Bald ist das Duzend voll. Nachdem sich die Unterhändler aus den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union im Oktober 2015 zur 11. Verhandlungsrunde zur Transatlantischen Handels- und Investitionspartnerschaft in Miami getroffen hatten, ist zur 12. Verhandlungsrunde, die Anfang des Jahres 2016 stattfinden soll, wieder Brüssel als Tagungsort dran. Auch dort werden sicherlich wieder mittlere bis größere Erfolge verkündet werden, doch tatsächlich sind die TTIP-Verhandlungen ernsthaft ins Stocken geraten. Dafür gibt es eine Reihe von Gründen.
Unerwarteter Widerstand aus der Zivilgesellschaft
Der erste und wichtigste Grund liegt sicherlich bei dem großen öffentlichen Widerstand, der dem TTIP-Abkommen insbesondere aus Deutschland, aber auch aus Ländern wie Österreich, Luxemburg, Frankreich und Großbritannien entgegenschlägt. Damit hatte zu Beginn der Verhandlungen im Jahr 2013 niemand gerechnet. Die EU-Kommission verfolgte in Person des damals zuständigen EU-Kommissars Karel van Gucht die Strategie, die Verhandlungen möglichst rasch und geräuschlos über die Bühne zu bringen. Etwa seit Anfang 2014 geriet TTIP allerdings auf den Radar der NGOs, allen voran von ATTAC. Da zum Mai jenes Jahres eine Europawahl anstand, sahen sich viele Politiker veranlasst, das Rumoren der Zivilgesellschaft ernst zu nehmen. Stück für Stück ging die EU-Kommission dazu über, die Öffentlichkeit besser über Stand und Zielsetzungen der Verhandlungen zu informieren, wenngleich wir von perfekter Transparenz auch heute noch weit entfernt sind.
Die Europäische Kommission hatte sich zunächst auf das Argument zurückgezogen, dass der Ausschluss der Öffentlichkeit bei internationalen Verhandlungen durchaus üblich sei, da man ansonsten strategische Nachteile im Verhandlungspoker mit der Gegenseite hinnehmen müsse. Dieses Argument ist zwar aus Sicht der Verhandlungsdelegationen nachvollziehbar, aber es steht in demokratisch verfassten Gesellschaften auf einem schwachen Fundament.
Ernüchternde Wachstums- und Beschäftigungseffekte
Der zweite Grund dafür, dass die TTIP-Verhandlungen ins Stocken geraten sind, liegt bei der deutlichen Reduzierung der Erwartungen, welche wirtschaftlichen Impulse vom TTIP-Abkommen zu erwarten sind. Sowohl von der deutschen Bundesregierung als auch von der EU-Kommission wurde die Größenordnung der vermuteten Wachstums- und Beschäftigungseffekte lange Zeit allzu euphorisch dargestellt. Dabei erscheint ein gravierender Wachstums- und Beschäftigungsschub allein deshalb schon unplausibel, weil hier zwei Regionen am Verhandlungstisch sitzen, zwischen denen schon heute eine rege Handels- und Investitionsverflechtung besteht. Jedenfalls führte eine genauere Beschäftigung mit den verfügbaren Prognosen sowohl in der Öffentlichkeit als auch in der Fachwelt zu einer deutlichen Ernüchterung, wodurch die Unterstützung für die TTIP-Verhandlungen nicht gerade befördert wurde.
Streit um Produktstandards
Der dritte und in der Öffentlichkeit am intensivsten diskutierte Bereich, in dem die Verhandlungen ins Stocken geraten sind, liegt bei den nicht-tarifären Handelshemmnissen, und hier insbesondere bei den Produktstandards. Dabei geht es nicht nur, aber auch um das Chlorhühnchen, das geradezu zum Wappentier der TTIP-Kritik geworden ist. Europäischen Verbrauchern – so argumentieren die Kritiker – könne man in Chlorbäder getauchte Hühnchen nicht zumuten. Dabei hat das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) schon im Juni 2014 darauf hingewiesen, dass die nicht mit Chlorbädern behandelten europäischen Hühnchen in einer erschreckenden Anzahl von Fällen mit Keimen wie Salmonellen oder Campylobacter behaftet sind, die für die menschliche Gesundheit weitaus bedenklicher seien als chlorgebadete Hühnchen.
