Innovationen erscheinen in den Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen oftmals nicht rechtzeitig und vollständig. Vielmehr sind dort nur die negativen Substitutionseffekte sichtbar. Ist dies jedoch ein Marktphänomen, dann sollte sich dies auch in einer schwächeren Marktproduktion und Produktivität sowie in einem engeren Verteilungsspielraum zeigen. Um die mit der digitalen Revolution entstehenden privaten neuen Gütern und die damit verbundenen Wohlstandseffekte zu berücksichtigen, bietet sich eine gesonderte Analyse in einer Satellitenrechnung an. Damit kann eine Überfrachtung des wichtigen BIP-Konzepts verhindert werden.
Das Produktivitätswachstum hat in vielen Ländern in den letzten Jahren stark nachgelassen (hier). Viele vermuten mit ganz unterschiedlichen Argumenten, dass diese Schwäche ein bleibender Zustand, also eine säkulare Stagnation darstellen kann. In diesem Kontext wird auch angeführt, dass möglicherweise die makroökonomischen Rechenwerke nicht gut genug sind, um das Wirtschaftsleben und seine Veränderungen adäquat zu erfassen. Ist die Produktivitätsschwäche letztlich nur die Folge eines „statistical mismeasurements“? Vor allem wird in diesem Zusammenhang vermutet, dass die großen Produktions- und Produktivitätseffekte der sogenannten Digitalen Revolution nicht (ausreichend) erfasst werden. Eigentlich wären wir demnach viel besser als es uns die Statistiken ausweisen.
Das Problem, dass neue Güter und insbesondere Basistechnologien zu statistischen Verzerrungen bei der Produktions- und Produktivitätsentwicklung führen können, wurde bereits prominent von Robert Solow im Jahr 1987 mit dem häufig zitierten Satz „You can see the computer age everywhere but in the productivity statistics.“ artikuliert. Die zunehmende Produktion und Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien während der New Economy-Phase in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre warfen bereits eine Reihe von statistischen Messproblemen auf. In den letzten Jahren hat diese Diskussion neuen Auftrieb infolge der Digitalen Revolution bekommen (siehe Grömling, 2016).
Neue Güter, die damit verbundene Produktion sowie der damit einhergehende Strukturwandel sind oftmals über einen bedeutsamen Übergangszeitraum mit den herkömmlichen Klassifikationen nicht sichtbar. Besonders bei Informationsgütern mit Netzwerkcharakter kann es zu einen abrupten Umkippeffekt kommen. Wird eine kritische Masse erreicht, dann kann der Verbrauch in einem relativ kurzen Zeitraum in hohem Maß von einem bisherigen auf ein neues Gut umschwenken. Als ein potenzielles Beispiel können die Nutzung eines gebundenen und kostenpflichtigen VGR-Buches einerseits und die kostenlose Nutzung von Internetbeiträgen zur VGR (z.B. Wikipedia-Einträge) genannt werden. Sobald die technischen Voraussetzungen – z. B. Computer, Smartphones, permanenter Internetzugang – eine entsprechende Verbreitung haben, kann ein solcher Substitutions- und Umkippprozess in Gang kommen.
Für die Produktions- und Produktivitätsmessung hat dieses Phänomen merkliche Auswirkungen, falls aufgrund der statistischen Klassifikationen und von Erhebungsproblemen nur die herkömmlichen Güter erfasst werden. Während einerseits die Nutzung der neuen Güter (z.B. Internetartikel zur VGR) nicht in den Produktionsstatistiken erscheint, schlägt sich andererseits dort aber der Produktionsrückgang der früher etablierten Güter (VGR-Bücher) vollständig negativ nieder. Dieser Mess-Bias hat nicht nur Auswirkungen auf das Niveau und die Struktur der Entstehungs-, Verwendungs- und Einkommensseite der gesamtwirtschaftlichen Leistung, also des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Auch die Wachstumsraten des BIP insgesamt und seiner Teilbereich können vor allem in den Übergangsphasen solcher technologischer Neuerungen verzerrt werden – mit den entsprechenden Auswirkungen auf die Produktivitätsmessung.
