„Eine gesunde Wirtschaft ist die unentbehrliche Voraussetzung für eine leistungsfähige Sozialpolitik. Die beste Sozialpolitik ist daher eine vernünftige, mit der Wirklichkeit rechnende Wirtschaftspolitik. Ihre Aufgabe besteht darin, dafür zu sorgen, dass sich der Übergang mit möglichst geringen Erschütterungen vollziehen kann. Zu dem Zwecke ist von der allergrössten Wichtigkeit, die Preis- und Lohnentwicklung so zu zügeln, dass sich unser Produktionskostenniveau nicht zu weit von der Ebene der internationalen Konkurrenzfähigkeit entfernt. Das ist ohne Opfer und Verzichte nicht möglich.“[2]
Diese Worte wählte 1943 der freisinnige Bundesrat und Wirtschaftsminister Walther Stampfli während einer Nationalratsdebatte. Der Vater der AHV hob damit das wichtigste Sozialwerk der Schweiz aus der Taufe. Rund 70 Jahre später haben seine Worte kaum an Bedeutung und Aktualität eingebüsst. Auch heute sollte sich die Wirtschaftspolitik an den Wirklichkeiten orientieren. Und auch heute befindet sich die Wirtschaft in einer anspruchsvollen Umbruchphase. Wer könnte dies besser beurteilen als die Arbeitgeber – für deren Einladung ich mich sehr herzlich bedanken möchte.
Bei der nun diskutierten Rentenreform 2020 geht es also um viel. Es geht nicht nur um das Erbe von Bundesrat Stampfli, es geht um das Erbe eines Jahrzehnte dauernden Ringens um die soziale Sicherheit in der Schweiz, es geht um die Zukunftstauglichkeit des obligatorischen Rentensicherungssystems, es geht um die Sicherung des in der Bevölkerung so stark verankerten Generationenvertrags.
Übertreibe ich mit diesen starken Worten die Bedeutung der aktuellen Rentenreform? Sie mögen einwenden, dass wir viele Reformen hatten, wo grundsätzlicher Reformbedarf angemahnt wurde. Meistens wählte man einen pragmatischen Weg. So waren wichtige politische Akteure in der Gründungsdebatte der AHV für einen konsequenteren Ausbau der sozialen Sicherheit im Sinne eines umfassenden Bedarfssystems nach dem britischen Vorbild des Beveridge-Plans. Wie gut, haben wir damals den pragmatischen Weg eines versicherungsähnlichen Rentensystems gewählt. Das in der Bundesverfassung verankerte Drei-Säulen-System ist historisch gewachsen und entstand nicht aus einem Guss. Nichtsdestotrotz hat sich dieses austarierte Mischsystem bewährt. Die umlagefinanzierte erste Säule reagiert insbesondere auf Veränderungen in der Demographie empfindlich. In der kapitalgedeckten beruflichen Vorsorge ist hingegen die Entwicklung der Finanzmärkte eine grosse Unbekannte. Risiken bilden etwa ein streikender dritter Beitragszahler oder Inflation. Mit den unterschiedlichen Finanzierungsverfahren der ersten und zweiten Säule wird eine Streuung der systemimmanenten Risiken erreicht. Alles in allem eine kluge Streuung unterschiedlicher Risiken.
Sie mögen weiter einwenden, dass die demografischen Fakten längst bekannt sind. Richtig, bereits der IDA-Fiso Bericht über die Finanzierungsperspektiven der Sozialversicherungen von 1996 zeigte, das beste System nützt wenig, wenn es nicht die demographischen und versicherungsmathematischen Wirklichkeiten widerspiegelt. Das gilt auch heute: So stieg die Lebenserwartung der 65-Jährigen seit 1948 bei den Frauen von 14 auf 22,4 Jahre, bei den Männern von 12,4 auf 19,5 Jahre. Erhöht wurde das gesetzliche Rentenalter der Männer jedoch nie, jenes der Frauen sogar gesenkt. Der Anstieg der Lebenserwartung ging also vollständig zugunsten einer längeren Rentenbezugsdauer. Heute finanzieren rund 3,5 Erwerbstätige einen Rentner. Gemäss dem Referenzszenario des BFS werden es bereits 2030 nur noch 2,5 sein. Bis zur Jahrhundertmitte wird sich die Zahl der über 65-jährigen von heute rund 1,5 Millionen nahezu verdoppeln. Demgegenüber wird die Zahl der Kinder- und Jugendlichen nur noch leicht ansteigen und deutlich unter 2 Millionen verharren. Auf einen Rentner werden in der AHV noch zwei Beitragszahler fallen. Dieses sukzessiv ansteigende Ungleichgewicht, gepaart mit der längeren Rentenbezugsdauer stellt ein umlagefinanziertes Rentensystem wie die AHV vor erhebliche finanzielle Herausforderungen.