Von der EU-Kommission und auch von der deutschen Bundesregierung wird immer wieder betont, die TTIP-Verhandlungen würden auf gar keinen Fall zu einer Aufweichung europäischer Produkt- und Hygienestandards führen – im Zweifel werde man sich auf die jeweils strengere Vorschrift einigen. Beim Chlorhühnchen ist nicht leicht zu entscheiden, welcher Standard als der strengere anzusehen ist, denn aus europäischer Sicht ist das Salmonellenhühnchen dem Chlorhühnchen vorzuziehen, während es aus amerikanischer Sicht gerade umgekehrt ist. Auch die unterschiedlichen Regulierungen am Beispiel der Pkw-Außenspiegel machen das deutlich: In den Vereinigten Staaten müssen Außenspiegel – aus Sicherheitsgründen – starr sein. In Europa müssen Außenspiel – aus Sicherheitsgründen – klappbar sein. Für beide Regulierungen gibt es gute Gründe. Beim starren Außenspiegel ist die Gefahr größer, Personen zu verletzen, die von einem Pkw gestreift werden. Bei eingeklapptem Außenspiegel dagegen ist die Gefahr größer, beim Einscheren in die Fahrbahn einen von hinten herannahenden Radfahrer zu übersehen, der diese Fahrbahn benutzt. Die schlichte Regel: „Im Zweifel für den strengeren Sicherheitsstandard“, hilft also weder beim Chlorhühnchen noch beim Pkw-Außenspiegel wirklich weiter.
Ein Blick in die Geschichte der europäischen Integration kann dazu beitragen, mögliche Lösungswege aufzuzeigen. Auch in Europa bestand über Jahrzehnte hinweg das Problem, dass die einzelnen Mitgliedsstaaten recht unterschiedliche Produktstandards für ihre jeweiligen Märkte herausgebildet hatten, wodurch der innergemeinschaftliche Handel spürbar behindert wurde. Den Durchbruch brachte erst das vom damaligen Kommissionspräsidenten Jacques Delors verkündete Binnenmarktprogramm aus dem Jahr 1984, das sich in den allermeisten Bereichen von der Zielsetzung der Harmonisierung verabschiedete und stattdessen auf die gegenseitige Anerkennung der unterschiedlichen Produktstandards setzte. Den Grundstein dafür hatte die sogenannte Cassis-de-Dijon-Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs vom 20. Februar 1979 gelegt. Der EuGH entschied damals, dass grundsätzlich alle Produkte, die in einem EU-Mitgliedsstaat rechtmäßig in den Verkehr gebracht worden sind, auch in allen anderen Mitgliedsstaaten verkauft werden dürfen.
Das Cassis-de-Dijon-Prinzip der gegenseitigen Anerkennung wäre durchaus ein gangbarer Weg, um bei Chlorhühnchen, genveränderten Lebensmitteln und vielen anderen unterschiedlich regulierten Produkten eine amerikanisch-europäische Marktöffnung zu erreichen – insbesondere dann, wenn den Interessen des Verbraucherschutzes durch klare Produkt-Deklarationen Rechnung getragen würde. Diesen Weg könnten die TTIP-Verhandlungsdelegationen weitaus entschlossener beschreiten als bisher geschehen.
Es sollte allerdings nicht übersehen werden, dass Verbraucherschutz in den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union vom grundlegenden Ansatz her sehr unterschiedlichen Strategien folgen, die schwer miteinander vereinbar sind. Vereinfacht gesprochen gilt in der Europäischen Union das Vorsichtsprinzip, d.h. die staatlichen Aufsichtsbehörden lassen ein Produkt erst dann zum Verkauf zu, wenn als weitgehend sicher gelten kann, dass von diesem Produkt keine Gefahren für den Verbraucher oder die Umwelt ausgehen. Falls es dann doch zu Schädigungen kommt, können die Produzenten darauf verweisen, dass sie ja sämtliche staatlichen Auflagen erfüllt hätten. In den Vereinigten Staaten dagegen dominiert das Nachsorge-Prinzip, nach dem es grundsätzlich in die Verantwortung des Produzenten fällt, Gefährdungen der Verbraucher oder der Umwelt zu vermeiden. Der Umfang der ex ante erlassenen Vorschriften und Regulierungen ist oftmals deutlich kleiner als in der Europäischen Union, aber im Schadensfall muss das betreffende Unternehmen mit Schadensersatzauflagen aus Gerichtsverfahren rechnen, die für das Unternehmen existenzgefährdend sein können. Europäer stehen oftmals verständnislos vor den exorbitant hohen Schadensersatzzahlungen, die von amerikanischen Gerichten festgesetzt werden, aber sie sind letztlich das Gegenstück dafür, dass es ex ante deutlich weniger Kontrollen als in Europa gibt.
