Der SPD-Chef fordert die Vereinigten Staaten von Europa bis 2025 – und bringt damit viele in Deutschland und der gesamten EU gegen sich auf. Martin Schulz weiß das genau. Was will er also erreichen?
Der SPD-Vorsitzende Martin Schulz hat einen bemerkenswerten Vorschlag unterbreitet. Die Europäische Union soll zu einem Bundesstaat weiterentwickelt werden, und die Länder, die der dafür notwendigen Änderung der europäischen Verträge nicht zustimmen, müssten die EU verlassen.
Allerdings kann man nicht davon ausgehen, dass dieser Vorschlag jemals umgesetzt wird – so haben Politiker von CDU und CSU, also der möglichen zukünftigen Koalitionspartner des SPD, den Vorschlag in unterschiedlicher Schärfe zurückgewiesen, die Rede war auch vom Ende der EU. Es kann zudem als sicher gelten, dass es nur eine geringe Zustimmung zu diesen Plänen in den meisten Mitgliedsländern geben wird und dass die EU, sollte der Vorschlag Realität werden, dann deutlich kleiner sein wird. Eine spannende Frage ist, ob Deutschland dann noch EU-Mitglied wäre.
Denn die gegenwärtigen Probleme der EU werden mit diesem Vorschlag nicht geheilt. In der Tat war es nicht das Gefühl der Menschen, es gebe ein Zuwenig an europäischer Integration, das den Brexit oder die erstaunlich hohe Zustimmung für Populisten wie Frau Le Pen oder die sogenannte AfD in Wahlen verursacht hat. Viele Menschen, gerade in den zuletzt beigetretenen mittel- und osteuropäischen Ländern, aber auch in Großbritannien sind überaus empfänglich für Thesen, die die EU bis in die Nähe der Sowjetunion gerückt haben.
Dabei ist es einerlei, wie realistisch solche Thesen sind und wie notwendig eine Wiederbelebung der EU scheint: Die Vorstellung, die Rolle der Nationalstaaten zu minimieren und einen europäischen Superstaat zu schaffen, dürfte viele Bürger in Europa erschrecken. Richtig ist außerdem, dass die Kohärenz der Vereinigten Staaten von Europa niedrig wäre. Es gibt sehr große Unterschiede hinsichtlich politischer, darunter auch wirtschaftspolitischer Philosophien zwischen den Mitgliedsländern. Man denke nur an Frankreich und Deutschland und die jeweiligen Unterschiede mit Blick auf die Rolle des Staates und diesen begrenzender Regeln, mithin einer Ordnungspolitik.
Vor diesem Hintergrund ist der Vorschlag, einen europäischen Bundesstaat zu schaffen, völlig unrealistisch. Er ist vermutlich auch schädlich in dem Sinne, dass er die europafeindlichen Ränder des politischen Spektrums in kommenden Wahlen stärken würde.
Nun kann man sich vieles vorstellen, aber dass Martin Schulz so naiv ist, möchte man nichtglauben. Dafür spräche höchstens die offenkundige Distanz, die europäische Funktionäre zwischen sich und den Menschen in Europa aufgebaut haben. Oft wirkt es so, als wüssten die europäischen Parlamentarier und die Beamten der Europäischen Kommission überhaupt nicht mehr, was die Leute bewegt. Im Juni 2016 reagierte Schulz in entsprechend weltfremder Weise auf den Brexit-Entscheid der Briten.
Das Gefühl der Menschen verändern
Als Kanzlerkandidat der SPD hatte er aber seit Januar bis heute die Gelegenheit, die Menschen auf der Straße zu treffen, mit ihnen zu diskutieren und dabei zu lernen. Dabei sollte ihm nicht entgangen sein, dass es in vielen Fragen der europäischen Integration einschließlich des Umgangs mit der Flüchtlingskrise, Unzufriedenheit gibt. Spätestens das Abschneiden der AfD bei der Bundestagswahl musste ihm die Augen öffnen.
Im Moment geht es also eher darum, dass die Menschen wieder das Gefühl bekommen, ihre nationale Regierung hielte das Heft des politischen Handels in der Hand. Dabei spielt Europa nur eine untergeordnete Rolle, und wenn, dann wohl eher wegen der nach wie vor ungelösten Probleme der Eurozone wie zum Beispiel die Target-2-Salden. Wahrhaft relevante Themen sind vielmehr innere Sicherheit, Migration, Bildung und Infrastruktur.
Also darf man davon ausgehen, dass der SPD-Chef diesen Vorschlag nicht unbedacht oder gar naiv unterbreitet hat. Vermutlich dient er einerseits als Faustpfand bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen. In den Verhandlungen könnte die SPD dann davon abrücken und dafür andere Positionen durchbringen. Dies scheinen aber nicht die oben genannten Themen, sondern eher Randthemen wie zum Beispiel die Bürgerversicherung oder noch weitere Rentengeschenke zu sein.
Zum einen klingt ein solches potentielles Faustpfand eher nach Erpressung als nach politischer Klugheit. Zum anderen wirkt es besonders beunruhigend, wenn ein ausgewiesener Europapolitiker die Integrationsfrage nutzen will, um sich politische Vorteile in Koalitionsverhandlungen zu verschaffen. Denn Schulz sollte die Sorgen der Bürger vor einem europäischen Superstaat kennen. Insofern dürfte sein Vorstoß der EU eher schaden als helfen. Die europäische Integration ist aber zu wichtig, als dass man mit ihr auf derart plumpe Weise spielen sollte.
Wenn Martin Schulz ein überzeugter und zielführend denkender Europäer ist, sollte er diese Art von Vorschlägen in Zukunft unterlassen und darlegen, welche Vorstellungen seine Partei in den genannten Themenfeldern hat – die Vorstellung, Europa weiter zu zentralisieren und das Thema Migration totzuschweigen, wird sicherlich nicht dazu beitragen, die SPD wieder zu einer Volkspartei zu machen. Und für die Menschen in Deutschland wäre es auch kein Gewinn.
Hinweis: Der Beitrag erschien am 15. Dezember 2017 in der Rubrik „Freytags-Frage“ in der Wirtschaftswoche.
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Nach dem eher plumpen Beitrag von Oswald Metzger zum Thema Gerechtigkeit, folgt hier jetzt ein weiterer reiner Meinungsbeitrag.
Schade, dass dieser Blog zwischen den vielen sehr informativen Beiträgen immer wieder solche undifferenzierten Ansichten zulässt.
Der Gastbeitrag von Herrn Freytag könnte auch von Herr Söder gewesen sein. Auch der betont – wohlgemerkt aus politischem Interesse – wiederholt, dass Themen wie die Bürgerversicherung doch eher zweitrangig seien und Themen wie Migration und Integration die Menschen wirklich interessieren würden.
Und auch Herr Freytag spielt mit dem Eindruck, die EU-„Bürokraten“ hätten sich von den wahren Sorgen der Menschen entfernt.
Diese Aussagen aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht auch völlig falsch. Bevor man über die wahren Sorgen und Anliegen der Bürger schreibt, empfiehlt sich ein Blick in die Medienkultur- und Kommunikationswissenschaften (oder einfach ein Blick auf Condorcet oder die Public-Choice-Theorien).
Bitte, liebe Blog-Betreiber – und hier meldet sich ein Student, der sich in Freiburg viel mit Ordnungspolitik und -ökonomik beschäftigt – lasst solche Beiträge nicht mehr zu. Ansonsten muss man hier von einem Meinungsblog und keinem „wissenschaftlichen“ Blog ausgehen und dies dann auch transparent machen.