Dringender Handlungsbedarf
Trotzdem, ich bleibe dabei. Bei der Rentenreform 2020 geht es um viel. Eine Trendwende stellte das Jahr 2014 dar. Erstmals seit 1999 rutschte die AHV in die roten Zahlen. 2015 betrug das negative Umlageergebnis bereits 579 Millionen Franken. Ohne Gegenmassnahmen dürfte das negative Umlageergebnis schon bald auf mehrere Milliarden Franken pro Jahr anwachsen. Im Referenzszenario des BFS wäre bei geltender Ordnung 2030 mit einer Finanzierungslücke von 7,5 Milliarden Franken zu rechnen. Bereits Mitte 2020 wird der Ausgleichsfonds in Liquiditätsprobleme kommen. Wenige Jahre später dürften die Mittel vollständig aufgebraucht sein. Weder die Kapitalerträge des Ausgleichsfonds noch eine mögliche Schuldenrückzahlung der IV werden die rasante Liquiditätsabnahme stoppen können. Der Druck kommt von einem ungemütlich starken Anstieg des Altersquotienten – dem Anteil Rentnerinnen und Rentner an der Erwerbsbevölkerung. Der doch dramatische demografische Übergang trifft uns die nächsten Jahre mit voller Härte und stabilisiert sich erst wieder gegen 2050. Diese Szenarien sollten uns zu denken geben. Es geht tatsächlich um viel bei der Rentenreform 2020.
Welche Stellschrauben stehen zur Verfügung, um den demografischen Übergang adäquat zu adressieren? Klar ist, entweder müssen mehr Einnahmen generiert oder bei den Leistungen Abstriche vorgenommen werden. Auf der Einnahmeseite stehen höhere Lohnbeiträge und die Mehrwertsteuer im Vordergrund. Auf der Ausgabenseite wären Einsparungen unter anderem beim Leistungskatalog oder bei der Rentenanpassung an die Lohn- und Preisentwicklung denkbar. Eine besondere Rolle kommt allerdings dem Rentenalter zu. Mit einer Erhöhung des effektiven Renteneintrittsalters können nämlich gewissermassen zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden: So stärken sowohl die längere Einzahlung als auch die verkürzte Rentenbezugsdauer die finanzielle Nachhaltigkeit des Rentensystems. Es gibt leider keine andere, einfachere Alternative. Es gibt keine Abkürzungen auf dem Weg zu einer langfristig tragfähigen AHV – „Gain without pain“ gibt es nur im Nirvana.
Rentenreform 2020 löst die Probleme nicht
Um die heutigen Renten zu sichern, braucht es eine ausgewogene Lösung, die sowohl für die Gesellschaft als auch für die Wirtschaft tragbar ist. Nur eine opfersymmetrisch gleichmässige Verteilung der Lasten kann dabei eine breite Akzeptanz sichern. Da sind wir uns wohl alle einig. Die latente Angst vor dem Souverän darf nicht dazu führen, dass man sich den Wirklichkeiten verweigert und Notwendigkeiten tabuisiert. Mehr Mut und Bereitschaft zu einem ehrlichen Diskurs wären angezeigt.
Aus meiner Sicht als Ökonom braucht es drei Massnahmen: Erstens führt langfristig kein Weg daran vorbei, das Rentenalter der gestiegenen Lebenserwartung anzupassen. Zweitens müssen durch eine Anhebung der Lohnbeiträge oder der Mehrwertsteuer zusätzliche Einnahmen generiert werden. Und drittens brauchen wir einen Sicherungsmechanismus, der die AHV langfristig zuverlässig und sicher finanziert – eine Schuldenbremse.