Sowohl für das europäische Vorsorge- als auch das amerikanische Nachsorgeprinzip gibt es gute Gründe. Das Problem für die TTIP-Verhandlungen liegt darin, dass diese beiden Prinzipien nur sehr schwer unter einen Hut zu bringen sind. Ein Beispiel dafür sind die Zulassungsbedingungen für Chemikalien. In der Europäischen Union ist die zentrale Grundlage dafür die Europäische Chemikalienverordnung REACH (regulation concerning the registration, evaluation, authorisation and restriction of chemicals. Diese Verordnung gilt als eines der strengsten Chemikaliengesetze der Welt (Umweltbundesamt 2015).
Auch in den Vereinigten Staaten gibt es Zulassungsvorschriften für chemische Stoffe, aber sie sind bei weitem nicht so anspruchsvoll wie REACH. Nach dem Prinzip der gegenseitigen Anerkennung hätten dann also US-Exporteure einen Kostenvorteil gegenüber europäischen Chemieherstellern, da sie sich nicht den zeit- und kostenaufwändigen Zulassungsprozeduren unterwerfen müssten. Umgekehrt müssten europäische Hersteller, die ihre chemischen Stoffe in die Vereinigten Staaten exportieren, dort mit empfindlichen Schadensersatzforderungen rechnen, falls es in den Vereinigten Staaten zu Schädigungen kommt. Die Anwendung des Prinzips der gegenseitigen Anerkennung würde hier also zu erheblichen internationalen Wettbewerbsverzerrungen führen.
Von privaten Schiedsgerichten zum Investitionsgerichtshof
Den vierten Bereich stockender Verhandlungen schließlich stellt der Investorenschutz dar. Die öffentlichen Debatten zum TTIP-Abkommen haben sich mittlerweile – und das aus guten Gründen – vom Chlorhühnchen abgewandt und diesem Thema zugewandt. Dabei ist die Grundidee des sogenannten Investor State Dispute Settlement (ISDS) durchaus einleuchtend. Es soll internationalen Investoren Rechtssicherheit verschaffen in Zielländern, die selbst über eine unzureichend entwickelte nationale Gerichtsbarkeit verfügen.
Ein illustratives Beispiel dafür ist das Investitionsschutzabkommen zwischen Pakistan und der Bundesrepublik Deutschland, das im Jahr 1959 geschlossen wurde und als das erste moderne Investitionsschutzabkommen der Welt gilt. Dort verpflichteten sich sowohl Pakistan als auch Deutschland, Investoren bei unfairer Behandlung und indirekter Enteignung zu entschädigen. Dies diente natürlich in allererster Linie dem Schutz deutscher Investoren, da es pakistanische Investitionen in Deutschland praktisch nicht gab. Dennoch profitierte nicht nur Deutschland, sondern auch Pakistan von dieser Vereinbarung, denn ohne ein solches Abkommen hätten sich viele deutsche Investoren vermutlich gar nicht nach Pakistan getraut. Der Staat Pakistan konnte sich von den internationalen Schutzabkommen ein Vertrauen leihen, das die dortigen nationalen Institutionen gar nicht bereitstellen konnten.
