Vieles wurde zum Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD bereits gesagt und geschrieben. Viele Kriterien können herangezogen werden, um ihn zu analysieren und um Vorstellungen über Inhalt und Qualität der Politik in der nächsten Legislaturperiode zu gewinnen. Wie für Koalitionsverträge nicht untypisch, fehlen ihm Stringenz und klare Konturen und fällt das Nebeneinander von sehr Konkretem und sehr Vagem ins Auge. Doch hat er eine gute Überschrift, die eine Vision in drei Teilen zum Ausdruck bringt: „Ein neuer Aufbruch für Europa. Eine neue Dynamik für Deutschland. Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“. Diese legt es nahe, danach zu fragen, welche Vorstellungen eine zukünftige Koalition für die Genossenschaften hat und wie sie in ihre Politik eingebunden werden sollen. Denn Genossenschaften sind von diesen drei Aspekten – Aufbruch für Europa, Dynamik für Deutschland sowie Zusammenhalt in Deutschland – sowohl unmittelbar betroffen als sie auch zum Erreichen der Vision beitragen können.
Positive Grundhaltung
Grundsätzlich zeigt sich bei den prospektiven Koalitionspartnern eine positive Grundhaltung zu Genossenschaften, sie sollen sogar gestärkt werden. Sie werden an sechs Stellen des Koalitionsvertrages und in unterschiedlichen Kontexten genannt. Ausführungen zu Genossenschaften finden sich an vier Stellen im Kapitel VI. unter der Überschrift Erfolgreiche Wirtschaft für den Wohlstand von morgen. In Kapitel IX. Lebenswerte Städte, attraktive Regionen und bezahlbares Wohnen werden sie ebenso thematisiert. Schließlich in Kapitel XII. Deutschlands Verantwortung für Frieden, Freiheit und Sicherheit in der Welt. Welche Ansatzpunkte für genossenschaftliche Aktivitäten werden im Wirtschafts-Kapitel gefunden? Genossenschaften sollen nicht nur generell gestärkt werden, sondern es werden auch konkrete Maßnahmen für Genossenschaftsbanken, Wohnungsgenossenschaften und Energiegenossenschaften angekündigt.
Maßnahmen zur Unterstützung der Mitgliederbeteiligung
Ein eigenwillig komponierter Absatz mit der Überschrift „Genossenschaften, Kammern und Tourismus“ enthält das allgemeine Bekenntnis zu Genossenschaften, wobei zwei Ansatzpunkte formuliert werden: „Wir wollen Genossenschaften als nachhaltige und krisenfeste Unternehmensform in den unterschiedlichsten Wirtschaftsbereichen stärken. Dazu benötigen wir Maßnahmen, die eine starke Mitgliederbeteiligung unterstützen und kleinere Genossenschaften Orientierungshilfen bieten. Für die Vereinbarkeit des Kartellrechts mit dem Genossenschaftswesen, das wir stärken wollen, werden wir die entsprechenden Bedingungen schaffen und dafür Leitlinien für die Vereinbarkeit mit dem deutschen Kartellrecht entwickeln.“ Der erste Ansatzpunkt zwecks Stärkung von Genossenschaften ist sehr allgemein und lässt nach geeigneten Maßnahmen fragen, die die Politik bieten könnte. Eine starke Mitgliederbeteiligung ist auch heute möglich und stellt eine Besonderheit der genossenschaftlichen Governance dar. Sie wird in der Praxis in unterschiedlicher Intensität genutzt, die den Notwendigkeiten in der einzelnen Genossenschaft entspricht. Welche Orientierungshilfen sollen kleineren Genossenschaften geboten werden, die nicht heute bereits verfügbar wären und von den Genossenschaftsverbänden differenziert angeboten werden? Ein echter Handlungsbedarf ist hier nicht zu erkennen.
Klärung des Verhältnisses zwischen Genossenschaften und Kartellrecht
Sehr zu begrüßen, wichtig und überfällig ist hingegen die angekündigte Vereinbarkeit von Kartellrecht und Genossenschaften, wobei es wohl eher um die Konkretisierung dieser Beziehung gehen wird. Eine solche ist in zweifacher Hinsicht von großer Bedeutung. Erstens geht es bei allen Kooperationen – z.B. Genossenschaften – immer um die Gewinnung von zum Teil weitergegebenen Effizienzvorteilen, andererseits entsteht auch wirtschaftliche Macht. Dieser trade off ist damit verbunden, dass Genossenschaften, vor allem größere genossenschaftliche Gruppen, nicht selten in das Blickfeld der Kartellbehörden kommen. Hier klare Verhältnisse zu schaffen, kann nur begrüßt werden. Dies gilt auch für die Formulierung von Leitlinien, die für die genossenschaftlichen Unternehmen und Netzwerke Rechtssicherheit schaffen können. Dies ist auch deswegen wichtig, weil die Gründung von Kooperationen in unterschiedlichsten Ausgestaltungen zunimmt. Sowohl die präzise Klärung ihres kartellrechtlichen Status als auch die Anerkennung ihres Potenzials zur wirtschaftlichen Dynamik beizutragen und die Wettbewerbsfähigkeit kleinerer Unternehmen zu verbessern, stützt die vielfachen Bekenntnisse zum Mittelstand in diesem Koalitionsvertrag. Es bleibt zu hoffen, dass die Politik dabei erkennt, dass Genossenschaften subsidiäre Einrichtungen ihrer mittelständischen Mitglieder sind, die ohne ihre Genossenschaft meist nicht mehr existenzfähig wären, so dass es ohne sie zu weiteren Marktvermachtungen kommen würde.
