Gegenrede
Die Idiotien des Norbert Blüm

In der Süddeutschen Zeitung von Dienstag, den 9. August, 2016 ließ man gleich auf Seite 2 Norbert Blüm mit seinen Idiotien zu den Idiotien des Nationalismus zu Wort kommen. Blüm klagt, dass es „zu den Paradoxien der Zeitgeschichte“ gehöre, „dass ausgerechnet Staaten wie Polen und Ungarn am lautesten die Aussperrung der Flüchtlinge verlangen“, obwohl sie „doch selbst noch vor ein paar Jahren erfahren“ hätten, „was es bedeutet, von Europa ausgesperrt zu sein“.

Wer hat hier wen ausgesperrt? Es waren keineswegs die Westeuropäer, die Polen und Ungarn ausgesperrt haben. Es waren die eigenen Regierungen, die ebenso wie die regierenden Strolche in der DDR ihre Bürger einsperrten. Aussperren musste der Westen niemanden.

So vielversprechend, wie der Beitrag begann, geht er weiter. Wir lernen im nächsten Absatz: „Der Nationalismus ist eine Festung, die nur eine Zugbrücke besitzt. Dahinter sind alle Insassen geschützt und gefangen.“ Die Wagenburgmentalität vieler Nationalisten ist in der Tat zu beklagen, weil Abschottung weder im Interesse der eigenen noch anderer Nationalstaaten ist. Auch ist — worauf der Autor blumig hinweist — zuzugestehen, dass in Europa Kriege furchtbares Leid angerichtet haben.

Auf der anderen Seite fragt man sich unwillkürlich, ob etwa die Engländer ohne den britischen Nationalismus den Hunnen — wie sie die gegen sie kriegsführenden Deutschen nannten — hätten widerstehen können. Wer in einer Welt konkurrierender Mächte, die sich des Nationalismus als Mittel der Machtsteigerung bedienen, bestehen will, muss dazu ebenfalls Macht besitzen. Der freiheitlich-demokratische Rechtsstaat mit seiner Grundordnung fällt uns nicht allein deshalb in den Schoß, weil wir glauben, die westlichen Weisheiten des interpersonalen Respektes und der Toleranz mit dem Löffel gefressen zu haben. Die grundlegenden Gemeinschaftsgüter der Rechtssicherheit und Freiheit müssen in Einheiten geschaffen werden, die sowohl intern stabil als auch nach außen gegen feindliche Übernahmen zu verteidigen sind.

Nationalstaaten sind womöglich die für den Zweck best-geeigneten derartigen Einheiten. Denn die Produktion von bestandsmächtiger Rechtsstaatlichkeit scheint gegenwärtig nur auf der Basis nationalstaatlicher Organisationsformen zu gelingen. Übergeordnete Formen etwa föderaler Organisation sind letztlich auf lokale und nationale Teileinheiten als Machtbasis angewiesen. Dass die europäische Union rechtsstaatliche Strukturen besitzt, liegt primär an der Rechtsstaatlichkeit ihrer Nationalstaaten und nicht an der, der Union. Selbst die USA, die als Staatenbund gestartet waren, mussten sehr bald mit einer zweiten Verfassung in Richtung eines Bundesstaates „nachbessern“, um nicht in separate Staaten zu zerfallen. Nationalismus und Verfassungspatriotismus haben sich im Anschluss entwickelt und der Machtentfaltung der USA zum Vorteil des gesamten freien Westens gedient.

Norbert Blüm erweckt den Eindruck, als wenn Machtstreben in sich verwerflich wäre. „Nationalismus versteht etwas von Macht, Glanz und Gloria, weniger von Menschlichkeit. Macht ist die Triebfeder jedweder nationalistischer Politik.“ Was aber, wenn es ohne nationalistische Politik keine hinreichende Macht zur Durchsetzung der Menschlichkeit gibt? Kommt nicht alles darauf an, wofür Macht eingesetzt wird? Jedenfalls wünsche ich mir, dass die Macht eher bei den Rechtsstaaten dieser Erde liegt, als bei den anderen. Wenn dazu ein gewisses Maß an Nationalismus und Parteilichkeit für die eigenen Institutionen auch in den Rechtsstaaten erforderlich ist, dann ist es keineswegs eine Idiotie, sich dieses Mittels zu bedienen. Es ist möglich, dass wir traditionelle national-staatliche Organisationsformen mit einem gewissen Maß an bindendem Nationalismus benötigen, um international mit unseren Rechtsstaaten gegen so zweifelhafte Regime wie wir sie in China, Russland oder der Türkei antreffen, bestehen zu können.