Die Bundesrepublik Deutschland hat in den vergangenen Jahrzehnten insgesamt mehr als 130 Investitionsschutzabkommen mit anderen Ländern geschlossen, ohne dass auch nur eines davon in der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen worden wäre. Bei den TTIP-Ver-handlungen ist alles anders. Die in diesem Abkommen vorgesehenen Investitionsschutz-bestimmungen haben sowohl in Deutschland als auch in anderen EU-Ländern massive Proteste hervorgerufen. Die Kritiker argwöhnen – vermutlich zu Recht – dass der Investorenschutz bei TTIP nach dem gleichen Muster wie in früheren Investorenschutzabkommen geregelt werden sollte. Dabei entzündet sich die Kritik insbesondere an folgenden Punkten:
- Die Schiedsgerichte, vor denen die Streitigkeiten zwischen internationalen Investoren und den Regierungen ihrer Gastländer ausgetragen werden, sind üblicherweise nicht mit öffentlich bestellten Richtern, sondern mit Privatpersonen besetzt. Es wird also, so die Kritik, eine Paralleljustiz aufgebaut, von der die reguläre Rechtsprechung ausgehebelt werden könnte.
- Sowohl die Prozessunterlagen als auch Verhandlungen vor diesen Schiedsgerichten sind in der Regel nicht-öffentlich und gelegentlich sogar der parlamentarischen Kontrolle entzogen, obwohl sie Regierungen zu massiven Schadensersatzzahlungen verpflichten können, die sich auf die parlamentarisch beschlossenen öffentlichen Haushalte auswirken.
- Die Anspruchsgrundlagen, auf die sich die klagenden Investoren berufen können, sind meist recht allgemein und schwammig formuliert. Die Standardformulierung lautet, dass Investoren das Recht haben auf „faire und billige Behandlung“ (fair and equitable treatment). Auch das Verbot der „indirekten Enteignung“ ist in den meisten Abkommen zu finden. Diese Begriffe lassen weite – wie die Kritiker meinen: zu weite – Auslegungsspielräume.
- Gegen die Schiedssprüche gibt es keine Revision, weder im Rahmen von übergeordneten Schiedsgerichten noch im Rahmen der nationalen Rechtsprechung. Die Schiedsgerichte nehmen damit – so die Kritik – erst recht den Charakter einer unkontrollierten Paralleljustiz an.
- Anders als bei Schiedsgerichten supranationaler Institutionen wie der Welthandelsorganisation (WTO) oder der World Intellectual Property Organization (WIPO) sind die Urteile der Schiedsgerichte unmittelbar gegen die beklagten Gastländer vollstreckbar. Das erhöht zwar die Durchschlagskraft der Schiedssprüche, macht aber die beklagten Regierungen weitgehend hilflos gegen willkürliche Urteile.
Sturm im Wasserglas?
Gelegentlich wird argumentiert, bei der Aufregung um den Investorenschutz handele es sich um nicht viel mehr als einen Sturm im Wasserglas, denn es gäbe doch kaum relevante Fälle, in denen private Schiedsgerichtsbarkeit zu Probleme führe. Diese Argumente mögen in der Vergangenheit durchaus zutreffend gewesen sein und sind sicher auch heute nicht völlig von der Hand zu weisen. Es gibt allerdings Anzeichen dafür, dass sich das Verhalten internationaler Konzerne im Wandel befindet. Immer verbreiteter ist dabei das „Treaty Shopping“, d.h. die Klageerhebung über Tochtergesellschaften, die selbst nicht geschädigt sind, die aber in einem Land residieren, das mit dem beklagten Land ein Investitionsschutzabkommen abgeschlossen hat. Diese Vermutung wird gestützt durch einige spektakuläre Fälle, die hier kurz angerissen werden sollen (für die Auswertung einer Vielzahl weiterer Fälle vgl. Klodt, Lang 2015):
- Das US-Unternehmen Philip Morris setzt sich gegen ein australisches Gesetz zur Wehr, nach dem Verpackungen von Zigaretten einheitlich sein müssen und keine Herstellerwerbung enthalten dürfen. Philip Morris kann seine Klage nicht auf ein Investitionsschutzabkommen zwischen den Vereinigten Staaten und Australien stützen, weil es ein solches Abkommen gar nicht gibt. Deshalb verlagerte Philip Morris seine Markenrechte für Australien an ein Tochterunternehmen in Hongkong, und zwar erst nachdem das Plain-Packaging-Vorhaben der australischen Regierung bekanntgeworden war. Jetzt kann sich Philip Morris auf ein älteres Investitionsschutzabkommen zwischen Hongkong und Australien stützen, das für solche Fälle nie gedacht war.
