Geld weckt Begehrlichkeiten. Jüngstes Beispiel sind die Vorschläge der Kommission zur Umgestaltung des sogenannten „Europäischen Stabilitätsmechanismus“. (In Wirklichkeit ist der ESM ein Destabilisierungsmechanismus, denn die Aussicht auf seine subventionierten Kredite schwächt den Anreiz, Überschuldungskrisen zu vermeiden.) 500 Mrd. Euro sind ein stattliches Kapital. Damit kann man sich viele Wünsche erfüllen. Aber der ESM darf seine verbilligten Kredite nur vergeben, „um die Stabilität des Eurogebiets insgesamt zu wahren“ – und auch das nur unter „strengen Auflagen“ (Art. 136 Z. 3 AEUV). Eine neue Finanzkrise ist für die Eurozone insgesamt nicht in Sicht. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass sich Macron, Juncker und die Schäuble-CDU immer neue Vorschläge ausdenken, wie das Kapital des ESM auf andere Weise eingesetzt werden könnte. Mit der Annahme, dass die Mittel des ESM für diese anderen Zwecke zur Verfügung stehen, wird übrigens stillschweigend eingestanden, dass er für seinen ursprünglichen Zweck nicht als Dauerinstitution gebraucht worden wäre.
Der ESM ist nicht nur reich, sondern auch gefährdet. Er könnte leicht wieder abgeschafft werden. Er beruht nicht auf EU-Recht, sondern auf einem eigenständigen völkerrechtlichen Vertrag, der von jedem einzelnen Unterzeichnerstaat mit Hinweis auf die grundlegende Änderung der Umstände gekündigt werden kann. Die FDP zum Beispiel hat in ihrem Wahlprogramm die Forderung aufgestellt, dass „die Ausleihekapazität des ESM kontinuierlich wieder zurückgefahren wird und dieser langfristig ausläuft“. Für die Europapolitiker geht es daher nicht nur darum, die Mittel des ESM stärker auszuschöpfen, sondern zunächst einmal zu verhindern, dass er wieder abgeschafft wird.
Um das Überleben des ESM zu sichern, verfolgen seine Anhänger zwei verschiedene Strategien. Die erste besteht darin, den ESM in EU-Recht zu überführen. Wenn das durchkäme, wäre es nicht mehr möglich, den ESM zu verlassen, ohne aus der EU auszutreten. Das ist die Strategie von Juncker und Macron. Dagegen ist die Schäuble-CDU. Schäuble verfolgt die zweite Strategie. Auch er möchte den ESM – sein Werk – vor der Abschaffung bewahren. Aber wenn der ESM in EU-Recht überführt würde, könnte Deutschland überstimmt werden. Denn im EU-Recht gilt die Regel, dass mit (qualifizierter) Mehrheit entschieden wird. Bleibt es dagegen beim ESM-Vertrag, so besitzt der deutsche Finanzminister im Gouverneursrat ein Vetorecht. Um das Überleben des ESM zu sichern, will ihm die Schäuble-CDU wichtige zusätzliche Kompetenzen übertragen, die ihn für alle Zeiten unentbehrlich machen. Konkret geht es um zwei Zuständigkeiten:
- Der ESM soll anstelle der sogenannten Troika aus Kommission, EZB und IWF darüber wachen, dass die Empfänger der ESM-Kredite ihre wirtschaftspolitischen Auflagen einhalten.
- Der ESM soll anstelle der Kommission dafür zuständig sein, die Haushaltspolitik aller Euro-Staaten zu überwachen.
Die Kommission will nicht Kompetenzen verlieren, sondern neue hinzugewinnen. Deshalb möchte sie ja den ESM in EU-Recht überführen. Auf diese Weise könnte sie sich vielfältige neue Mitwirkungsrechte verschaffen. Aber das ist keine Begründung, die bei den Mitgliedstaaten zieht. Um die anderen Mitgliedstaaten gegen Schäuble-Deutschland zu mobilisieren, muss die EU-Kommission für den ESM Verwendungszwecke vorschlagen, an denen Frankreich und seinen Bundesgenossen gelegen ist. Das hat sie am 6. Dezember getan. Sie hat sich vier solcher Verwendungszwecke ausgedacht:
- Der ESM soll Ländern, die wichtige Wirtschaftsreformen durchführen, subventionierte Kredite geben. Das ist für Macron und die Mittelmeerländer attraktiv. Auch Angela Merkel ist dafür. Der niederländische Ministerpräsident meint dagegen: „Wir in den Niederlanden haben ohne jede ausländische Hilfe zahlreiche Reformen ergriffen – und jetzt sollen wir denen, die Reformen unterlassen haben, dafür Geld geben?“
- Der ESM soll bei asymmetrischen makroökonomischen Schocks verbilligte Kredite zur Finanzierung von Investitionen vergeben. Für die Finanzierung von Investitionen gibt es aber bereits europäische Institutionen: die Europäische Investitionsbank und den sogenannten Juncker-Fonds. Außerdem betreffen asymmetrische makroökonomische Schocks per definitionem nicht die Stabilität im Euroraum insgesamt.
