Ob der chinesische Präsident Xi Jinping am Ende des Jahres der Ziege Soll und Haben für sein Land einmal nicht aus nationaler sondern aus weltwirtschaftlicher Sicht saldieren wird? Und wenn er es täte, wie sähe das Ergebnis aus? Auf der Habenseite wird er zwei Entscheidungen verbuchen können, auf die er direkt keinen Einfluss nehmen konnte: zum einen die des Internationalen Währungsfonds (IWF), Chinas Währung als fünfte Währung in den Kreis der „frei nutzbaren“ Reservewährungen aufzunehmen, aus deren Korb sich der Wert der Sonderziehungsrechte bestimmt, zum anderen die Ratifizierung der Quoten-und Stimmrechtsformen des IWF durch den amerikanischen Kongress, die China knapp hinter Japan auf den dritten Platz der IWF-Mitglieder nach ihren Stimmrechten hebt, allerdings mit weitem Abstand hinter dem einzigen Mitglied mit Vetomacht, den USA. Beide Entscheidungen mögen „symbolisch“ genannt werden. Sie honorieren aber das, was Chinas Währungspolitik in den letzten Jahren geleistet hat: einen sichtbaren Beitrag zu stabilen Währungsrelationen und den langsamen Einstieg der chinesischen Währungspolitik in marktbestimmte Wechselkurse.
China hat 2015 etwa zehn Prozent seiner Währungsreserven aufgelöst. Den Vorwurf der Wechselkursmanipulation, der „beggar thy neighbour“ Strategie, fällt damit in sich zusammen. Ein Land, das seinen Wechselkurs gezielt abwerten wollte, würde nicht Reserven verkaufen, sondern seine eigene Währung. Vielmehr hat China den 2015 einsetzenden Abwertungsdruck durch Verkauf dieser zehn Prozent mildern wollen. Unter dem Strich verbleibt eine sichtbare reale Aufwertung in den letzten Jahren, die es nicht mehr erlaubt, China als ein Billiglohnland wie viele ärmere Nachbarländer (beispielsweise Vietnam, Bangladesch, Laos, Kambodscha) zu bezeichnen. Chinas preisliche Wettbewerbsfähigkeit auf den internationalen Gütermärkten hat damit gelitten; ein völlig normaler Prozess, den der chinesische Präsident aus Sorge um Arbeitsplätze in der Exportindustrie vielleicht unter Soll verbuchen würde, der aber aus weltwirtschaftlicher Sicht positiv zu werten ist, steht er doch im Einklang mit dem auslaufenden chinesischen Geschäftsmodell der exportorientierten und investitionsgetragenen Industrialisierung und dem Einstieg in eine binnenorientierte und stärker konsumgetragene und innovationsbestimmte wirtschaftliche Entwicklung.
Dieser Einstieg hat für China weitaus höhere Anpassungskosten als ursprünglich erwartet, auch wenn sich viele Beobachter von vornherein über den hohen Zeitbedarf im Klaren waren. Das alte Modell trifft zeitlich auf eine schwächelnde Weltnachfrage, hat Überkapazitäten in vielen Sektoren und Preisblasen auf Vermögensmärkten entstehen lassen und sieht sich dem Beharrungswillen und dem politischen Gewicht überschuldeter staatseigener Betriebe und – in ihrem Schlepptau – kriselnder chinesischer Großbanken gegenüber. Aus weltwirtschaftlicher Sicht ist dies eine brisante Sprengladung, die, würde sie explodieren, erhebliche Einschläge bei den Handelspartnern verursachen würde. Sie sollte nicht noch dadurch angereichert werden, dass China in der jetzigen Lage seine Kapitalverkehrskontrollen rasch aufgibt, um die Diskrepanz zwischen der hohen Bedeutung der chinesischen Währung als Fakturierungswährung und der geringen Bedeutung als Anlagewährung abzubauen. Nur bei den gegebenen Kapitalverkehrskontrollen ist China heute noch in der Lage, seine Geldpolitik effektiv zu gestalten und gleichzeitig Wechselkurskapriolen als Folge von abrupten Kapitalexporten zu verhindern.