Die bisher diskutierten Reformelemente verpassen es allerdings leider, die AHV-Finanzierung ausgewogen und nachhaltig zu sichern. Die Behandlung der Reform erfolgte bisher unter dem Motto „Durchwursteln bis 2030 – nachher interessiert uns nicht“. Die ohnehin schon mageren Einsparungen durch die Angleichung des Renteneintrittsalters 65/65 werden gleich wieder in den AHV-Ausbau umgeleitet. Dies kommt einem Schildbürgerstreich gleich, einer Umverteilung in der heutigen Generation – jedenfalls nicht einer Sicherung der AHV für die Zukunft. Die Absicht, alle Neurenten um 70 Franken zu erhöhen, ist Placebo-Politik mit der Giesskanne. Die mittleren und oberen Einkommen benötigen die Erhöhung nicht. Und bezüglich Altersarmut hilft es auch nicht, da wir in diesem Bereich mit den Ergänzungsleistungen (EL) bereits über das passende Instrument verfügen. EL-Beziehende stünden unter dem Strich sogar schlechter da. Die höhere Rente würde ihnen nämlich eins-zu-eins bei den EL gekürzt. Renten werden im Gegensatz zu EL aber besteuert. Der Leistungsausbau hätte also teilweise eine kaum gewollte Umverteilung von unten nach oben zur Folge.
Warum ist ein Betrachtungshorizont für die Rentenreform 2020 nur bis ins Jahr 2030 so problematisch? Ab 2030 lässt eine weitere Welle die Rentnerzahlen stark ansteigen. Ohne weitere Zusatzfinanzierung wird die AHV spätestens dann ausbluten. Die Entwicklung des Altersquotienten wird den Faktor Arbeit zukünftig noch weitaus stärker belasten. Der jetzt diskutierte Leistungsausbau vergrössert das AHV-Finanzloch per 2030 sogar noch um zusätzliche 1,4 Milliarden Franken pro Jahr. Und nur fünf Jahre später – 2035 – betragen die zusätzlichen Kosten bereits fünfzig Prozent mehr, nämlich 2,1 Milliarden Franken. Diese Entwicklung ist Ausdruck der von Jahr zu Jahr nun akzentuiert stark steigenden Neurentnerzahlen. Gingen 2010 noch 35“˜000 Personen in der Schweiz neu in Rente, so werden es 2030 bereits deren 60“˜000 sein. Die Politik scheint indessen von der unbegründeten Hoffnung getrieben, dass sich die Situation bis 2030 von selbst entschärft. Doch das wird sie vor dem Hintergrund der demografischen Trends nicht. Das nächste Reformpaket müsste also schon kurze Zeit nach der Volksabstimmung über die vorliegende Reform angepackt werden. Ob das der Glaubwürdigkeit in der Politik zuträglich ist, darf bezweifelt werden. Dabei besteht absolut kein Grund zur Annahme, dass das Feilschen um unpopuläre Reformmassnahmen dann einfacher wird. Im Gegenteil. Das Generationen-Ungleichgewicht an der Urne nimmt weiter zu.
Das Elektorat wird älter
Die demographische Entwicklung führt natürlich auch zu einer politischen Machtverschiebung von den Jüngeren zu den Älteren. Das Medianalter der Schweizer Bevölkerung liegt aktuell bei rund 43 Jahren (d.h. 50 % sind jünger und 50 % sind älter als 43 Jahre). Bekanntlich beteiligen sich ältere Menschen an der Urne aber wesentlich stärker als die jüngeren Generationen. Gemäss Forschungsinstitut gfs.bern ist der entscheidende Medianwähler bei Volksabstimmungen inzwischen 56 Jahre alt.[3] Der Altersquotient unter den Stimmenden beträgt 43 % (30 % über 65; 70 % darunter). In welche Richtung sich Medianalter und folglich auch Medianwähler zukünftig weiter verschieben, können sie sich selbst ausdenken. Die Schweiz findet sich gewissermassen im Wandel zu einer Gerontokratie, einer Herrschaft der Alten.