Genossenschaftsbanken: Mittelstands- und Gründungsfinanzierung
Die erste Verortung von Genossenschaftsbanken erfolgt im Abschnitt über Gründungen und im Zusammenhang, dass die Gründungskultur in Deutschland gefördert werden soll, dass Strukturen für Gründungen geschaffen werden sollen und dass ein Wagniskapitalmarkt aufgebaut werden soll. In der Platzierung etwas unerwartet und in der Struktur eigenwillig (Volks- und Genossenschaftsbanken) werden die Genossenschaftsbanken dann unter den geeigneten Akteuren der Mittelstandsfinanzierung genannt, was nicht im Abschnitt über den Mittelstand erfolgt. „Die klassische Mittelstandsfinanzierung über Sparkassen, Volks- und Genossenschaftsbanken, Privatbanken, Förderbanken sowie Bürgschaftsbanken wollen wir sichern und stärken“ (Zeilen 2859-2861). Interessant wären die Vorstellungen wie das Sichern und Stärken erfolgen soll, soll es über eine durchaus plausible Absichtserklärung hinausgehen.
Genossenschaftsbanken: Risikoadäquate Bankenregulierung
Längst überfällig ist das explizite Bekenntnis zu einer risikoadäquaten Bankenregulierung, die den lokalen/regionalen Aktivitätsbereich und das Risikoprofil von Genossenschaftsbanken berücksichtigt. Diese Ankündigung erfolgt in den Zeilen 3186-3192 im Abschnitt über Finanzmarkt und Digitalisierung. In diesem findet sich auch explizit die Formulierung, dass Risiko und Haftung zusammen gehören, die von den Genossenschaftsbanken immer wieder argumentiert wurde. „Regional tätige Finanzinstitute wie Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Förderbanken sind wichtige Finanzpartner vieler Menschen und Unternehmen in unserem Land. Wir sehen sie als wichtige Säule für die Stabilität im Finanzsystem und kämpfen daher für ihren Erhalt. Wir werden bei der Regulierung danach unterscheiden, ob es sich um Sparkassen, Genossenschaftsbanken, Förderbanken bzw. kleine und mittlere Privatbanken mit risikoarmen Geschäftsmodellen handelt oder um systemrelevante Großbanken“. Der angekündigte Kampf muss freilich auch auf der EU-Ebene geführt werden und seine ersten Ergebnisse werden sich im Rahmen der finalen Vereinbarungen über das Europäische Einlagensicherungssystem herausstellen. Angekündigt wird eine harte Haltung (Zeilen 3182-3184): „Dort, wo es notwendig ist, werden wir auf eine Nachjustierung auch auf europäischer und internationaler Ebene hinwirken. Wir wollen dabei insbesondere kleine Institute entlasten, soweit von ihnen geringe Risiken für die Finanzstabilität ausgehen.“ In der Um- und Durchsetzung bleibt darauf zu hoffen.
Energie- und Wohnungsgenossenschaften: Bürgereinfluss und Mieterstrom
Im Abschnitt über Energie werden ein Bekenntnis zur dezentralen Energiegewinnung und –versorgung abgegeben und Maßnahmen recht detailliert angesprochen. Dabei fällt auf, dass die Energiegenossenschaften, die zu den wichtigsten Akteuren im Bereich der dezentralen Energie zählen, nicht explizit genannt werden, zumal der Erhalt der Akteursvielfalt explizit genannt wird. Auch in den Zeilen 3316-3323 sollten sich die Energiegenossenschaften angesprochen fühlen. „Wir werden … durch eine bundeseinheitliche Regelung beim weiteren Ausbau der Erneuerbaren Energien (EE) die Standortgemeinden stärker an der Wertschöpfung von EE Anlagen beteiligen und die Möglichkeiten einer Projektbeteiligung von Bürgerinnen und Bürgern verbessern, ohne dass dies insgesamt zu Kostensteigerungen beim EE-Ausbau führt. Wir werden die bestehende Mieterstromregelung optimieren, indem der Verlust der tradierten gewerbesteuerlichen Behandlung von Wohnungsbaugenossenschaften vermieden wird, um nachhaltige Mieterstrommodelle zu ermöglichen“. Zusätzlich wird hier mit dem Mieterstrom ein sehr zukunftsträchtiges Thema für die Wohnungsgenossenschaften angesprochen.