- Beim zweiten populären Fall geht es um das kanadische Unternehmen Lone Pine, das von der eigenen Regierung Schadensersatz in Höhe von 250 Millionen Dollar begehrt, weil in der Provinz Quebec ein Fracking-Moratorium verkündet worden ist. Klagende Partei ist allerdings nicht die Muttergesellschaft Lone Pine Canada, sondern die Tochtergesellschaft dieses Unternehmens aus den Vereinigten Staaten. Nur dieses kann sich auf das Investitionsschutzabkommen zwischen Kanada und den Vereinigten Staaten im Rahmen der NAFTA berufen.
Zu den rein finanziellen Folgen überzogener Schiedsgerichtsverfahren, die gerade für kleinere und ärmere Länder gravierend sein können, kommt die Gefahr des „regulatory chill“, wonach die Regierungen möglicherweise von vornherein darauf verzichten, Gesetzesvor¬haben auf den Weg zu bringen, die zwar für sich genommen als sinnvoll und berechtigt erscheinen, die aber die Gefahr bergen, von internationalen Konzernen in langwierige und kostenträchtige Schadenersatzverfahren hineingezogen zu werden.
Hier schließt sich der Bogen zu den Produktstandards: Zwar sind die Probleme des Verbraucherschutzes, die sich aus unterschiedlichen Produktstandards ergeben können, zumindest prinzipiell lösbar durch gegenseitige Anerkennung und klare Deklarationspflichten der Hersteller. Wenn die EU allerdings ihre Produktstandards abändern will, muss sie bei einem überzogenen Investorenschutz ständig befürchten, mit Schadensersatzklagen von Konzernen aus Drittländern konfrontiert zu werden, die die regulatorische Souveränität der EU durchaus spürbar beeinträchtigen könnten.
Die EU-Kommission betont, diese Gefahr sei gebannt, da sie im TTIP-Abkommen das „right to regulate“ der nationalen Regierungen festschreiben möchte. Das wird allerdings nicht viel nützen, denn dieses Recht wurde ja durch Investitionsschutzabkommen noch nie ausgehebelt. Das Problem liegt vielmehr darin, dass mögliche Gewinnbeeinträchtigungen durch staatliche Regulierungen zu „indirekten Enteignungen“ führen können, gegen die dann aus den Investitionsschutzabkommen geklagt werden kann.
Zur Illustration ein hypothetisches Beispiel: In Deutschland gilt derzeit ein Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde. Der Staat hätte auch nach Inkrafttreten von TTIP selbstverständlich das Recht, den Mindestlohn auf 9,50 € anzuheben; er hätte also ein „right to regulate“, das ihm kein ausländischer Investor streitig machen kann. Investoren könnten allerdings argumentieren, ihnen seien aufgrund des erhöhten Mindestlohns Gewinneinbußen erwachsen, die sie im Rahmen des ISDS als „indirekte Enteignung“ geltend machen könnten. Deshalb löst die Festschreibung des „right to regulate“ die Probleme des regulatory chill nicht.
Kernelemente eines missbrauchsfesteren Investorenschutzes
Insgesamt gibt es durchaus nachvollziehbare Argumente der EU-Kommission und der Unternehmen, den Investorenschutz im Rahmen des TTIP vertraglich zu verankern. Andererseits sind die Bedenken, dass derartige Regeln durch internationale Konzerne missbraucht werden, nicht von der Hand zu weisen. Dieses Dilemma lässt sich zumindest entschärfen, wenn der Investorenschutz im Rahmen des TTIP anders und besser geregelt würde als in den bislang dazu vorliegenden Abkommen. Die EU-Kommission hat dazu am 12. November 2015 einen Entwurf vorgelegt, wie sie sich das Investitionskapitel des TTIP-Abkommens vorstellt.