Der chinesische Präsident wird den Geschäftsbeginn der von ihm geprägten, weil weitgehend mit chinesischem Kapital ausgestatteten neuen multilateralen Finanzierungsinstitutionen wie AIIB (Asiatische Infrastruktur-Investitionsbank), New Development Bank und Seidenstraßenfonds ebenfalls auf der Habenseite verbuchen. Aber hier ist das letzte Wort nicht gesprochen, bevor nicht diese Fonds (alle zunächst nur mit öffentlichem Kapital ausgestattet) den Sprung in das kalte Wasser der internationalen Finanzmärkte wagen, um sich zu rekapitalisieren und damit erst zu Banken zu werden. Dann werden die privaten Kapitalgeber Analysen über Länder-und Sektorrisiken verlangen sowie die Umwelt-und Sozialstandards der etablierten Entwicklungsbanken einfordern, bevor sie Anleihen der neuen Institutionen zeichnen. Sollte es sich herausstellen, dass diese neuen Institutionen vorwiegend den Zweck verfolgen, Überkapazitäten in der chinesischen Bauindustrie abzubauen, würde diese Art „gebundener Hilfe“ bei den Finanzmärkten auf wenig Gegenliebe stoßen. Diese Märkte würden es auch begrüßen, wenn Chinas BIP-Wachstumsdaten und –prognosen ein wenig realistischer würden, also nicht unglaubwürdige 6,9 %, um nahe an der politisch gewünschten 7% Schwelle zu bleiben, sondern heute schon deutlich niedriger. Bilanzwahrheit fördert auch die Bilanzklarheit.
Ein klarer Sollposten bleibt das handelspolitische „low profile“ Chinas. China hat weder den Versuch unternommen, sich in Genf bei der Welthandelsorganisation WTO oder jüngst bei der WTO-Ministerkonferenz in Nairobi zum klaren Fürsprecher der komatösen Doha-Runde zu machen. Noch hat es eine klare Strategie, wie es nach dem Abschluss der Verhandlungen um das von den USA geprägte Transpazifische Partnerschaftsabkommen (TPP), an denen es nicht beteiligt war, weitergehen wird: entweder akzeptieren, was die USA dank TPP an Regeln für Investitionen und geistigem Eigentumsschutz in Ostasien durchgesetzt haben, oder den wahrscheinlich aussichtslosen Versuch zu unternehmen, eine Gegenveranstaltung ins Leben zu rufen. Hier schlägt China auch die Skepsis seiner Handelspartner entgegen, die sich an den Territorialkonflikten im Südchinesischen Meer entzündet hat.
Eine weltwirtschaftliche Sicht würde die gleiche Skepsis gegenüber den Klimaschutzzielen Chinas walten lassen, sofern China kein internationales Monitoring (von Sanktionen ganz zu schweigen) zulässt und viele Ziele auf eine sehr lange Zeitschiene setzt. Die niedrigen Energiepreise und das Angebot Russlands, Chinas Energienachfrage zu günstigen Konditionen aus fossilen Quellen zu decken, wird eine Dekarbonisierungsstrategie Chinas, wenn sie denn wirklich einmal angestrebt würde, vor noch höhere kurzfristige Kosten stellen als vor der Wirtschafts-und Finanzkrise von 2008.
Aus weltwirtschaftlicher Sicht gehört zu den Sollposten auch Chinas Festhalten an Investitionen in Rohstoffquellen in politisch verrufenen Ländern wie dem Südsudan, anstatt Rohstoffe auf dem Weltmarkt zu kaufen, wenn sie gebraucht werden. Vielleicht wird es hier auch eine Revision der chinesischen Rohstoffsicherungsstrategie geben, wenn sich herausstellt, dass angesichts vielleicht längerfristig niedriger Rohstoffpreise langfristige Lieferverträge im Tausch gegen kurzfristige Bereitstellung von Infrastruktur für China ein schlechteres Geschäft sind, als die Rohstoffe zum aktuellen Marktpreis zu erwerben.
Der (Holz)Ziege des Jahres 2015 eilt im chinesischen Horoskop der Ruf voraus, besonnen, kreativ und vorausblickend zu sein. Sie wird 2016 vom (Feuer)Affen abgelöst, der „interessantere“ Zeiten mit mehr Unruhe, Erfindungsreichtum und Pfiffigkeit verspricht. Vielleicht könnten diese Eigenschaften darauf verwendet werden, Präsident Xi Jinping bei der Bildung von Vertrauenskapital in der Welt zu helfen. Dieses Kapital wäre geeignet, einige der Positionen auf der jetzigen Sollseite der chinesischen Bilanz als erledigt abzuhaken.