Wohnungsgenossenschaften mit Gemeinwohlorientierung?
Wohnungsgenossenschaften werden ein weiteres Mal angesprochen und zwar im Kapitel IX über Städte, Regionen und Wohnen, dort im ausführlichen Abschnitt über die Wohnraumoffensive. Es sei dahingestellt, ob man Genossenschaften korrekt einordnet, wenn sie hier für die Gemeinwohlorientierung vereinnahmt werden, die ihre private Governance und ihr Geschäftsmodell sowie die strategische Orientierung am MemberValue missachtet. „Wir wollen das Engagement von Genossenschaften, kommunalen und kirchlichen Wohnungsunternehmen, nicht gewinnorientierten Initiativen und Stiftungen für den Neubau und eine sozialverträgliche Sanierung im Sinne einer Gemeinwohlorientierung unterstützen. Wir wollen dazu gezielt langfristige Finanzierungen und Bürgschaften über 20 Jahre durch die KfW zur Verfügung stellen. Mit Beratung, weiteren innovativen Finanzierungsmodellen und einem Austausch guter Beispiele wollen wir auch Neugründungen in diesem Feld unterstützen.“ (Zeilen 5213-5219). Eine Wiedereinführung der Gemeinwohlorientierung für Genossenschaften wäre für Wohnungsgenossenschaften kaum angebracht. Sie bauen und erbringen Dienstleistungen bereits jetzt für ihre Mitglieder und damit Eigentümer. Selbstverständlich sind Wohnungsgenossenschaften auch von zahlreichen der geplanten Maßnahmen der fortzusetzenden Programme betroffen, z.B. das „altersgerechte Umbauen“ oder die „barrierearme Stadt“.
Genossenschaften als Selbsthilfe in der Entwicklungspolitik
Schließlich werden in Kapitel XII Genossenschaften im Abschnitt über Entwicklungspolitik für eine gerechte Globalisierung angesprochen: „Die Überwindung von Hunger und Armut in der Welt ist ein wesentliches Ziel unserer Entwicklungspolitik. Wir wollen die ländlichen Räume auch im Rahmen der Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“ stärken und stellen die Förderung von Kleinbäuerinnen und -bauern, lokale nachhaltige Lösungen und genossenschaftliche Ansätze in den Vordergrund. Die Förderung soll vorrangig der Lebensmittelproduktion für die lokalen und regionalen Märkte dienen.“ (Zeilen 7701-7706). Informationen über und Unterstützung von genossenschaftlichen Ansätzen in Entwicklungsländern sind explizit zu begrüßen. Allerdings sollte nicht vernachlässigt werden, dass es vor allem darum geht, in den einbezogenen Volkswirtschaften entsprechende Institutionen und Strukturen aufzubauen, die von der Bevölkerung dann in Eigeninitiative genutzt und nachhaltig weiterentwickelt werden können. Dieser Ansatz zur Selbsthilfe sollte gerade im Jahr 2018, in dem wir den 200. Geburtstag von Friedrich-Wilhelm Raiffeisen feiern, großflächig unterstützt werden.
Genossenschaftliche Zukunftsfelder vergessen
Zu bedauern bleibt, dass die Erklärungen der Koalitionäre zu Genossenschaften in den traditionellen genossenschaftlichen Aktivitätsfeldern verhaftet bleiben. Bei aller Wichtigkeit, die vor allem die Festlegungen zu einer differenzierten Bankenregulierung und die Klärung der kartellrechtlichen Aspekte betrifft, fällt auf, dass das große Potenzial, das Genossenschaften in Zeiten von gesellschaftlichem und wirtschaftlichem Wandel haben, nicht thematisiert werden. So hätten Genossenschaften auch im Zusammenhang mit den Ausführungen zu Bildung (Schul- und Schülergenossenschaften) und Forschung (Forscher-Genossenschaften), zur Aufwertung ländlicher Räume (Bürgergenossenschaften), als Organisatoren von Infrastrukturen (Sport- und Kultureinrichtungen) oder als Instrumente der Digitalisierung (Breitbandgenossenschaften, genossenschaftliche Daten-Clouds, genossenschaftliche Plattformen in der Sharing Economy) betrachtet werden können. Dieses zeigt deutlich auf, dass in der Politik die Einsatzmöglichkeiten der genossenschaftlichen Wirtschaftsform auch in dringenden wirtschaftspolitischen Handlungsfeldern augenscheinlich nicht hinreichend bekannt ist – eine bedauerliche Unzulänglichkeit. Wird die Verankerung von Genossenschaften im Koalitionsvertrag zusammenfassend beurteilt, zeigen sich neben Notwendigkeiten und Selbstverständlichkeiten, die zu begrüßen sind, eben auch Versäumnisse und Missverständnisse, die zu bedauern sind. Dies vor allem deswegen, weil diese eine starke Verhaftung im Vergangenen vermuten lassen.