Der slowakische Europa-Abgeordnete Richard SulÃk hat in der sonntäglichen Talkshow von Anne Will die offenbar vorherrschende Sichtweise vieler osteuropäischer Regierungen zur Europäischen Union trefflich auf den Punkt gebracht. Die Europäische Union sei eine „Vertragsgemeinschaft“, keine „Wertegemeinschaft“. Die Botschaft an die Zuschauer war dabei klar: Wenn die Bürger (s)eines Landes keine Flüchtlinge aufnehmen wollen, dann muss der Rest der EU dies akzeptieren, denn die europäischen Verträge zwingen kein Land direkt dazu, Flüchtlinge aufzunehmen.
Man kann eine solche legalistische Position vertreten (auch wenn sie mindestens im Hinblick auf das internationale Menschenrecht fragwürdig ist), sie ist jedoch dazu angetan, die Europäische Union nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich zu erschüttern. In das Ökonomische übersetzt bedeutet Wertegemeinschaft, dass eine gemeinsame Basis an informellen (und teilweise auch formellen) Institutionen existiert, die hilft, Transaktionskosten zu senken und damit wirtschaftliche Aktivität zu erleichtern. So hängt beispielsweise das Vertrauen internationaler Investoren nicht nur an bestehenden Gesetzen, sondern auch an dem Empfinden, dass Vertragspartner eine ähnliche Sichtweise auf Geschäftsbeziehungen haben wie sie selbst. Gerade die Länder Osteuropas, die stark vom EU-Binnenmarkt abhängen, haben viel zu verlieren, wenn sie sich vom europäischen Wertekern entfernen und sich als Beutegemeinschaft gerieren, wie Bundesjustizminister Maas ihnen in derselben Talkshow vorwirft: „Heuchelei ist es, alle Vorteile anzunehmen und sich dann, wenn es um Solidarität geht, wegzuducken.“
Die Aussage SulÃks hat einen tieferen Kern auch jenseits der Flüchtlingskrise, denn der Zustand der EU ist seit Längerem, vor allem aber seit dem Beginn der Finanzkrise, beklagenswert. Nahezu alle Mitgliedsländer haben sich bereits aus unterschiedlichen Gründen missverstanden oder benachteiligt gefühlt und mangelnde Solidarität der Partner angeprangert. In einem schwachen Wachstumsumfeld wenden sich immer mehr Mitgliedsstaaten dem Nationalismus zu, der zumindest Identität stiftet, wenn schon wirtschaftlich keine Fortschritte zu erwarten sind. Diese Haltung wird auf die europäische Ebene getragen, wo die schwerfälligen Entscheidungsprozesse im Europäischen Rat durch nationale Egoismen weiter behindert werden. Dem langen, weitgehend unsolidarisch ausgetragenen Streit um die europäischen Rettungsschirme folgten die zähen Verhandlungen mit Griechenland und nun – teilweise als Gegenreaktion auf früheres Verhalten – wird eben Deutschland die Aufnahme der Flüchtlinge nahezu alleine überlassen.
Wenn sich aber jeder selbst der Nächste ist, wenn Blockade das Mittel der Wahl ist und wenn das politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Auseinanderdriften von immer mehr Mitgliedsstaaten lediglich noch als bedauerliche, aber unvermeidliche Entwicklung akzeptiert wird, dann bewegen sich die Mitglieder der EU sehenden Auges in ein Gefangenendilemma, in dem wirtschaftliche Entwicklung durch Entfremdung ausgebremst wird. Von Kooperation und verstärkter wirtschaftlicher Integration in einem großen europäischen Wirtschafts- und vor allem Wettbewerbsraum würden alle Mitgliedsstaaten profitieren und die entstehenden Wohlfahrtsgewinne könnten – wenn nötig und gewollt – zur Reduzierung von Ungleichheiten eingesetzt werden. In einer wirtschaftlich vor sich hin dümpelnden EU dagegen gibt es nichts zu verteilen, so dass alle aktuell bestehenden Verteilungskonflikte bestenfalls als Nullsummenspiele ausgetragen werden können. Jedem Gewinner steht mindestens ein Verlierer entgegen.
In einer Wertegemeinschaft wäre die Chance, sich auf gemeinsame Maßnahmen zu einigen, deutlich größer, auch und gerade wenn diese sich auf die verschiedenen Mitgliedsstaaten zunächst unterschiedlich schnell und stark auswirken. Eine Wertegemeinschaft gründet sich auf ein gegenseitiges Verständnis und Vertrauen, so dass ein Warten auf den eigenen Erfolg akzeptabel wird. Europas Politiker und Bevölkerungen bleibt in ihrem eigenen Interesse zu wünschen, dass sie sich wieder auf ihre gemeinsame (Ideen-)Geschichte und ihre Traditionen besinnen. Gemeinsame Werte sind nicht nur ein Wohlfühlfaktor, sondern sie haben, was allzu oft übersehen wird, wirtschaftliche Wirkungen. Dass die Richard SulÃks der EU hieran nicht glauben und stattdessen Signale in die Gegenrichtung senden, sei ihnen im Sinne des Wertes Meinungsfreiheit solange unbenommen, wie sie damit keine negativen Externalitäten für die EU-Partner heraufbeschwören. Wird aber das verantwortungslose und wertefreie Trittbrettfahren der neue Handlungsmaßstab innerhalb der EU, dann ist es an der Zeit, innerhalb der EU über eine Koalition der (Werte-)Willigen zu diskutieren.
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Zu den Werten der EU zählt sicherlich aber auch, dass man sich untereinander ein bisschen abstimmt, bevor man etwas entscheidet, das „exterene Effekte“ für andere Länder hat. Frau Merkel hat dies ja bekannterweise nicht getan und sich ganz auf ihren Status als „mächtigste Frau der Welt“ verlassen.
Ein nützlicher Wert ist sicherlich auch eine „vorrausschauende Politik“. Als 2012 die ersten Hilferufe des UNHCR bzgl. der Zustände in den Flüchtlingslagern um Syrien herum kamen, hätte man mit ein paar Milliarden viel erreichen können – auch viele Flüchtlinge vor dem Ertrinken im Mittelmeer bewahren können.
Leider gibt es bis heute keine vernüftigen Plan, wie die Situation in den Flüchtlingslagern verbessert werden kann. Stattdessen macht Frau Merkel sich nun von Herrn Erdogan abhängig – dessen Wertesystem ja auch nicht so ganz mit dem Europäischen Standards übereinstimmt.
Ein hervorragendes Plädoyer für eine starke EU!!! Ich frage mich, warum so viele Menschen nicht aus der Geschichte Europas lernen. Es müsste doch jedem halbwegs geschichtsbewussten Menschen klar sein, wie essentiell Kooperationsbereitschaft und eine gemeinsame Wertebasis für den demokratischen Frieden und die ökonomische Prosperität in Europa sind. Man gebe mir ein Beispiel, wo Abschottung und Nationalismus langfristig zu mehr Wachstum geführt haben?
Das heutige neue EuGH-Urteil zur Aufnahmeverpflichtung von Flüchtlingen durch Ungarn und die Slowakei zeigt, dass nun auch rechtliche Klarheit herrscht. Die Slowakei von Herr Sulik akzeptiert immerhin zähneknirschend das Urteil und wird wohl Flüchtlinge aufnehmen. Anders Ungarn: Dort will man das Urteil ignorieren. Nun ist die EU also nicht nur keine Wertegemeinschaft mehr, sondern auch keine Vertragsgemeinschaft…