Wenn nun also eine Alterspolitik betrieben wird, welche die aktiven und künftigen Generationen weitaus stärker belastet, handeln viele in der Politik durchaus rational. Mit jungen Wählern lassen sich kaum Stimmen gewinnen. Und die zukünftigen Generationen sitzen noch gar nicht mit am Tisch. Natürlich haben jene Recht, die betonen, dass die Vorlage referendumsresistent sein müsse. Sie machen es sich aber zu einfach, wenn sie dem Rentenalter den Status einer heiligen Kuh verpassen und Leistungen nicht nur zementieren sondern sogar noch ausbauen wollen. Sie opfern damit die Interessen der aktiven und insbesondere der zukünftigen Generationen auf dem Altar der Älteren. Die ökonomischen Wirklichkeiten werden uns irgendwann einholen. Je länger man zuwartet, desto schwieriger wird es, die AHV auf gesunde Beine zu stellen. Gemeinhin unpopuläre Massnahmen werden demografiebedingt zukünftig noch stärker mit Widerstand rechnen müssen. Mit der vorliegenden Reform wird wenig Zeit extrem teuer erkauft.
Der sozialdemokratische Bundesrat und Finanzminister Willi Ritschard meinte 1980 in einer Rede zu den Finanznöten des Bundes:
„Wir laufen so Gefahr, dass wir von den echten Zukunftsaufgaben des Landes abgelenkt werden. Wir betrachten mehr und mehr auch langfristige Probleme nur noch aus der Optik, die kurzfristig für die Kasse günstig erscheint. Aber gerade diese Optik kann sich in vielen Fällen auf lange Sicht als die falsche erweisen. Der Politiker ist ein Arbeiter im Weinberg des Herrn. Er muss sich mit den nächsten Jahrgängen beschäftigen und nicht mit dem, den er bereits verkauft hat.“[4]
Generationengerechtigkeit in Frage gestellt
In der gegenwärtigen Rentenpolitik scheint sich allerdings leider kaum jemand mit den nächsten Jahrgängen beschäftigen zu wollen. Die Generationengerechtigkeit wird bereits im Status quo und verstärkt in den diskutierten Reformalternativen arg in Mitleidenschaft gezogen. Bereits heute werden jüngere Generationen in der AHV deutlich stärker zur Kasse geben als ältere Generationen und Rentner. Gemäss Bernd Raffelhüschen von der Universität Freiburg im Breisgau bestehen in der AHV ungedeckte Leistungsversprechen gegenüber heutigen und zukünftigen Generationen in der Höhe rund 1000 Milliarden Franken.[5] Bei geltender Ordnung beträgt die AHV-Finanzierungslücke 173,4 % des Schweizer BIP. Jüngere und zukünftige Generationen werden wohl zu einem grossen Teil für dieses Loch aufkommen müssen. Der Vorschlag des Bundesrates würde die Finanzierungslücke der AHV auf 82 % des BIP reduzieren. Der Löwenanteil kommt durch die Erhöhung der Mehrwertsteuer zustande. Die ausgabenseitigen Massnahmen tragen hingegen nur marginal zur Verbesserung der Nachhaltigkeit bei. Die Mehrkosten fallen dementsprechend kaum bei den älteren Generationen an. Der Entwurf des Ständerats würde die Jungen langfristig allerdings noch stärker belasten. Die Finanzierungslücke würde nur auf 111,2 % des BIP verringert. Die pauschale Rentenerhöhung um monatlich 70 Franken würde die AHV langfristig um zusätzliche 24,8 BIP-Prozentpunkte strapazieren. Wie gross die intergenerationelle Umverteilung ist, zeigt auch folgende Zahl: Um die Finanzierungslücke der AHV vollständig mittels Leistungskürzungen zu schliessen, müssten dauerhaft alle AHV-Renten pauschal um fast 23 % gesenkt werden.
