard ist nun einmal dieses Ranking. Diese bittere Pille werden die deutschsprachigen Pluralen schlucken müssen, aber wie ich zu zeigen versucht habe, ist sie weniger bitter als es auf den ersten Blick scheinen mag.
- Gastbeitrag
Verhaltensökonomische Politikberatung - 28. März 2017 - Plurale Ökonomik (4)
Zum Elend der „Pluralismus-Debatte“
Und ein Vorschlag zur Güte - 2. Dezember 2016 - Gastbeitrag
„Mehr Psychologie wagen!“
Warum eine psychologisch informierte VWL gute Argumente gegen staatlichen Interventionismus liefert - 2. Oktober 2015
Der als Kronzeuge benannte Kollege Till van Treeck ist Professor in Duisburg-Essen, und zwar dort am Institut für Soziologie. In Düsseldorf sind wir recht orthodoxe Ökonomen.
@Haucap: Sorry, als Westfale geraten mir solche binnen-rheinländischen Unterschiede schonmal aus dem Blick…