Was waren das noch für Zeiten, als das Old Boys Network die Deutschland AG einer Oligarchie vergleichbar beherrschte! Die Führungselite begegnete sich in fröhlicher Kooptation von Vorstands- und Aufsichtsratsmandaten getreu dem Motto: „Eine Krähe hackt der anderen kein Auge aus“ (Wolfgang Gerke, 2002). Die wechselseitige Beteiligung zwischen den Großkonzernen sicherte im Zusammenspiel mit dem Depotstimmrecht der Banken eine praktisch unangreifbare Machtbasis für die Protagonisten, die über Kritik seitens verhältnismäßig weniger Aktionäre und Autoritäts-Häretiker in den Medien allenfalls müde lächelten.
Bei börsennotierten Großkonzernen wird die Schnittmenge vermittelbarer Netzwerkmitglieder angesichts der Gesamtanforderungen an den Aufsichtsrat börsennotierter Aktiengesellschaften immer kleiner. Noch vergleichsweise harmlos erscheint die Anforderung des § 100 Abs. 5 AktG, dass mindestens ein unabhängiges Mitglied über Sachverstand auf den Gebieten Rechnungslegung oder Abschlussprüfung haben bzw. im Szene-Slang ein „Financial Expert“ sein muss. Deutlich einschneidender ist die Frauenquote von mindestens 30% für Aufsichtsräte von Gesellschaften, die dem Mitbestimmungsgesetz unterliegen (hier). Eher schlagend werden die Besetzungsprobleme allerdings durch das – natürlich wiederum neuhochdeutsch zu betitelnde – „Overboarding“. Lässt das Aktiengesetz noch bis zu 10 konzernfremde Aufsichtsratsmandate zu (ein Vorsitz wird dabei doppelt gezählt), soll gemäß Ziff. 5.4.5 des Deutschen Corporate Governance Kodex die Obergrenze bei drei Mandaten liegen. Außerdem wird dort ausdrücklich ein ausreichendes Zeitbudget für die mit der Übernahme eines Aufsichtsratsmandats verbundenen Pflichten angemahnt.
Wegen des Empfehlungscharakters dieser Regelung und der auch ansonsten überschaubaren Bedeutung des Kodex (hier), dürfte sich eigentlich wenig Anlass für deutliche Veränderungen gegeben. Trotzdem scheint die Aufnahme derart selbstverständlicher Vorgaben in den Kodex gerade einigen angelsächsischen Investoren eine Steilvorlage zu geben, zumindest einzelne der bisherigen Netzwerker aus einem Teil der Aufsichtsräte zu drängen bzw. ihre (Wieder-)Wahl zu erschweren. Hinzu kommt, dass bei systemrelevanten Kreditinstituten in der Nachbearbeitung der Finanzkrise noch strengere Regeln gesetzlich fixiert wurden. So lässt § 25d KWG für aktive Geschäftsleiter als Kontrolleure nur zwei externe Mandate zu und allgemein dürften in solchen Instituten nur Aufsichtsräte tätig werden, die nicht mehr als vier Aufsichtsratsmandate wahrnehmen. Ebenfalls in § 25d KWG wird immerhin die Sachkunde, Aus- und Fortbildung von Aufsichtsräten adressiert, die sich für Nichtfinanzinstitute wiederum nur als Empfehlung in Abschnitt 5.4.5 findet.
Sollte man angesichts all dessen nun jammern oder jubeln? Ist die Selbstreflexion der amtierenden Netzwerker/innen eine hinreichende Basis für den zu erfüllenden Anforderungskatalog deutscher Aufsichtsräte? Ist das Ausweichen auf bisherige Außenseiter wirklich zwangsläufig mit einem Qualitätsverlust des vielleicht wichtigsten Corporate Governance Gremiums in deutschen Aktiengesellschaften verbunden oder wird frisches Blut verkrustete Strukturen aufbrechen? Droht zudem die Aufweichung der ach so langfristigen Ausrichtung deutscher Unternehmen, wenn angelsächsische Heuschrecken als Antwort auf Overboarding & Co. größeren Einfluss gewinnen, oder wird sich dann mehr wohlverstandener Shareholder Value durchsetzen, der bekanntlich alle Cash Flows bis zum Sankt Nimmerleins-Tag berücksichtigt und damit die nachhaltigste aller denkbaren Betrachtungsweisen darstellt?