Politik in der Zeitinkonsistenz-Falle
Die demografischen Herausforderungen sind ökonomisch durchaus zu meistern. Das Problem einer nachhaltigen und generationengerechten Finanzierung ist vielmehr ein Politisches. Insbesondere das Problem der Zeitinkonsistenz spielt eine Rolle. Das oft gehörte Versprechen, langfristig für ausgeglichene Finanzen zu sorgen, ist bei einer den kurzfristigen und jährlich wiederkehrenden politischen Einflüssen ausgesetzten Finanzpolitik nicht glaubwürdig. Die unmittelbaren Anreize der am Budgetprozess Beteiligten, vom Ziel eines ausgeglichenen Haushalts zugunsten ihrer eigenen Klientel und auf Kosten einer nachhaltigen Finanzpolitik abzuweichen, sind zu gross. Besonders stark akzentuiert sich das Problem in der generationenübergreifenden Rentenpolitik. Kaum ein Stimmbürger oder Politiker wird bei Betrachtung der Zahlen bestreiten, dass die langfristige finanzielle Sicherung der AHV auf wackligen Beinen steht und angepackt werden muss. Und die meisten würden wohl – zumindest hinter vorgehaltener Hand – zustimmen, dass das bestehende Rentensystem die Generationengerechtigkeit verletzt. Trotzdem hofft die Mehrheit, dass sich die nötigen Massnahmen mehr oder weniger beliebig in die Zukunft aufschieben lassen. Weil die zukünftigen Wähler noch nicht geboren sind, ist es bereits heute kaum möglich, eine ausgewogene und nachhaltige Finanzierungslösung zu finden. Und sollte man sich dennoch einmal zu entsprechenden Versprechen durchringen können, ist das längst keine Garantie. Spätestens das nächste Parlament hat bereits wieder Anreize, sich vermehrt um die Interessen der Älteren zu kümmern. Die Politik ist sozusagen eine Gefangene der Zeitinkonsistenz.
Eine Schuldenbremse für die AHV
Was können wir nun aus dieser Problematik ableiten? Wir brauchen eine Lösung, die die Politik an zeitkonsistentes Verhalten bindet. Eine Lösung, die zu einer nachhaltigen und generationengerechten AHV-Finanzierung verpflichtet. Eine Lösung, die zudem den wiederkehrenden politischen Abnützungskrieg um einzelne Reformmassnahmen beendet. Wir brauchen eine Schuldenbremse für die AHV. Nur ein institutioneller Mechanismus kann der besprochenen Problematik effektiv entgegenwirken.
Unser Vorschlag ist ein Schutzmechanismus für den AHV-Fondsbestand und sieht vor, dass allfällige Korrekturen opfersymmetrisch gleichmässig bei den Einnahmen und Ausgaben ansetzen. Eine solche Regelbindung trägt der langfristigen Bevölkerungsentwicklung Rechnung ohne Rentenalter und Abgaben auf Vorrat zu erhöhen. Dies sollte auch die politische Akzeptanz steigern. Das wiederkehrende politische Gezerre um Rentenreformen schwächt zudem die Glaubwürdigkeit eines Sozialversicherungssystems. Auch hier würde die Schuldenbremse Abhilfe schaffen. Im Gegensatz zu Ad-hoc-Massnahmen erlaubt sie ein rechtzeitiges, klar definiertes und transparentes Eingreifen. Eine umsichtige Ausgestaltung der Schuldenbremse macht es zudem möglich, auch die zukünftigen Generationen immer im Auge zu behalten. Die Politik könnte sich so am antiken Helden Odysseus orientieren, der sich an den Mast seines Schiffes binden liess, um den verführerischen aber letztendlich tödlichen Gesängen der Sirenen zu widerstehen. Langfristige Nachhaltigkeit in der Altersvorsorge lässt sich nur dann erreichen, wenn auf kurzfristige Handlungsmöglichkeiten und Opportunismus verzichtet wird.
70 ist das neue 60
Erlauben Sie mir abschliessend noch einige Worte zur Diskussion ums Rentenalter. Eine schlagartige Erhöhung auf 67 Jahre ist momentan nicht durchsetzbar, das ist klar. Wir werden aber nicht darum herum kommen, mittelfristig eine ehrliche Rentenalter-Diskussion zu führen. Wer dieser Debatte mit reflexartigem Verweis auf das Stimmvolk aus dem Weg geht, handelt verantwortungslos und sucht den Weg des geringsten Widerstandes. Das Rentenalter 65 muss den Status einer heiligen Kuh verlieren – je früher desto besser. Die ökonomischen Gesetzmässigkeiten lassen sich nicht ewig negieren. Gerade deshalb könnte die vorhin skizzierte Schuldenbremse einen gangbaren Weg aufzeigen. Diese ist alles andere als ein „Big Bang“. Das Rentenalter würde in kleinen Schritten (in Monatsraten) erhöht. Es ist klar geregelt und transparent, welche Massnahmen und Schritte wann anstehen. Das Rentenalter wird damit nicht einfach auf Vorrat erhöht. Diese Ausgestaltung ist für die Glaubwürdigkeit der Rentenpolitik und die Vertrauensbildung im Volk absolut zentral.