Am allerwichtigsten erscheint es, die Anspruchsgrundlagen, auf die sich Schadensersatzforderungen stützen können, eindeutig und klar zu formulieren. Im aktuellen EU-Entwurf ist an dieser Stelle nach wie vor vom Anspruch auf „faire und billige Behandlung“ und auf Schutz vor indirekter Enteignung zu lesen. Gerade diese unbestimmten Rechtsbegriffe haben maßgeblich dazu beigetragen, dass internationale Schiedsgerichte inhaltlich weitgehend identische Sachverhalte in verschiedenen Verfahren teils völlig konträr zueinander bewertet haben.
Als Alternative zu diesen „Gummiparagraphen“ bietet sich für das TTIP-Abkommen an, die Grundlagen für Schadensersatzansprüche internationaler Konzerne am Grundsatz der Inländerbehandlung auszurichten (national treatment). Nach diesem aus der WTO wohletablierten Prinzip hätte also beispielsweise der schwedische Energieversorger Vattenfall durchaus die Möglichkeit, Schadensersatz von der Bundesrepublik Deutschland wegen der Abschaltung der Kernkraftwerke Brunsbüttel und Krümmel im Zuge der Energiewende zu begehren, aber die Klagemöglichkeiten dieses Konzerns wären nicht besser als die der inländischen Energieversorger E.ON, RWE und EnBW. Es wäre sehr zu wünschen, dass sich die EU-Kommission bei ihren Verhandlungen zum TTIP-Abkommen weitaus stärker als bisher auch mit den materiell-rechtlichen Grundlagen des internationalen Investorenschutzes auseinandersetzen würde.
Eindeutig positiv zu bewerten sind dagegen die von der EU-Kommission vorgeschlagenen verfahrenstechnischen Änderungen: Sie setzen auf die Etablierung eines Internationalen Investitionsgerichtshofs, der mit Personen besetzt ist, die international akkreditiert und zum öffentlichen Richteramt zugelassen sind. Die Verfahren sollen öffentlich sein und es soll eine Revisionsinstanz etabliert werden. Von solch einem Gerichtshof kann erwartet werden, dass er zu abgewogeneren Urteilen gelangt und eine Kontinuität in der Rechtsprechung entwickelt, die den privaten Schiedsgerichten fehlt.
Oftmals wird vorgetragen, die Streitfälle sollten nicht vor speziellen Schiedsgerichten, sondern vor ordentlichen Gerichten in den jeweils beklagten Ländern ausgetragen werden. Das erscheint allerdings als eher zweifelhafte Idee. Man stelle sich nur einmal vor, die oben erwähnte Schadensersatzforderung von Vattenfall, bei der es immerhin um 4,7 Mrd. € geht, müsse vor dem Landgericht Berlin oder einem anderen Landgericht verhandelt werden. Die zuständigen Richter würden vermutlich rasch an die Grenzen ihrer inhaltlichen Kompetenzen stoßen.
Die Vorstellungen von europäischer Seite zur institutionellen Ausgestaltung des Investorenschutzes, an denen die deutsche Bundesregierung maßgeblich mitgewirkt hat, gehen also mittlerweile durchaus in die richtige Richtung. Fraglich ist allerdings, ob und inwieweit die amerikanische Seite bereit sein wird, in diese Richtung mitzugehen. Insbesondere die immer noch nicht erfolgte Anerkennung des Internationalen Seegerichtshofs und die immer noch ausstehende Mitgliedschaft der Vereinigten Staaten beim Internationalen Strafgerichtshof wecken daran große Zweifel.
Tatsächlich stand der Investorenschutz schon seit der siebten Verhandlungsrunde vom Herbst 2014 nicht mehr auf der Tagesordnung der TTIP-Unterhändler. Um ein vollständiges Scheitern von TTIP zu vermeiden, sollte ernsthaft erwogen werden, nur zu Handelsfragen ein Abkommen anzustreben und den Investorenschutz vollständig auszuklammern. Eine solche Strategie, die in der Handelsdiplomatie als „low-hanging fruits first“ bezeichnet wird, könnte die Chancen, in absehbarer Zeit überhaupt zu einem Vertragsschluss zu kommen, spürbar verbessern.
Henning Klodt, Stefanie Lang (2015). Treaty Shopping beim Investorenschutz. Wirtschaftsdienst 95. (7): 482-485.
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