- Der ESM soll seine billigen Kredite auch an den Bankenabwicklungsfonds der Eurozone vergeben dürfen. Da freuen sich die Länder, die die marodesten Banken haben: Italien, Spanien und natürlich Griechenland und Zypern.
- Der ESM soll Ländern, die der Währungsunion beitreten wollen, subventionierte Kredite geben. Dabei handelt es sich zurzeit um Kroatien, Bulgarien und Rumänien. Die Kommission wirbt also auch in Osteuropa um Unterstützung.
Wie schneiden im Vergleich Schäubles Vorschläge ab? Wenn in Zukunft nicht mehr die Troika, sondern der ESM dafür zuständig wäre, die Einhaltung der wirtschaftspolitischen Auflagen zu überwachen, hätten die Schuldnerländer noch leichteres Spiel. Denn das ESM-Personal ist nicht daran interessiert, Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abzubrechen. Die ESM-Beamten wollen möglichst viele Kredite vergeben, denn über ihre Zinsmarge erzielen sie die Einkünfte, die sie zur Finanzierung ihrer Gehälter und sonstigen Ausgaben benötigen. Außerdem ist die Kreditvergabe ein Weg, Macht auszuüben und Prestige zu gewinnen. Dieses Anreizproblem ist aus der Geschichte des Internationalen Währungsfonds sattsam bekannt. Zwar hat der IWF zum Beispiel im Zeitraum 1991-2012 insgesamt 41 Kreditprogramme wegen Nichterfüllung der Auflagen abgebrochen, aber auf dreißig dieser Programme folgte innerhalb eines Jahres das nächste Programm (Urbaczka, Vaubel, Cato Journal 2013). Schäubles Vorschlag müsste daher bei den Schuldnerstaaten gut ankommen. Er ist nicht im Interesse Deutschlands.
Seinen zweiten Vorschlag hat Schäuble folgendermaßen begründet: „Der ESM würde die Haushaltsentwürfe nicht politisch, sondern streng nach den Regeln beurteilen“ (Stuttgarter Zeitung, 15.10.16). Das hören die deutschen Wähler gerne, aber es ist falsch. Der Gouverneursrat des ESM besteht aus den Finanzministern der Euro-Staaten – also den Politikern, die die Haushaltsdefizite höchstpersönlich zu verantworten haben. Sie haben kein Interesse daran gerügt zu werden oder gar Geldbußen zu zahlen. Ein Finanzminister hackt dem anderen kein Auge aus. Man würde die Böcke zu Gärtnern machen. Insofern hat auch dieser Vorschlag in den notorischen Defizitländern gute Chancen. Er wird auch von der FDP unterstützt, obwohl doch Kompetenzübertragungen, die auf Dauer angelegt sind, die gewünschte langfristige Abschaffung erheblich erschweren würden. Im deutschen Interesse sind diese Pläne nicht, und die Kommission bekämpft sie.
Aber es gibt auch Punkte, bei denen Kommission und Schäuble übereinstimmen. Um das Überleben des ESM zu sichern, wollen sie den ESM nicht nur – jeder auf seine Weise -umfunktionieren, sondern auch optisch aufwerten. Dazu gehört, dass der ESM einen neuen Namen erhält: „Europäischer Währungsfonds“. Außerdem soll der Vorsitzende des Gouverneursrats zugleich Chef der Eurogruppe sein. Als neuer Vorsitzender der Eurogruppe ist gerade der Portugiese Mario Centeno gewählt worden. Er ist Finanzminister seines Landes und Mitglied der sozialistischen Fraktion. Nach den Vorstellungen der Kommission soll der Chef der Euro-Gruppe zugleich Vize-Präsident der Kommission sein. Macron sieht in ihm den „Euro-Finanzminister“. Wer könnte sich dem entgegenstellen?
Hinweis: Der Verfasser hat zu diesem Thema im November das folgende Buch veröffentlicht: „Das Ende der Euromantik – Neustart jetzt“, Springer Taschenbuch (14,99 Euro) und e-book.
Die akribisch dargestellten Wirkungsmechanismen zeigen eindrucksvoll, wie erfinderisch Politiker darin sind, Ziele, die von einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt werden, auf verschlungenen Umwegen zu verfolgen. Man kann das Ganze aber auch als Komplementärstrategie sehen: Neben der lauten Proklamation der Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 durch Herrn Schulz betreibt man parallel die stille Umfunktionierung von bis zu einer halben Billion Euro, damit die Euro-Potentaten nicht offen beim Bürger um neue finanzielle Mittel werben müssen.
Von den vier Verwendungszwecken, die die Kommission genannt hat, sollen nur der zweite und dritte ausdrücklich aus ESM-Mitteln finanziert werden. In der Präambel des Kommissionsvorschlags für den Europäischen Währungsfonds (Z. 71) heißt es jedoch ausdrücklich: „In the future, the EMF could also be conferred new financial instruments“, und in ihren Erläuterungen fügt die Kommission hinzu: „Over time, such instruments could supplement or support other EU financial instruments and programmes“.