Wir sollten die Rentenalter-Diskussion endlich enttabuisieren. Wir müssen begreifen und letztlich verinnerlichen, dass das Älterwerden insbesondere auch eine Chance darstellt. Wir leben nicht nur länger, wir sind auch länger gesund und arbeitsfähig. Aktuelle Gesundheitszahlen aus Deutschland zeigen, dass zwei Drittel der Menschen bis zum 70. Lebensjahr arbeiten könnten, sofern sie denn wollten.[6] Das heisst natürlich auch unter ökonomischen Gesichtspunkten nicht, dass jeder, der bis 70 arbeiten könnte, auch bis 70 arbeiten sollte. Trotzdem gilt: 70 ist das neue 60. Es ist an der Zeit, unseren Mindset zu verändern. So etwas geschieht natürlich nicht von heute auf morgen. Aber es ist möglich, sofern man denn will. Älterwerden ist eine Chance. Für die Menschen, für die Wirtschaft. Länger arbeiten hat zudem positive Auswirkungen auf die Gesundheit und die soziale Integration. Wir wissen, dass der Arbeitsmarkt ein schrittweise höheres Rentenalter durchaus absorbieren kann.[7] Dafür gibt es wissenschaftlich gesicherte Erkenntnisse. Entsprechend positive Erfahrungen hat die Schweiz unter anderem auch mit der Erhöhung des Rentenalters bei den Frauen gemacht. Schon bald dürfte uns aber sowieso das umgekehrte Problem beschäftigen. Die Bevölkerungsentwicklung sowie die mögliche Kontingentierung der Zuwanderung dürften den Arbeitsmarkt ab 2020 zunehmend austrocknen. Spätestens dann dürften uns die ökonomischen Wirklichkeiten doppelt eingeholt haben.
—
[1] Vortrag auf dem Arbeitgebertrag 2016. Ich danke Patrick Leisibach für die umfassende Unterstützung bei der Erstellung des Referats.
[2] Sommer, Jürg H. (1978): Das Ringen um soziale Sicherheit in der Schweiz, Diessenhofen: Rüegger.
[3] Longchamp, Claude (2014): Der Einfluss der Alterung auf die politische Landschaft, Vortragsunterlagen SeneForum, Zürich.
[4] Ritschard, Willi (1980): Flickwerk in der Referendumsfalle: eine Rede vor den schweizer Bankiers, in: Profil: sozialdemokratische Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur, Heft 12, 59. Jg.
[5] Moog, Stefan et. al. (2015): Nachhaltigkeit und Generationengerechtigkeit der Reform Altersvorsorge 2020 – Erste Schritte auf einem langen Weg, Studie des Forschungszentrums Generationenverträge der Universität Freiburg im Breisgau und der UBS AG, Zürich.
[6] Jürges, Hendrik, Lars Thiel, und Axel Börsch-Supan (2016): „Healthy, Happy, and Idle: Estimating the Health Capacity to Work at Older Ages in Germany“, in: Social Security Programs and Retirement Around the World: The Capacity to Work at Older Ages. University of Chicago Press.
[7] Vgl. u.a. Riphahn, Regina T. und George Sheldon (2006): Arbeit in der alternden Gesellschaft: Der Arbeitsmarkt für ältere Menschen in der Schweiz, Zürich.
- Freiheit, Ordnung und Macht - 25. November 2023
- 38 Mrd. Franken Subventionen
Privilegien für die wenigen, finanziert von den vielen - 10. August 2023 - Staat verdient mehr als privatDie Lohnprämie beim Bund beträgt 12% - 6. Juni 2023