Beim marktlichen Leistungsaustausch zwischen Unternehmen, dürfte grundsätzlich eine statistische Messung möglich und somit eine Untererfassung der Produktion generell vermeidbar sein. Als Beispiele können mit Blick auf die Digitalisierung entsprechende IT- oder R&D-Leistungen im Umfeld des betrieblichen Internets der Dinge genannt werden. Für diese Leistungen gibt es Preise und Umsätze. Sie können in den VGR als Wertschöpfung und Vorleistung ausgewiesen werden. Das gleich gilt im Prinzip auch für den Leistungsaustausch zwischen Unternehmen und privaten Haushalten. Hier wird zwar ein herkömmliches Gut (gebundenes VGR-Buch) durch ein neues Gut (kostenpflichtiger Download des digitalen VGR-Buches) substituiert. Beide Leistungen werden jedoch zu Marktpreisen bewertet und können statistisch als Wertschöpfung und als Konsum erfasst werden. Freilich ist bei digitalen Leistungen auch die Preismessung stark gefordert, vor allem um den permanenten Qualitätsverbesserungen adäquat Rechnung zu tragen.
Eine statistische und ökonomische Herausforderung stellt vor allem die kostenlose Bereitstellung von Gütern durch Konsumenten für Konsumenten dar. Werden dabei Marktleistungen zwischen Unternehmen und Endverbrauchern substituiert, dann entspricht dies überspitzt einem Abgleiten von gesamtwirtschaftlichen Leistungen in die Schattenwirtschaft. Als Beispiel kann die kostenlose Nutzung von privat erstellten digitalen Dienstleistungen im Internet (wie z.B. Musik, Spiele, Lexika, Beratung) genannt werden. Mit der herkömmlichen Messung in den VGR werden zwar die zur Nutzung notwendige (einmalige) Anschaffung der Hardware (z.B. Smartphone oder Computer) sowie die (monatliche) Nutzungsgebühr für den Internetzugang sowie etwaige Ausgaben für die Werbung im Internet erfasst. Die tatsächlich genutzten, meist kostenlosen Daten und Dienste erscheinen jedoch kaum, meistens überhaupt nicht im gemessenen Konsum sowie entsprechend auf der Entstehungs- und Einkommensseite. In einer Reihe von Fällen werden vielmehr nur die das BIP mindernden Substitutionswirkungen erfasst.
Als Beispiel kann die Sharing-economy genannt werden. Auf Basis der neuen Kommunikationstechnologien können private Konsumenten erheblich einfacher (langlebige) Gebrauchsgüter gemeinsam nutzen. Für diese Leistungen, die zweifellos für alle Beteiligten eine Wohlfahrtssteigerung bedeuten, werden keine marktmäßige Beschäftigung, Einkommen, Wertschöpfung und Konsum ausgewiesen. Vielmehr kann es dazu kommen, dass aufgrund der effizienteren Nutzung der bestehenden Güterbestände (z.B. Fahrzeugflotte oder Werkzeuge) die Käufe und die Produktion von neuen Gütern (PKW oder Bohrmaschinen) zurückgehen. Positiv zu Buche schlagen die Käufe von Hardware (z.B. Smartphones) zur Nutzung dieser Dienstleistungen. Möglicherweise werden dazu in Zukunft (private) digitale Zahlungsmittel eingesetzt, um die privaten Tauschleistungen jenseits der etablierten monetären Sphäre zu vollziehen.
Vor dem Hintergrund einer nicht ausreichenden Erfassung von neuen Gütern infolge der Digitalisierung wurden bereits Verfahren entwickelt, um den Wert dieser Leistungen zu schätzen. Zum Beispiel wird eine Konsumentenrente für Internetleistungen ermittelt. Oder auf Basis von Opportunitätskosten sollen Rückschlüsse auf den Wert dieser Leistungen und den entsprechenden Konsum gewonnen werden.
Es gibt durchaus gute Gründe dafür, den Wert von privaten Dienstleistungen, die durch die Digitale Revolution erst möglich werden, zu erfassen und nicht zu ignorieren. Diese digitalen Leistungen erhöhen die Wohlfahrt in einem Land, was jedoch in den VGR nicht oder kaum sichtbar wird. Damit wird das Niveau, die Struktur und die Veränderungen der gesamtwirtschaftlichen Leistungen nicht mehr adäquat widergegeben. Das BIP und andere VGR-Größen verlören dann an ökonomischer Aussagekraft für Konjunktur-, Struktur- und Verteilungsanalysen.