Selbst und gerade eine noch so teutonische Perspektive kann nicht verleugnen, dass die Geschichte nicht nur Vorbildliches in Sachen deutsche Aufsichtsräte kennt – vielmehr ist die Liste überlieferter Skandale lang und macht nur einen Bruchteil der zwangsläufig schwer schätzbaren Dunkelziffer aus (Wenger, 1996). Natürlich sind die Verhältnisse andernorts nicht zwangsläufig besser, aber Vertreter anglophoner Anleger, die ganz nebenbei die internationale Diversität im Gremium stärken, werden den Status quo deutscher Großkonzerne nicht so schnell und umfassend über den Haufen werfen, dass der nationale Notstand ausgerufen werden muss. Ähnliches gilt hinsichtlich der Menge hierzulande qualifizierter Bewerber für gegebenenfalls frei werdende Aufsichtsratsplätze: Es ist beispielsweise schizophren, einerseits das hohe Lied auf den deutschen Mittelstand zu singen und andererseits nicht ernsthaft darüber nachzudenken, welches Reservoir an geeigneten Köpfen für entsprechende Mandate hier zur Verfügung steht. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass das Aufsichtsrats-Establishment eher den Kontrollverlust über die eigene „Community“ und deren Usancen fürchtet als über die zu beaufsichtigenden Vorstände, aus denen es sich ja sinnigerweise selbst zu einem erheblichen Teil rekrutiert.
Natürlich kann es an einigen Stellen Probleme geben, doch ist dabei Differenzierung angesagt. Die Einschränkung der maximalen Mandatszahl lässt den Betroffenen beispielsweise offen, welche Stellen sie annehmen bzw. ablehnen, während die Frauenquote die Kandidatenauswahl sinnlos beschränkt und gegebenenfalls zu einer „Umkehrdiskriminierung“ führt (hier). Die fundamentale Schlagseite der legislativen Programmatik zur Corporate Governance liegt letztlich in einer unzureichenden Berücksichtigung Anleger- und gesellschaftsrechtlichen Minderheitenschutzes (hier). Während in Sachen Compliance eine Regulierungslawine losgetreten wurde (Knoll, 2015), muss man als Kleinaktionär schon froh sein, wenn der ohnehin unzureichende Rechtsschutz nicht noch weiter aufgeweicht wird.
Insofern könnte der Kampf gegen Overboarding sogar ein kleiner Lichtblick sein, wenn das eine oder andere frei werdende Mandat von einer Person besetzt würde, für die solche Klein(st)aktionäre nicht nur nützliche Idioten sind. Die Erfahrung lehrt uns indessen, keine allzu großen Hoffnungen zu hegen, denn häufig wurden die wenigen vernünftigen Grundsätze letztlich entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung umgesetzt. Ob das alte Problem schon aus Zeitgründen überforderter Aufsichtsräte überhaupt nennenswert reduziert wird, ist damit ex ante genauso offen wie die Frage, welche neuen Probleme man sich damit einkaufen wird. Der Gesamteffekt möglicher Änderungen in der Besetzung deutscher Aufsichtsräte wird zwar ex post erkennbar werden, aber für den Privatanleger am deutschen Aktienmarkt auch überschaubar bleiben. Große Sorgen sind also ebenso wenig angebracht wie überzogene Erwartungen an den „New Normal“ oder in den Worten von Karl Kraus: „Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst!“
Literatur:
Wolfang Gerke, Editorial der DBW 1/2002, S. 1-3
Leonhard Knoll, ZRFC – Risk, Fraud & Compliance, 10. Jg. (2015), S. 150-155.
Ekkehard Wenger, Wirtschaftsdienst, 76. Jg. (1996), S. 175-180
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