Endlich wird in der Bundesrepublik etwas unternommen, um vergangenes Unrecht an den homosexuellen männlichen Bürgern anzuerkennen und eine rechtliche Rehabilitation anzustreben. Das war überfällig. Trotzdem ist die Freude über das, was nun gesagt und hoffentlich auch getan werden wird, nicht ungetrübt. Die selbstgefällige Naivität, mit der man behauptet, schon immer gewusst zu haben, wie es richtig ist und wie man’s machen soll, ist nur lächerlich. Wer weiß, was geschehen wird, wenn die nächste weltanschauliche Sau durch das globale Dorf getrieben wird? Wir werden dann wohl zu hören bekommen, dass auch die jeweils neuesten Strömungen des Zeitgeistes von jeher unerkannt in den Tiefen der deutschen Verfassung schlummerten.
Es heißt, die strafrechtliche Verfolgung jener, die homosexuelle Beziehungen eingingen, habe schon immer gegen die Menschenwürde verstoßen. Die Homosexuellen, von denen viele mit dem rosa Winkel verziert, mit deutschen KZs Bekanntschaft gemacht hatten, hatten das Unglück, dass die Väter des Grundgesetzes die Menschenwürde anders sahen. Nach dem Ende der Nazizeit hielt die Bundesrepublik Deutschland an der strafrechtlichen Verfolgung der Homosexuellen nach dem Paragrafen 175 fest. Bedenken, dass diese Verfolgung gegen die Menschenwürde verstoßen könnte, hatte man nicht. Man hatte im parlamentarischen Rat, der das Grundgesetz zu beraten hatte, aber sehr wohl Bedenken, dass ein Konflikt mit einer ursprünglichen, insbesondere von der sozialdemokratischen Partei Deutschlands unterstützten Fassung des Artikels 2 Grundgesetz, der die freie Entfaltung der Persönlichkeit schützt, hätte auftreten könnte. Mit der ursprünglichen Fassung wäre eine weitere Bestrafung homosexueller Beziehungen nicht möglich gewesen. Weltanschaulich gefestigte christliche Kreise wussten in einem Akt barmherziger Liebe zu verhindern, dass dem parlamentarischen Rat ein solcher Lapsus unterlaufen konnte und sorgten dafür, dass die freie Entfaltung er Persönlichkeit im Art. 2 GG unter Bezugnahme auf „überpositive“ abendländische rechtliche Werte per Gesetz auf ein „angemessenes“ Maß eingeschränkt werden konnte.
Wie die Nazis argumentierten die Anhänger einer strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Beziehungen mit Werten, die über dem positiven Recht stehen sollten. Deswegen waren sie nicht gleich Nazis. Wir sollten uns aber klarmachen, dass dies die gleichen Kreise waren, die sich heute mit viel moralischer Koloratur in der Stimme bei jedem passenden und unpassenden Anlass auf den Schutz der Menschenwürde ausspielen. Das sollte relativieren, was die entsprechenden religiösen Kreise über Selbsttötung und ähnliche von ihnen für Abscheulichkeiten gehaltene Akte zu sagen haben. Wer sich aussuchen will, welche Freiheiten persönlicher Entfaltung er akzeptieren und zulassen möchte je nach der eigenen Weltanschauung und nicht nach plausiblen Schädigungen anderer ist kein glaubhafter und vertrauenswürdiger Verteidiger von Freiheit auch gegen Mehrheiten, sondern ein Fähnlein im Winde der Mehrheitsmeinungen.
Wir leiden nicht an einem Mangel an Engagement für moralische Auffassungen, sondern an einem Mangel an Selbstbescheidung. Toleranz besteht in Toleranz, nicht im Eintreten für eine bestimmte moralische Auffassung. Zwar haben wir Anlass, uns über die Emanzipation sexueller Minoritäten zu freuen und auch darüber, dass wir die Vergangenheit nicht einfach verdrängten, sondern heute auf ausdrückliche Rehabilitation aus sind. Aber leider werden wir keineswegs sensibler hinsichtlich vieler kleiner Eingriffe in persönliche Freiheiten zugunsten der jeweils für die guten Sachen dieser Welt gehaltenen Anliegen. Die Unduldsamkeit der Mehrheit zeigt sich nun unduldsam gegenüber einer früheren Mehrheit. Das ist im Ergebnis gut, aber an sich ist unduldsame Selbstgerechtigkeit schlimm, selbst wenn sie einmal gutes wirkt.
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