Dies stimmt möglicherweise, aber nur auf den ersten Blick:
- Zurückdrängen von Marktfakten: Die angesprochenen Modellschätzungen bieten zunächst einmal eine Annäherung an die wahrgenommene Realität. Bei ihrer Integration in die VGR gilt allerdings zu bedenken, dass damit das Gewicht der modellbasierten Komponenten und der Modellgehalt der VGR insgesamt weiter ansteigt. Tatsächliche Beobachtungen und Informationen über messbare Marktaktivitäten verlieren relativ an Bedeutung. Dies war bei einer Reihe von bisherigen VGR-Revisionen der Fall und führte dazu, dass die VGR teilweise an Aussagekraft für Konjunkturanalysen einbüßte (Brümmerhoff/Grömling, 2012).
- Artifizielle Einkommen: Jeder möglicherweise gut begründbare Eingriff in eine Teilrechnung erfordert entsprechende Anpassungen in den anderen Teilrechnungen der VGR. Mit einem zusätzlichen digitalen Konsum entstehen im Systemzusammenhang auch entsprechende VGR-Einkommen, die möglicherweise in der Realität nicht leicht oder überhaupt nicht zu interpretieren sind. Die VGR-Generalrevision von 2005 und dabei das neue Konzept zur Messung von Finanzserviceleistungen (FISIM) hatte markante Auswirkungen auf die funktionelle Einkommensverteilung und ihre Interpretation (Brümmerhoff/Grömling, 2012). Eine künftige Einarbeitung von bestimmten digitalen Leistungen kann mit vergleichbaren Effekten auf die Einkommensrechnung einhergehen und für entsprechende Irritationen bei der Einkommensinterpretation sorgen. Definition und Höhe der makroökonomischen Einkommen entfernen sich dann möglicherweise weiter von der Realität.
- Nachlassende Produktions- und Marktorientierung: Inlandsprodukt und Nationaleinkommen sind explizit keine direkten Maßstäbe für den Wohlstand, sondern vorwiegend für die gesamtwirtschaftliche Marktproduktion und die damit verbundenen Markteinkommen. Dieses spielt wiederum für den Wohlstand eine große Rolle (Enquete-Kommission, 2013). Ein umfassender Produktionsbegriff in den VGR soll dem Tatbestand Rechnung tragen, dass eine (besteuerbare) Entlohnung in Geld für die entsprechenden Arbeits- und Unternehmensleistungen stattfindet. Auch mit Blick auf die Einarbeitung der digitalen Ökonomie in die VGR sollte die Entlohnung in Geld und die damit verbundene Marktorientierung dominieren. Nur die faktisch entstandenen Einkommen sind für viele wirtschaftspolitische Fragestellungen – z. B. im Bereich der Besteuerung oder Schuldentragfähigkeit – relevant. Das gleiche gilt auch für das Abstecken von makroökonomischen Verteilungsspielräumen. Letztlich stehen nur die Produktion, die Produktivität und die Einkommen, die im marktlichen und marktnahen (z.B. Staat und private Organisationen ohne Erwerbszweck) Bereich realisiert werden, zur Disposition. Konsum-, Wertschöpfungs- und Einkommensäquivalente, die in Ermangelung von tatsächlichen Informationen über Modelle berechnet werden, werfen vermutlich zusätzliche Probleme auf. So wichtig gute und umfassende Informationen über einen möglicherweise wachsenden Teil der digitalen Ökonomie für die Belange der Wohlfahrtsmessung sind, so problematisch können sie für wirtschafts- und verteilungspolitische Analysen und Schlussfolgerungen sein.
Insbesondere die Übergangsphase von technologischen Neuerungen, vor allem in Zeiten von sogenannten Umkippeffekten, kann mit merklichen Dämpfeffekten auf die Produktion und die Produktivität einhergehen. Während ein Teil der neuen Güter nicht in den VGR erscheint, sind dort aber vor allem die negativen Substitutionseffekte voll sichtbar. Wenn die digitale Revolution zur teilweisen Substitution von Marktleistungen durch privat erbrachte Leistungen führt, dann sollte sich dies auch entsprechend in einer schwächeren Marktproduktion und der darauf basierenden Produktivität zeigen. Der sich im Marktprozess ergebende Verteilungsspielraum wird dann eben auch enger. Um die mit den neuen Gütern verbundenen Wohlstandseffekte zu berücksichtigen, bietet sich eine gesonderte Analyse in einer Satellitenrechnung zur VGR an. Diese würde dann versuchen, den im Nicht-Marktbereich entstehenden Wohlstand zu quantifizieren. Hier können auch mit den neuen Berechnungsmethoden wichtige Erfahrungen gewonnen werden. Die Kombination beider Betrachtungsweisen würde dann differenziert die gesamte Wohlstandsposition ergeben. Vor allem würde eine Überfrachtung und Schwächung des wichtigen BIP-Konzepts verhindert werden.