Norbert dem blumigen ist trotzdem so ziemlich jedes Mittel recht, gegen Nationalstaaten zu polemisieren. Sie seien „das Ergebnis von Kriegen, Intrigen, Heiraten, Propaganda, Erpressungen Lug und Trug.“ Dem lässt Herr Blüm dann die Einsicht folgen: „Die längste Zeit seiner Geschichte kam Europa ohne Nationalstaaten aus. Es waren darunter große Kulturepochen.“ Leider mussten diese Epochen auch im Wesentlichen ohne die Errungenschaften freiheitlicher Rechtsstaatlichkeit auskommen. Es ist kaum ein Zufall, dass sowohl Athen als auch Rom von einem Stadt-Patriotismus geprägten wurden, der eher einem partikularen aufgeklärten Nationalismus glich als dem von Blüm offensichtlich favorisierten System freischwebender Rechte, die keiner Durchsetzung auf der Erde bedürfen. Blüm lässt dem das im Feuilleton übliche geisterwissenschaftliche Gerede ohne argumentative Substanz folgen. Da wird heftig schwadroniert von Beethoven, Friedrich dem Großen, vom Parlieren auf Französisch etc. um die große Schlusspirouette einzuleiten: „Die Lehre aus der Vergangenheit hieß: Nie wieder! Die europäische Einigung ist der Versuch aus Fehlern zu lernen.“

Selbstverständlich wird jedermann dafür eintreten, Verteidigungsbündnisse und innereuropäische vertragliche Bindungen zu gründen, die zukünftige Kriege erschweren, wenn nicht unmöglich machen. Natürlich haben die Europäer teilweise aus ihren Fehlern gelernt, aber auch die Notwendigkeit verstanden, dass sie ihre Insel der Seligen nur werden intakt erhalten können, wenn sie ihre Unabhängigkeit und Freiheit zu verteidigen vermögen. Dazu wären die alten Nationalstaaten auf sich allein gestellt vermutlich auch nicht mehr in der Lage. Wenn etwas diese Situation gefährden kann, dann gerade das leichtfertige Hantieren mit Rechtsansprüchen, die Bürger nationaler Staaten nicht mittragen.

Wenn wir die reale Rechtsstaatlichkeit erhalten wollen, dann müssen wir dafür sorgen, dass die Wähler, die diese Rechtsstaatlichkeit tragen sollen, einen Grund sehen, für diese Partei zu ergreifen. Es liegt im Wesen der menschlichen Natur, dass Menschen eher für das Partei ergreifen, was sie für ihre eigene Sache halten. Mag Nationalismus selbst auch keinen eigenen Wert besitzen, so könnte er doch als ein Hilfsmittel zur Beförderung anderer Werte in einer Welt konkurrierender Nationalstaaten erforderlich sein. Es gibt keine Garantie, dass Nationalismus sich mit guten Zielen verbindet; aber es ist durchaus möglich, dass wir große staatliche Gesellschaften nur mit einem aufgeklärten Nationalismus als freiheitliche Rechtsstaaten erhalten können.

4 Antworten auf „Gegenrede
Die Idiotien des Norbert Blüm“

  1. Blüm war (un)verantwortlicher Entscheider.

    Dazu Ernst Jünger im „Waldgang“:
    Das Ärgerliche an diesem Schauspiel ist die Verbindung
    von so geringer Höhe mit ungeheurer funktionaler Macht.
    Das sind die Männer, vor denen Millionen zittern, von deren
    Entschlüssen Millionen abhängen.

  2. Das Problem sind letztlich nicht die Sprechblasen von Herrn Blüm, sondern deren Abdruck durch eine Zeitung, die „Qualität“ in verschiedener Hinsicht auf dem Samtkissen vor sich herträgt. Wer einen solchen Anspruch erhebt, darf sich nicht mit zeitgeistafinem Pseudointellekt gemein machen.Man mag als derartiges Medium am aktiven Minister Blüm nicht herumgekommen sein – am ehemaligen gibt es nicht, worum man kommen müsste!

  3. Wer das Bedürfnis verspürt, einen weitgehend gescheiterten Politiker wie Norbert Blüm hassen zu wollen, dem sei dieses ganz spezielle emotionale Vergnügen gegönnt.

    Die Frage ist aber, ob die fragwürdigen sozialpsychologischen Mechanismen, die hinter dem Phänomen „Nationalismus“ stehen, tatsächlich zum „Hilfsmittel zur Beförderung“ höherer Werte, gar der Ideale des freiheitlich verfassten Rechtsstaates, taugen.

    Wenn man Nationalismus als Stolz auf eine wie auch immer geartete Überlegenheit der eigenen Ethnie definiert, dann ist er etwas ganz anderes als der Stolz, in einem freiheitlich verfassten Rechtsstaat zu leben, der mit seinen Institutionen das Erbe der Aufklärung verkörpert.

    Wenn man sich aber zu Letzterem bekennt, dann fällt es schwer, dabei nationalstaatliche Grenzen zu ziehen.

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