Quellen:
Brümmerhoff, Dieter / Grömling, Michael, 2012, Ökonomische Auswirkungen von VGR-Revisionen, in: AStA – Wirtschafts- und Sozialstatistisches Archiv, Vol. 6, Hefte 3–4, S. 133–148
Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität, 2013, Abschlussbericht Projektgruppe 2 „Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators, Deutscher Bundestag, Kommissionsdrucksache 17(26)87, Berlin
Grömling, Michael, 2016, Digitale Revolution – eine neue Herausforderung für die Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen?, in: Wirtschaftsdienst, Nr. 2, S. 135–139
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Es könnte in der Tat sinnvoll sein, ein BIP zu berechnen, das nur auf Markttransaktionen beruht und ein BIP, das nur die Eigenverbrauchsproduktion schätzt. Das SNA 2008 schlägt eine Aufteilung in monetäre und nicht-monetäre Wertschöpfung für Länder mit hohem Anteil von Subsistenzwirtschaft ja bereits vor.
Das könnte auch für entwickelte Länder sinnvoll sein. Der Grund, weshalb alle am Quartalsende auf das BIP und nicht auf die diversen „Glücksindikatoren“ etc. starren, ist die hohe Korrelation des BIP-Wachstums mit dem Geschehen auf dem Arbeitsmarkt.
Diese Korrelation könnte bei einem auf reinen Markttransaktionen beruhendem BIP noch stärker sein, als bei dem Hybrid-BIP, dass derzeit von den Ämtern berechnet wird: Die Wertschöpfung durch den bestehenden Immobilienbestand u.ä. hat sicherlich keine Auswirkung auf den Arbeitsmarkt…
Ein sehr interessanter Beitrag von Prof. Grömling – vielen Dank.
Ich möchte das unbedingt unterstreichen und um eine Analogie ergänzen: auch auf Branchen- und Unternehmensebene ist der Effekt klar erkennbar. „Industrie 4.0“ ist in aller Munde und überall laufen Aktivitäten, die mit zum Teil enormen Investitionen verbunden sind. Ganz vorne mit dabei sind Schlüsselbranchen wie etwa der Maschinen- und Anlagenbau. Doch genau dort sieht es mit Produktivitätsgewinnen schon seit einiger Zeit düster aus – zumindest wenn man sich die Zahlen ansieht, die üblicherweise als Indikator ins Feld geführt werden. Seit vielen Jahren, stattliche Zeitreihen hat man da mittlerweile.
Nun stellt sich schon die Frage: warten die Produktivitätsgewinne tatsächlich bereits um die Ecke? Sind die schlechten Werte lediglich der Ausdruck dessen, dass man sich eben in einer Generierungsphase befindet? Es wird eben noch gesät, demnächst dann die fette Ernte eingefahren! Wirklich? Ich habe da so meine Zweifel! Es ist schon so, dass der Mehrwehrt der Digitalisierung ganz sicher noch lange nicht voll durchschlägt und die Unternehmen sich tendenziell eher im Umbruch befinden. Allerdings – so meine These – werden die Früchte diesesmal sehr ungleichmässig verteilt werden. Wer zu langsam oder unspezifisch ist in seinen Bemühungen, der wird beim Ernten nicht dabei sein und bleibt auf den Kosten und der sodann ramponierten Wettbewerbsfähigkeit sitzen!
Daher ist es meines Erachtens den Unternehmen dringend anzuraten, bereits in der jetzigen Umbruchsphase nach geeigneten Indikatoren zu suchen, die den Zustand und Fortschritt des eigenen Unternehmens möglichst gut abbilden – und zwar bezogen auf die Erreichung eines hinreichend scharfen und spezifischen Zielfotos des eigenen Geschäfts. Das Fieberthermometer tradierter Produktivitätsmessung taugt hierfür immer weniger. Zudem kommt es mehr denn je auch auf das Tempo an, denn wie gesagt: es werden nicht alle dabei sein bei der Ernte. Die Schnellen eher als die Langsamen. Tempo machen heisst für Klarheit, Orientierung und Konsequenz sorgen. Und das ist oberste Führungsaufgabe, das ist nicht delegierbar. „Industrie 4.0“ verlangt „Führung 4.0“ – siehe z.B. hier: http://kimsg.ch/index.php?p=Ausblick.
Mit freundlichen Grüssen,
Dr. Christian Abegglen